13. Dezember 2024
Andreas Babler weckte Hoffnungen auf eine linke Erneuerung der SPÖ. Diese Euphorie ist verflogen. Aus dem einstigen Marxisten ist ein Staatsmann geworden, der um jeden Preis regierungsfähig sein will.
Babler trägt jetzt Krawatte und gibt sich möglichst gemäßigt.
Das Wahljahr 2024 war für die österreichische Linke im weiteren Sinne ein desaströses. Bei den Nationalratswahlen im September gab es nicht etwa den erwarteten oder erhofften sozialdemokratischen Wiederaufschwung durch die Anziehungskraft des neuen Parteivorsitzenden Andreas Babler, sondern im Gegenteil sogar einen minimalen Rückgang des SPÖ-Stimmanteils gegenüber 2019 auf nun noch 21,14 Prozent – ernüchternd für eine Partei, die in den 1960er und 70er Jahren noch regelmäßig rund 50 Prozent der Stimmen erreichte und selbst in den 1990er und 2000er Jahren noch im Bereich um 35 bis 40 Prozent lag. Gleichzeitig feierte die FPÖ einen spektakulären Triumph und wurde stärkste Partei mit 28,85 Prozent der Stimmen. Dieser Trend setzte sich zwei Monate später auch bei den Landtagswahlen in der Steiermark fort: Die SPÖ sank leicht herab auf 21,36 Prozent, während die FPÖ sich mit 34,76 Prozent mehr als verdoppelte und zum ersten mal überhaupt stärkste Partei der Steiermark wurde.
Und es kommt noch schlimmer. Die steirische SPÖ beschloss nach dem Wahldesaster, in Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ einzutreten, um als Juniorpartner der Rechtspopulisten in die neue Landesregierung einzuziehen. Babler erklärte, darüber zwar »nicht glücklich« zu sein, aber schließlich sei das Sache des steirischen Landesverbandes und er habe darüber nicht zu entscheiden. Eine irritierende Position für einen »linken Hoffnungsträger«, zumal angesichts der Tatsache, dass noch der niemals als »linker Revoluzzer« in Erscheinung getretene einstige SPÖ-Vorsitzende Franz Vranitzky als Leiter der Bundespartei durchaus allen Landesverbänden Koalitionen mit der FPÖ kategorisch untersagte – die berühmte »Vranitzky-Doktrin«, die erst 2004 durch Bildung einer blau-roten Koalition in Kärnten gebrochen wurde.
Auf Bundesebene droht zwar keine blau-rote Koalition, aber Babler steht in Koalitionsverhandlungen mit der christlich-konservativen ÖVP unter Karl Nehammer, einem den rechten Parteiflügel der Konservativen repräsentierenden Law-and-Order-Hardliner und beinharten Neoliberalen, der nicht nur immer wieder mit Stimmungsmache gegen Flüchtlinge auffiel, sondern auch das Ausschließen neuer Steuern – insbesondere Vermögenssteuern – zur Voraussetzung einer Regierungsbildung macht. Bablers SPÖ steht damit am Scheideweg. Als Juniorpartner in einer Koalition mit Nehammers ÖVP würde sie realistischerweise alle relevanten Punkte von Bablers linksreformistischem Programm endgültig über Bord werfen, eine liberale Wirtschaftspolitik und eine knallharte Migrationspolitik mittragen müssen, die unter den neu in die Partei geströmten linken Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wohl die letzten Hoffnungen auf einen grundlegenden Wandel des Charakters der SPÖ zerstören würde. Von der zeitweisen Andreas-Babler-Euphorie in der österreichischen Linken, von den Hoffnungen auf eine linke Wiedergeburt der SPÖ, ist nicht mehr viel zu spüren.
