05. November 2024
Mexikos sozialer Städtebau ist das sichtbarste Vermächtnis des Ex-Präsidenten AMLO: In vielen vernachlässigten Regionen des Landes entstanden ambitionierte staatliche Bauprojekte. Diese Wiederbelebung des öffentlichen Raums hat den Alltag der breiten Bevölkerung schon jetzt nachhaltig verbessert.
Mexikos ehemaliger Präsident AMLO bei seiner letzten Pressekonferenz in Mexiko-Stadt, 30. September 2024.
In Huicalco, einem Arbeiterviertel der zentralmexikanischen Stadt Tizayuca, fallen die unverputzten Betonwände des neuen Gemeindezentrums zwischen den lokalen Tante-Emma-Läden und einfachen Häuschen sofort ins Auge. Der Complejo Colibrí ist eines von 1.267 staatlichen Bauprojekten, die während der Amtszeit des vormaligen Präsidenten Andrés Manuel Lopez Obrador (AMLO) realisiert wurden. Die Bauten wirken wie materielle Belege für Mexikos »Vierte Transformation« – also dem Versuch der weiterhin regierenden Linksallianz MORENA, das Land gerechter zu gestalten.
»Für viele von uns wird hier ein Traum wahr«, sagt die Künstlerin Carmina Orta über das neue Gemeindezentrum. »Es ist ein wunderschöner Ort, mitten in der trockenen Landschaft von Tizayuca.«
Das von den Architekturbüros G3 Arquitectos und Anonimous entworfene brutalistische Gebäude befindet sich auf einem 1,7 Hektar großen Gelände und beherbergt Unterrichtsräume, Büros sowie überdachte Sportplätze. Draußen lädt eine weitläufige Promenade mit viel Grün und Sitzgelegenheiten zum Verweilen ein und weckt die Neugier der Passanten.
Orta stammt ursprünglich aus Pachuca, der Hauptstadt des Bundesstaates Hidalgo, und kam im Februar nach Tizayuca. Hier leitet sie nun drei Kunstworkshops im Complejo Colibrí, das im April für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aber erst im August offiziell eingeweiht wurde. »Ich biete Kurse in Aktzeichnen, Malerei und Kalligrafie an«, erzählt Orta. Der Unterricht im Gemeindezentrum ist kostenlos, dementsprechend können Menschen unabhängig von ihrem Background teilnehmen. »Ich hatte Schülerinnen und Schüler jeden Alters; aber am meisten Spaß macht mir die Arbeit mit den Senioren«, sagt sie.
Vor nicht allzu langer Zeit war das Gelände des Complejo Colibrí nur eine der vielen Brachflächen in der Stadt. Tizayuca liegt nicht weit entfernt von Mexiko-Stadt und Pachuca, ist jedoch eine Kleinstadt mit knapp unter 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, wodurch in der Vergangenheit nur sehr geringe Investitionen des Bundesstaats Hidalgo in die örtliche Infrastruktur flossen. Selbst als die umliegende Region ein Industrie- sowie rasches Bevölkerungswachstum verzeichnete, schenkten die höheren Regierungsebenen den Freizeit- und Kulturbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen vor Ort wenig Aufmerksamkeit. Auch heute noch ist Tizayuca von hohen Kriminalitäts- und Gewaltraten geprägt.
Eingang des Gemeindezentrums Complejo Colibrí (Foto: Tizayuca Ministry of Social Well-Being)
»Die Wiederbelebung des öffentlichen Raums trägt dazu bei, das soziale Gefüge wiederherzustellen«, hofft Orta. Jeden Nachmittag seien die Volleyball- und Basketballfelder voll mit Kindern und Jugendlichen aus der Gegend: »Tizayuca brauchte wirklich einen Ort, an dem sie sich sicher fühlen können.«
Tatsächlich gibt es 23 Gemeindezentren in und um Tizayuca, doch viele von ihnen sind in einem schlechten Zustand oder nicht ausreichend ausgestattet, um den Bedürfnissen einer immer größeren und diverseren Bevölkerung gerecht zu werden. Der Complejo Colibrí bietet nun einen flexiblen Raum, in dem Sport, Bildung und Kultur nachgegangen werden kann, und füllt langsam die kulturellen Lücken, die frühere Verwaltungen hinterlassen haben.
