04. April 2022
Amazon-Beschäftigte in einem Logistikzentrum in Staten Island haben überraschend die Abstimmung über die Gründung einer Gewerkschaft gewonnen. Für die US-amerikanischen Beschäftigten von einem der mächtigsten Konzerne der Welt beginnt damit eine neue Ära.
Ohne ihn wäre es nicht dazu gekommen: Chris Smalls, Gründer der ALU, New York, 25. Oktober 2021.
Dieser Überraschungserfolg sucht in der Geschichte der US-Gewerkschaftsbewegung seit der Regierungszeit von Ronald Reagan seinesgleichen. Es ist das erste Mal, dass sich an einem Amazon-Standort in den USA überhaupt eine Gewerkschaft etabliert. Das National Labor Relations Board (NLRB), die nationale Tarifaufsichtsbehörde, führte die Urabstimmung am Standort JFK8, einem Logistikzentrum in Staten Island, durch: Von 8.325 Wahlberechtigten stimmten 2.654 für die Gewerkschaft Amazon Labor Union (ALU) und 2.131 dagegen. Obwohl sieben Stimmen angefochten und elf Stimmen für ungültig erklärt wurden, ist der Vorsprung groß genug, um das Gesamtergebnis nicht zu beeinflussen.
Die Auszählung fand zufälligerweise am selben Tag wie die Wiederholung der Abstimmung in Bessemer, Alabama statt, wo die Gewerkschaft Retail, Wholesale and Department Store Union (RWDSU) ihr Ergebnis deutlich verbessern konnte. Im Moment steht das Ergebnis dort bei 875 Stimmen für die Gewerkschaft und 993 Stimmen dagegen. Angesichts der 416 angefochtenen Stimmzettel ist es jedoch noch zu früh, um ein Ergebnis vorauszusagen, da dieses davon abhängen wird, wie das NLRB diese Stimmen in den nächsten Wochen auswerten wird.
»Jede Stimme muss gezählt werden«, so der Vorsitzende der RWDSU, Stuart Appelbaum. »Die Beschäftigten von Amazon haben einen unnötig langen und aggressiven Kampf für das Recht, sich gewerkschaftlichen zu organisieren, hinter sich. Denn Amazon hat alles in seiner Macht Stehende getan, um Falschinformationen und Lügen zu verbreiten.«
Die Hürden, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter in New York und Alabama überwinden mussten, waren enorm. Neben der extrem hohen Personalfluktuation, welche die Organisierung in den Betrieben erschwert, zeigen Unterlagen, welche das US-Arbeitsministerium veröffentlicht hat, dass Amazon 4,3 Millionen Dollar für Beraterfirmen ausgab, welche die Gewerkschaftsgründung verhindern sollten – eine erstaunlich hohe Summe. Selbst bei den aggressiven gewerkschaftsfeindlichen Kampagnen von Großkonzernen kommen solche Beträge erst zusammen, nachdem jahrelang Spezialistinnen und Spezialisten der sehr spezifisch US-amerikanischen Branche des professionellen Union Busting auf den Plan gerufen wurden. Viele der Beraterinnen und Berater, die Vorträge hielten, welche die Beschäftigten über sich ergehen lassen mussten, und die auch andere Aspekte von Amazons Gegenkampagne planten, erhielten 3.200 Dollar pro Tag.
Laut der Beschäftigten in Staten Island waren am Standort JFK8 regelmäßig Unions Buster zu Gast. Informationsveranstaltungen folgten ihrem Drehbuch, und sie ließen Propagandaposter erstellen, die auf Toiletten und Gängen aufgehängt wurden. Die Belegschaft wurde außerdem per Post, Instagram, Telefon, SMS und über Videobotschaften auf Bildschirmen im Werk mit Propaganda überhäuft.
Die Gewerkschaft ALU stellt indessen klare Forderungen: Ein Mindestlohn von 30 Dollar pro Stunde, mehr bezahlter Urlaub, bezahlte Pausen, gewerkschaftliche Vertretung bei Disziplinarverfahren und eine bessere Unterstützung bei der Kinderbetreuung.
