13. Januar 2023
Mexikos Präsident ist mit dem Versprechen massiver Umverteilung an die Macht gekommen. Er hat die Lithiumvorkommen seines Landes verstaatlicht und den Mindestlohn um 20 Prozent angehoben. Doch diese Erfolge müssen gegen Machtstrukturen in Staat und Medien verteidigt werden.
AMLO beim vierten Jahrestag seiner Amtseinführung, Mexiko-Stadt, 27. November 2022.
IMAGO / Eyepix GroupAm Sonntag, den 27. November, strömten schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen nach Mexiko-Stadt, um den vierten Jahrestag der Amtseinführung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) zu feiern. Ein festlicher Marsch zog in scheinbar endlosen Wellen durch die Avenida Paseo de la Reforma. Trommelgruppen kombinierten komplizierte Rhythmen mit synchronisierten Bewegungen. Brigaden von Stelzenläufern schwenkten ihre Umhänge und stellten ihre Kostüme zur Schau. Musikgruppen, wie die Santa Rosa Philharmonic Band aus der Region Mixe in Oaxaca, erfreuten das Publikum mit Melodien aus dem ganzen Land, und es wurde spontan getanzt und gesungen. Gewerkschaften und Universitäten waren mit eigenen Blöcken vertreten, ebenso wie die einzelnen Bundesstaaten.
An der Spitze des Zuges lief der Präsident ohne den Schutz von Sicherheitskräften, eingekeilt in das Gedränge der Menge. Viele der Anwesenden waren in der Nacht zuvor mit Bussen angereist. Am Ende der Route strömte das Fest wie ein politisches Oktoberfest in die Bars und Restaurants der historischen Innenstadt. Ein verschwitzter und sonnenverbrannter AMLO hielt eine anderthalbstündige Rede, in der er die Errungenschaften seiner Regierung in Sachen Sozialprogramme, Energiesouveränität, Infrastruktur, Gesundheitspolitik und vielem mehr darlegte. Stets bereit, neue Begriffe zu prägen, taufte er abschließend die Philosophie, die seiner Bewegung zugrunde liegt, auf den Namen »mexikanischer Humanismus«.
Auffallend war, dass bei der ausufernden Veranstaltung jegliche Äußerungen von Hass, Rassismus und Klassismus ausblieben. Ein kleinerer Protestmarsch gegen AMLOs Politik zwei Wochen zuvor war dagegen von solchen sprachlichen Ausfällen geprägt gewesen. Die Anhängerinnen und Anhänger des Präsidenten deutete die wichtigsten Beleidigungen, die ihnen auf der vorangegangenen Versammlung entgegengeschleudert worden waren – naco (schäbig, niederträchtig), indio (Indianer) und pata rajada (wörtlich »aufgesprungene Pfote«, eine Anspielung auf die verletzten Fußsohlen der schuhlosen Bauern) – sprachlich um, und machte sie sich in Zeichen und Slogans zu eigen.
Die von der konservativen Presse hochgespielte »Polarisierung« hatte sich in die Schützengräben der sozialen Medien zurückgezogen. In dieser friedlichen und jubelnden Menge, zu der auch viele Menschen gehörten, die aus Mexiko ausgewandert sind und Probleme bei der Wiedereinreise in ihre neuen Heimatländer riskierten, um an der Veranstaltung teilzunehmen, war sie nicht zu finden.
Es gibt tatsächlich reichlich Grund zum Feiern. Die sogenannte Vierte Transformation schließt ihr viertes Jahr mit soliden Zahlen ab: Das Wirtschaftswachstum übertrifft die Prognosen, die ausländischen Direktinvestitionen steigen, während die Auslandsverschuldung sinkt, der Peso gehörte 2022 zu den Währungen, deren Wert gegenüber dem Dollar am stärkten anstieg (was Spekulanten missfällt, die im Sommer wiederholt gegen ihn gewettet hatten) und die Arbeitslosigkeit geht trotz steigender Zinsen zurück. AMLO ist nach wie vor populär und seine Partei MORENA schneidet in ersten Umfragen für die Präsidentschaftswahlen 2024 gut ab.
Selbst der Economist, die mit Abstand hysterischste Anti-AMLO-Stimme in der anglophonen Presselandschaft, sah sich gezwungen, in einer vergleichenden Darstellung von Wirtschaftsindikatoren für 2022 die Stärke Mexikos unter den OECD-Ländern einzugestehen.