»Dieses Gemeindezentrum hat viel dazu beigetragen, einige Strukturen abzubauen, die die Bewohnerinnen und Bewohner von Tizayuca früher geografisch getrennt haben«, sagt Javier Alazañes, Minister für Soziales in der Gemeinde. Er betont, wie sehr die tiefgehende »sozialräumliche« Fragmentierung – also die Trennung von Menschen entlang der Kategorien Einkommen und Klasse – dem Gemeinschaftsgefühl in Tizayuca geschadet habe. Das neue Zentrum schaffe nun »neue Freizeitmöglichkeiten nicht nur für die Nachbarschaft hier in Huicalco, sondern für Menschen aus der gesamten Kommune.«
Tatsächlich haben sich in den vergangenen sechs Monaten hunderte Menschen angemeldet, um Aktzeichnen zu lernen, Gitarre zu spielen oder indigene Handwerkskunst anzufertigen. Viele weitere besuchten ein Food-Festival oder kommen einfach vorbei, um nach der Arbeit mit Freunden eine Cascarita (eine lockere Runde Basketball) zu spielen. Die Stadtverwaltung plant, das Gemeindezentrum langfristig rund um die Uhr geöffnet zu halten und rechnet mit bis zu 20.000 Besucherinnen und Besuchern pro Jahr.
»Kultur ist ein Recht«, betont Alazañes. »Orte wie der Complejo Colibrí helfen, dass [dieses Recht] wahrgenommen und gesichert wird.«
Wie Tizayuca wurden viele Kommunen im ganzen Land unter den neoliberalen Vorgängerregierungen vernachlässigt. Öffentliche Orte waren unterfinanziert und verwahrlosten zunehmend, andere wurden nach Jahrzehnten des Verfalls privatisiert. Als Reaktion darauf beauftragte AMLO das Bundesministerium für Land- und Stadtentwicklung (SEDATU) nicht nur damit, potenzielle Projekte zur Aufwertung des öffentlichen Raums und der Infrastruktur in strukturschwachen Kommunen zu ermitteln, sondern diese auch zu realisieren.
»Unsere Regierung hatte sich das Ziel gesetzt, die sozialen Ungleichheiten zwischen den Menschen in großen urbanen Zentren wie Mexiko-Stadt, Guadalajara oder Monterrey und den Menschen in Peripheriegebieten zu verringern«, fasst Román Meyer-Falcón, der das SEDATU während der Amtszeit von AMLO leitete, zusammen. »In diesen Regionen war spürbar, dass der Staat einfach abwesend ist. Daher haben wir im Rahmen unseres Programms zur Verbesserung der städtischen Infrastruktur öffentliche Räume geschaffen, in denen sich die Menschen gemeinsam sicher fühlen können.«
Menschen unterwegs zum Gemeindezentrum Complejo Colibrí (Foto: Tizayuca Ministry of Social Well-Being)
Während der sechsjährigen Präsidentschaft von AMLO profitierten mehr als 190 Gemeinden im ganzen Land vom SEDATU-Programm. Dieses umfasste die Revitalisierung von Parks und Plätzen sowie den Bau von öffentlichen Märkten, Bibliotheken, Museen und Gemeindezentren. Es war eine explizite Abkehr von der Praxis früherer Regierungen: Öffentliche Infrastruktur ist demnach weder ein billiges Anhängsel für andere Projekte noch eine Belastung für einen (zunehmend maroden) Staat.