Sicher mag die Gründung einer Gewerkschaft in New York einfacher sein als in Alabama, doch die Initiatoren der New Yorker Kampagne mussten dennoch polizeiliche Repressalien erdulden: Am 23. Februar nahm das NYPD den Vorsitzenden der ALU, Christian Smalls, sowie die Beschäftigten Brett Daniels und Jason Anthony fest, nachdem Amazon ihnen Hausfriedensbruch vorwarf. Das Abstimmungsergebnis zeigt, dass diese Einschüchterungsversuche nach hinten losgingen, da sie unter der Belegschaft den Eindruck verstärkten, Amazon sei repressiv und heuchlerisch.
Ein weiterer Aspekt der Kampagne am Werk JFK8 ist ebenfalls bemerkenswert: Die ALU ist eine unabhängige Hausgewerkschaft, die mit keiner landesweiten Gewerkschaft assoziiert ist. Smalls, ihr Vorsitzender, ist eine herausragende Persönlichkeit: Er wurde während der Pandemie zum Organizer, als er vor den Werktoren von Amazon Proteste gegen den unzureichenden Infektionsschutz auf die Beine stellte. Daraufhin wurde er von Amazon entlassen. Geleakte Audioaufnahmen aus der Führungsebene legen nahe, dass die Unternehmensleitung eine Schmierkampagne gegen ihn plante: Der Chef der Rechtsabteilung, David Zapolsky, beschrieb Smalls in einem Meeting mit Jeff Bezos als »nicht klug oder wortgewandt«.
Diese Beschreibung empörte Smalls, der schon lange darauf hinweist, dass bei Amazon selbst im unteren Management auffällig wenige Schwarze arbeiten – ihm selbst wurde eine Beförderung jahrelang verweigert. Er ist der Meinung, dass dies den tief verwurzelten Rassismus des Unternehmens offenlegt. Er habe, wie er mir im Sommer sagte, beschlossen, Amazon eines Besseren zu belehren.
Als Opfer einer äußerst persönlichen und öffentlichen Entlassung entschloss er sich, den Groll gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber in seine Kampagne zu kanalisieren. In Anbetracht ihres Erfolgs lohnt es sich, einen Blick auf seine Erklärung zu werfen, in der er darlegt, wie er zum militanten Aktivisten wurde:
»Es ist schon lustig, denn ich sage immer, dass Amazon mich auf diese Rolle vorbereitet hat. Obwohl ich kein Manager war, habe ich trotzdem seit viereinhalb Jahren die Aufgaben eines Managers wahrgenommen. Meine Führungsprinzipien bei Amazon haben mir den Übergang zum Aktivismus erleichtert.
Ich benutze die Prinzipien, die ich bei Amazon gelernt haben, gegen das Unternehmen. Mein Lieblingssatz ist: ›Zeige Rückgrat und setze dich ein‹. Sie hassen es, dass ich das dauernd zitiere. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich nie befördert wurde: Ich hatte Rückgrat, und habe mich für das eingesetzt, was ich für richtig hielt, und es ist mir wichtig, dass sich etwas verändert. Ein weiterer Leitsatz lautet: ›Siehst du ein Problem, mache es dir zu eigen und löse es‹. Das ist wahrscheinlich einer meiner wichtigsten Grundsätze – ich habe bemerkt, dass es diese Probleme gibt, und nun versuche ich, sie zu lösen.
Ironischerweise wollten sie mich mit ihrer Schmutzkampagne zum Gesicht der Gewerkschaftsbewegung machen – das sind ihre eigenen Worte. Wenn man es so will, dann versuche ich, sie die diese Aussage bereuen zu lassen. Ich habe nichts anderes zu tun. Ich bin immer noch arbeitslos – ich kann nirgendwo einen Job bekommen. Das hier ist mein Vollzeitjob, aber jetzt arbeite ich für ein anderes Team.«
Im Frühjahr 2021 begann Smalls, seine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen zu organisieren, indem er an einer öffentlichen Bushaltestelle vor dem Werksgelände von JFK8 auf sie wartete. Bald darauf gewann er weitere Mitstreiter unter den Werksmitarbeitern, zum Beispiel Derrick Palmer, der zuvor unter der Aufsicht von Smalls am Standort gearbeitet hatte und sechs Jahre bei Amazon beschäftigt war. Die Gruppe organisierte Grillpartys, verteilte Flugblätter, verbreitete ihre Botschaft auf Plattformen wie TikTok und baute innerhalb des Werks ein Organisationskomitee auf.