Zu den wichtigsten politischen Erfolgen im vergangenen Jahr gehörten eine Anhebung des Mindestlohns um 20 Prozent – die Fortsetzung einer Reihe jährlicher Erhöhungen, die bis zum Ende von AMLOs sechsjähriger Amtszeit zu einer Verdoppelung des Reallohns führen soll – und eine Verdoppelung des Minimums bezahlter Urlaubstage von sechs auf zwölf (bis zu einem Maximum von 32 Tagen, gestaffelt nach der Anzahl der Jahre, die eine Arbeiterin oder ein Arbeiter ununterbrochen in Beschäftigung ist).
Im April verstaatlichte Mexiko seine Lithiumvorkommen, die zu den größten der Welt gehören. Dies war Teil eines energiepolitischen Doppeltreffers, denn auch AMLOs Elektrizitätswirtschaftsgesetz, das die öffentliche Kontrolle über das nationale Stromnetz stärkt, wurde vom Obersten Gerichtshof für verfassungsgemäß befunden. Im selben Monat gewann AMLO die ersten Abberufungswahlen in der Geschichte des Landes mit Leichtigkeit und erfüllte damit das Wahlversprechen, sich nach der Hälfte seiner Amtszeit einer solchen zu unterziehen.
Wenig überraschend betrafen die größten internationalen Schlagzeilen zumeist die Außenpolitik. Im Mai warnte AMLO, dass er sich weigern würde, am Amerikagipfel in Los Angeles teilzunehmen, wenn nicht sämtliche lateinamerikanische Länder vertreten sein würden. Die daraufhin von den Apparatschiks des US-Außenministeriums ausgelöste Aufregung zog sich über mehrere chaotische Wochen hin; am Ende hielt der mexikanische Präsident sein Versprechen. (Gleichzeitig drängt er jedoch weiterhin auf eine stärkere Integration Lateinamerikas mit den USA und Kanada, was die Region in eine Zwangslage versetzen könnte.)
In einer Rede zum mexikanischen Unabhängigkeitstag im September bezog er eine eigenständige Position zum Krieg in der Ukraine und kritisierte die Ineffektivität der Vereinten Nationen sowie das Leid, das durch Sanktionen und Waffenlieferungen verursacht wird. Man könne sich des Verdachts nicht erwehren, so schloss er, »dass der Krieg von den Interessen der Rüstungsindustrie geschürt wird«.
Im Dezember sprach sich AMLO gegen den Putsch des peruanischen Kongresses gegen den Präsidenten Pedro Castillo aus und weigerte sich, die De-facto-Regierung von Dina Boluarte anzuerkennen, während die USA und europäische Staaten genau das taten. Am 12. Dezember unterzeichnete Mexiko gemeinsam mit Argentinien, Bolivien und Kolumbien ein Kommuniqué, in dem es die Schikanen anprangerte, denen Castillo seit Beginn seiner Amtszeit ausgesetzt war, und dazu aufrief, die demokratische Wahl, die ihn ins Präsidentenamt gebracht hatte, zu respektieren. Am 20. Dezember wies die Boluarte-Regierung den mexikanischen Botschafter, Pablo Monroy, aus. Am darauffolgenden Tag trafen Castillos Frau und Kinder in Mexiko ein. Sie sind die vorerst letzten in einer langen Tradition von politischen Flüchtlingen, die in Mexiko Asyl erhalten.
In den Stunden nach Castillos Inhaftierung tauchte in Mexiko ein gut finanzierter Twitter-Hashtag auf: #SiguesTuAMLO (Du bist der Nächste, AMLO). Inspiriert von den Ereignissen in Peru und der Verurteilung der argentinischen Vizepräsidentin Cristina Fernandez de Kirchner am Vortag, versuchte die putschfreudige lateinamerikanische Rechte, in den sozialen Medien einen Dominoeffekt anzustoßen.
AMLO läuft nicht Gefahr, aus dem Amt entfernt zu werden, und er machte sich bei seiner morgendlichen Pressekonferenz am nächsten Tag offen über den Hashtag lustig. Aber da sanfte Staatsstreiche zur bevorzugten Waffe von Eliten auf dem ganzen Kontinent geworden sind – in Brasilien, Paraguay und Bolivien, um einige der bekanntesten Beispiele des letzten Jahrzehnts zu nennen –, muss man die Frage stellen: Welche Maßnahmen werden ergriffen, um eine solche Machtübernahme in Mexiko zu verhindern?