Unter der Leitung von Meyer-Falcón arbeitete das SEDATU mit international renommierten Architektinnen und Akademikern, darunter Fernanda Canales und Mauricio Rocha, zusammen. Gemeinsam sollte die Rolle der Architektur in der Vierten Transformation Mexikos besonders betont werden. Bisher wurden 223 Projekte mit diversen Preisen ausgezeichnet, darunter auch das Gemeindezentrum in Tizayuca. »Im Rahmen des Stadtverbesserungsprogramms fungiert Architektur als ein Mechanismus, der das Gefühl von Würde und Verwurzelung in den lokalen Gemeinschaften fördert«, so Meyer-Falcón. Das habe auch wirtschaftlichen Nutzen: »Der Vorteil einer wirklich sozialorientierten Architektur besteht darin, dass sie eine beständige und nachhaltige Investition garantiert.«
Die seit 2018 errichtete öffentliche Infrastruktur kann als das wohl greif- und sichtbarste Erbe der AMLO-Regierung angesehen werden. Die während seiner Amtszeit durchgeführten Maßnahmen verändern und prägen die Landschaft Mexikos bis heute – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. »Der Bau hochwertiger öffentlicher Bauten in den ärmsten Regionen des Landes ist ein Symbol, ein Zeichen, das die Vierte Transformation in der Architektur Mexikos hinterlassen hat«, sagt León Staines-Díaz, Professor für Architektur und Stadtplanung am Institut für Technologie und höhere Bildung in Monterrey. Er fügt hinzu, der besondere politische Wandel im Land habe einen ebenso einzigartigen architektonischen Ausdruck erfordert, der eine Abkehr von fast vier Jahrzehnten neoliberaler Herrschaft signalisiert: »Die Vierte Transformation soll die Arbeit fortsetzen, die in der Revolutionszeit [Anfang des 20. Jahrhunderts] begonnen wurde.«
Innenraum des Complejo Colibrí (Foto: Tizayuca Ministry of Social Well-Being)
In diesem Sinne bildete die erstarkende Modernismus-Bewegung im Zuge der damaligen Mexikanischen Revolution eine solide architektonische Grundlage: Architekten wie José Villagrán und Juan O’Gorman nutzten die klaren Linien und effizienten Designs der Moderne und ermöglichten so die »Massenproduktion« von Schulen und Krankenhäusern im ganzen Land. Viele davon werden heute noch genutzt.
Ähnlich zeigen die in den vergangenen sechs Jahren realisierten Projekte, dass eine bewusste Beteiligung von Architekten diverse Vorteile bringen kann. Dazu gehören verbesserte Effizienz, Flexibilität und Nachhaltigkeit. So wurden ebenso wie beim Complejo Colibrí auch beim Museo Meteorito (einem Geologiemuseum in Yucatán) und beim Mercado Matamoros in Tamaulipas lokale Materialien und Bauweisen mit der monumentalen Geometrie zeitgemäßer Architektur verbunden. Damit rücken diese Projekte eine praktische und volksnahe Architektur in den Vordergrund, die sich in den Alltag der Menschen integriert.
Doch es gibt weiterhin Probleme und Herausforderungen. Da die Projekte meist in weniger wohlhabenden Kommunen zu finden sind, fehlen den lokalen Regierungen oft die Ressourcen und das Fachwissen, um die neuen Räume effektiv zu betreiben. Dies hat bereits zu unerwarteten Schließungen und erneutem Verfall geführt.
»Ich denke, es ist sehr wichtig, dass Städte öffentliche Räume als Mittel zur Förderung des Gemeinwohls betrachten«, betont Staines-Díaz. »Die Unterstützung für derartige Infrastruktur muss nicht ausschließlich von der Bundesregierung kommen; auch Bundesstaats- und Kommunalverwaltungen sollten sich beteiligen.«
Derzeit scheint das SEDATU seinen Schwerpunkt von den Stadterneuerungsprojekten auf dringend benötigten Wohnraum zu verlagern. Staines-Díaz schlägt daher vor, dass die Kommunalverwaltungen sich nun die Initiative Utopías im Bezirk Iztapalapa in Mexiko-Stadt zum Vorbild nehmen sollten: »Wenn man die lokale Community einbezieht [und] die lokalen Ressourcen berücksichtigt, einschließlich der Zeit und der Fähigkeiten der Menschen vor Ort, werden diese sich ein Projekt wirklich zu eigen machen.«
Mit einer solchen Grassroots-Strategie könnte tatsächlich sichergestellt werden, dass die Menschen vor Ort bei Gestaltungsprojekten für den öffentlichen Raum das Heft in die Hand nehmen und die Vorhaben mit Leben füllen. So kann das soziale Vermächtnis der AMLO-Regierung weiterleben.
Ximena González ist freiberufliche Journalistin und Redakteurin in Calgary. Ihre Artikel wurden unter anderem in Globe and Mail, The Tyee und Sprawl veröffentlicht.