Amazon wiederum richtete einen stetigen Propagandastrom gegen die ALU. Wie Labor Notes berichtete, reagierte das 25-köpfige Organisationskomitee darauf mit Telefonaktionen und sprach im Pausenraum mit Beschäftigten über ihre Anliegen. Am Ende ihrer Bemühungen steht nun also der erste Sieg einer Gewerkschaft bei einer Amazon-Urabstimmung in den USA. Dies ist natürlich ein Grund zum Feiern, doch die Gewerkschaft steht bereits vor der nächsten Abstimmung im Werk LDJ5. Dieses befindet sich ebenfalls in Staten Island, etwa 1.500 Menschen arbeiten dort.
Die Herangehensweise der ALU ist in vielerlei Hinsicht besonders: Die Gewerkschaft hat kaum bezahlte Mitarbeitende und sie beantragte die Urabstimmung mit einer viel geringeren Mitgliederzahl, als allgemein empfohlen wird. Der Armee von Rechtsanwältinnen bei Amazon stand eine einzige Anwältin auf Gewerkschaftsseite gegenüber, und auch in Sache Tarifverhandlungen hat sie keinerlei Erfahrungen. Doch die ALU ist der Auffassung, dass ihnen all diese Aspekte in die Hände spielen, da sich Arbeitgeber in der Regel auf die Strategie verlassen, Gewerkschaften als »dritte Parteien« darzustellen, die den Betriebsfrieden stören wollen, statt als eine Vertretung der Beschäftigten. Dieses Argument gehört zum Standardrepertoire der Anti-Gewerkschafts-Propaganda, und Arbeiterinnen und Arbeiter entgegnen oft, dass sie selbst in der Gewerkschaft das sagen haben. Trotz aller Schwächen, welche existierende Gewerkschaften haben mögen, steht es immer noch den Beschäftigten selbst zu, über Tarifverträge abzustimmen und ihre eigenen Vertreter zu benennen. Der unabhängige Charakter der ALU machte es Amazon aber besonders schwer, dieses Argument wirkungsvoll vorzubringen.
Bilder vom ersten Tag der Auszählung durch das NLRB in Brooklyn zeigen einmal mehr, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen der unabhängigen ALU und einer der mächtigsten Firmen der Welt um einen Kampf zwischen David gegen Goliath handelte. Auf einem Foto von Lauren Kaori Gurley von Vice, die den Kampf der ALU von Anfang an begleitet hat, ist der Vorstand der ALU vor dem Gebäude des NLRB zu sehen; ein anderes zeigt Smalls, der mit Blick auf die Amazon-Anwälte während der Stimmauszählung kommentiert: »Ich liebe es, wie sie sich winden. Sie müssen ganz schön was schlucken heute.«
Nach ihrem historischen Sieg erwartet die ALU eine neue Herausforderung: Sie muss ihren ersten Tarifvertrag erkämpfen. In einer Presseerklärung ließ Amazon verlauten, man sei »enttäuscht vom Ausgang der Abstimmung in Staten Island, weil wir überzeugt sind, dass eine direktes Verhältnis zum Unternehmen für unsere Beschäftigen am besten ist. […] Wir behalten uns weitere Schritte vor, darunter auch ein Einspruch gegen die Abstimmung aufgrund der unangebrachten Einflussnahme des NLRB, welche wir und andere (darunter die National Retail Federation und die US-Handelskammer) bei diese Abstimmung beobachtet haben«.