Denn trotz der positiven Reformen bleibt die Machtstruktur des Landes im Wesentlichen die gleiche wie im Jahr 2018. Obwohl sie nicht mehr über die öffentlichen Werbebudgets verfügt, die sie in komfortabler Kollusion mit früheren Regierungen gehalten haben, hat die Presseoligarchie nach wie vor Radio, Fernsehen und Printmedien fest im Griff und sorgt dafür, dass jede Politikerin und jede Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die auch nur ein bisschen von der Orthodoxie abweicht, medial angegriffen wird. Trotz der Fortschritte beim Aufbau einer öffentlichen Bank kontrolliert weiterhin eine Handvoll multinationaler Banken die Einlagen, Kredite und Rentenfonds der Nation. Die katholische Kirche hat, wenn auch weniger schamlos als in der Vergangenheit, hinter den Kulissen Einfluss und Macht. Und die akademische Welt und die Kultursphäre werden von Konservativen, die sich als Progressive ausgeben, dominiert.
Das Großkapital kontrolliert weiterhin wichtige natürliche Ressourcen in Form von Bergbaukonzessionen und Wasserrechten. Die große Mehrheit der Übeltäter früherer Regierungen bleibt ungestraft. Und die Streitkräfte waren noch nie so stark wie heute: Sie werden mit Budgeterhöhungen überschüttet und verfolgen eine immer länger werdende Liste von Nebenbeschäftigungen, zu denen bald auch eine neue kommerzielle Fluggesellschaft und die Verwaltung des neuen Nationalparks an der archäologischen Stätte von Uxmal gehören werden.
Hin und wieder scheint es, als gäbe es im ganzen Land kein neues öffentliches Vorhaben, an dem der Verteidigungsminister nicht auf die eine oder andere Weise beteiligt ist. Obwohl AMLO darauf besteht, dass auf diese Weise sichergestellt werden soll, dass diese Projekte in der Zukunft nicht privatisiert werden, wird die Alternative »Privatisierung oder Militär« zunehmend fragwürdig – vor allem angesichts der in diesem Jahr verabschiedeten Verfassungsänderung, die es den Streitkräften erlaubt, für weitere vier Jahre, bis 2028, polizeiliche Aufgaben zu übernehmen. Angesichts der katastrophalen Lage der Polizei und der starken Feuerkraft der Kartelle ist dies wohl notwendig, aber dennoch eine bittere Pille.
Natürlich reichen vier Jahre nicht aus, um vierzig – oder vierhundert – Jahre rückgängig zu machen. Auch ist unbestreitbar, dass diese Jahre des Kampfes und des politischen Triumphs eine beneidenswerte Politisierung der Öffentlichkeit bewirkt haben – an sich bereits eine große Leistung. Doch unter den Anhängerinnen und Anhängern des »mexikanischen Humanismus« scheint die illusorische Zuversicht vorzuherrschen, dass die Gewährleistung liberaler Freiheiten und ein bisschen Umverteilung ausreichen werden, um tief verwurzelte Machtstrukturen aufzulösen. Dieser Optimismus war so groß, dass im Jahr 2021 die Straffreiheit für den Präsidenten aufgehoben wurde – eine der wichtigsten Reformen AMLOs. Diese Maßnahme, die darauf abzielt, den Chef der Exekutive für Korruption und im Amt begangene Straftaten zur Rechenschaft zu ziehen, ermöglicht auch seine eigene Entmachtung bei jeder Art von Anschuldigung.
Es lohnt sich also zu fragen, was für ein Erbe AMLO einer künftigen MORENA-Regierung hinterlassen wird, sollte seine Partei, wie es derzeit aussieht, die Wahl im Jahr 2024 gewinnen. Der derzeitige Präsident ist ein intelligenter politischer Akteur und ein einzigartig begabter Kommunikator; seine Nachfolgerin oder sein Nachfolger wird es aber womöglich nicht sein. Und die Schakale im Palacio Nacional lassen sich nicht so einfach verjagen. Trotz ihrer Popularität kann sich die Vierte Transformation nicht den Luxus leisten, zu sagen: »So etwas kann hier nicht passieren.«
Kurt Hackbarth ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist und Mitbegründer des unabhängigen Medienprojekts MexElects. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die mexikanischen Wahlen im Jahr 2018 mit.