In den USA ist es üblich, dass Arbeitgeber Tarifverhandlungen hinauszögern – einige Studien zeigen, dass weniger als die Hälfte der tariflich organisierten Betriebseinheiten ein Jahr nach Gründung einer Gewerkschaft einen Tarifvertrag erkämpfen konnten. Es kommt außerdem durchaus vor, dass Unternehmen einen Standort einfach schließen, um sich gar nicht erst auf die Auseinandersetzung um einen Tarifvertrag einzulassen. Amazon steht wie kaum ein zweiter Konzern für Gewerkschaftsfeindlichkeit und Diktatur am Arbeitsplatz. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Amazon solche schmutzigen Taktiken anwenden wird. Deswegen hat das Unternehmen den anfänglichen Bemühungen der gewerkschaftlichen Organisierung auch so vehement den Kampf angesagt: Amazon weiß ebenso gut wie die Beschäftigten, dass eine erfolgreiche Urabstimmung in einem Werk einen Präzedenzfall schafft, der weitere Standorte zur Nachahmung inspirieren könnte. Genau dies geschieht gerade in den Starbucks-Filialen der USA.
Die Gewerkschaftsbewegung wird nach dem Sieg der ALU einige ihrer Annahmen überdenken müssen und sie sollte die Amazon-Beschäftigten bei ihrem Kampf um einen Tarifvertrag solidarisch unterstützen. Die Distanz und das Spannungsverhältnis zwischen der ALU und anderen Gewerkschaften sind sehr real, und sie werden nicht über Nacht verschwinden. Doch um den Erfolg der ALU an den Hunderten anderen Amazon-Standorten in den USA zu wiederholen, braucht es die vollumfängliche Zusammenarbeit der ganzen Bewegung. Mehr als 1 Million Menschen arbeiten in den USA für Amazon – darin sind die vielen Fahrerinnen und sonstigen indirekten Beschäftigten bei dritten Dienstleistern noch nicht einmal eingerechnet. Da Amazon der derzeit zweitgrößte private Arbeitgeber der USA ist und einen immer größeren Teil der Wirtschaft übernimmt, wird diese Zahl noch weiter zunehmen.
Amazon ist ein Imperium, dessen Aktivitäten sich immer weiter ausbreiten und den Arbeitsalltag von Beschäftigten in zahllosen Industrien bestimmen: In der Bio-Supermarktkette Whole Foods überwacht Amazon mögliche Versuche der Organisierung; bei Amazon Fresh ist ein Standort in Seattle bereits im Begriff sich zu organisieren; der Konzern hat Legionen von Büroangestellten, von denen einige für ihre Organizing-Versuche entlassen wurden, und denen sich eine Vielzahl von Problemen stellen, auch wenn sich ihr Arbeitsalltag sehr von dem des Werks JFK8 unterscheidet; hinzu kommen die Zusteller bei Amazon, die viel weniger als ihre gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen bei UPS verdienen, und die somit die Standards in der ganzen Branche unterlaufen.
Die Versuche, Amazon-Logistikzentren gewerkschaftlich zu organisieren, sind für uns alle von Bedeutung, denn wir alle bewegen uns innerhalb eines Systems von Überwachung und Kontrolle, an dessen Speerspitze Amazon steht. Der Erfolg im Werk JFK8 ist nur ein erster Etappensieg. Fast alle haben behauptet, dass Arbeiterinnen und Arbeitern dies niemals gelingen wird; dass solche Initiativen zum Scheitern verdammt sind; dass Amazon zu groß sei, um sich mit dem Unternehmen anzulegen; dass man warten müsse, bis die Gewerkschaftsbewegung insgesamt größer und stärker sei. Diese Bedenken waren nicht unbegründet, doch ganz gestimmt haben sie nicht. Solange es Amazon gibt, müssen sich die Beschäftigten organisieren. An dieser Aufgabe führt kein Weg vorbei, und es gibt heute Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich ihrer annehmen. Wir sollten nun von ihnen lernen. Denn es ist unerlässlich, dass sie Erfolg haben.
Alex N. Press ist Redakteurin bei JACOBIN. Ihre Artikel sind unter anderem in der »Washington Post«, »Vox« und »The Nation« erschienen.
Alex N. Press ist Redakteurin bei JACOBIN. Ihre Beiträge erschienen unter anderem in der »Washington Post«, »Vox«, »the Nation« und »n+1«.