Werfen wir einen Blick zurück. Babler, langjähriger Bürgermeister des Wiener Vororts Traiskirchen, war medial schon lange aufgefallen durch seine in der geradezu neoliberal gewordenen und bürokratisch verknöcherten österreichischen Sozialdemokratie außergewöhnlich weit links stehenden Positionen, sei es in Wirtschafts- und Sozialpolitik oder in Migrations- und Flüchtlingsfragen. Neben seinen inhaltlichen Positionen trug auch sein erfrischend direktes, menschlich nahbares Auftreten und die Betonung seiner eigenen proletarischen Herkunft viel dazu bei, den sich selbst noch vor einigen Jahren als Marxisten bezeichnenden Babler zum Hoffnungsträger derjenigen Teile der österreichischen Linken zu machen, die noch daran glaubten, die SPÖ könne von einer neoliberalen Technokratenpartei wieder eine echte linke Arbeiterpartei werden. Dementsprechend führte bereits seine Kandidatur für den Parteivorsitz zu einer seit langer Zeit beispiellosen Beitrittswelle in die seit Jahrzehnten schrumpfende SPÖ - zigtausende Linke, die ihre Hoffnungen in die Sozialdemokratie längst aufgegeben oder überhaupt nie welche gehabt hatten, traten jetzt in kürzester Zeit ein.
Das Wunder geschah: Der Kleinstadtbürgermeister und gelernte Maschinenschlosser Babler setzte sich gegen das Partei-Establishment durch, triumphierte sowohl über die technokratisch-zentristische bisherige Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner als auch über ihren vermeintlich aussichtsreichsten Herausforderer, den mit migrationsfeindlichen Positionen kokettierenden burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil. Am 6. Juni vergangenen Jahres trat er offiziell an die Spitze der Partei. Die Babler-Begeisterung begann bei Konfrontation mit der parteipolitischen Realität allerdings bald zu bröckeln. Schon vor und erst recht nach der Wahl sah sich Babler mit einer doppelten Offensive gegen seine Person konfrontiert. Einmal seitens der bürgerlichen Medienlandschaft, die mit Furor daranging, Babler aufgrund seiner marxistischen politischen Sozialisation als Kryptostalinisten und Antidemokraten zu verunglimpfen, dem vernünftige, verantwortungsvolle BürgerInnen keinesfalls das Schicksal des Landes überlassen dürften. Und zweitens, auf subtilere Art, seitens großer Teile des von Bablers Sieg überrumpelten SPÖ-Parteiestablishments, das fürchtete, dieser fulminante Sieg des lange irrelevanten linken Parteiflügels könne nicht nur ihr bisheriges liberales, in erster Linie an urbane Mittelschichten appellierendes Programm gefährden, sondern auch ihre eigenen etablierten Karrierenetzwerke in den Parteistrukturen.
»Babler trägt jetzt Krawatte. Es ist eine bewusste strategische Wandlung, die er vollziehen möchte: vom Revoluzzer zum Staatsmann.«
Besonders kühl traten der mächtige Wiener Landesverband sowie die Tiroler SPÖ-Führung Babler entgegen. Doris Bures als Repräsentantin der Wiener SPÖ-Bürokratie bezeichnete Bablers linksreformistisches Wirtschaftsprogramm spöttisch als »dem Verdacht der Unernsthaftigkeit« ausgesetzt, und der Tiroler SPÖ-Chef Georg Dornauer erklärte im August öffentlich, dass er Bablers Versprechen der 32-Stunden-Woche für wirtschaftsschädigende utopische Träumerei halte und setzte im Ton einer unterschwelligen Drohung hinzu, er »gehe davon aus, dass Babler die 32-Stundenwoche nicht weiterverfolge«. Das schon letztes Jahr absehbare Dilemma ist eingetreten: Auch ein linker SPÖ-Chef kann den Charakter der Partei nicht fundamental verändern, wenn er sich einerseits einer Mauer in Form der etablierten Parteibürokratie gegenübersieht und er andererseits das parlamentarische Spiel spielen soll, wofür »Salonfähigkeit« sowohl in den Augen der bürgerlichen Presse als auch potenzieller Koalitionspartner notwendig ist.
Dieser Zwang, sich ins Korsett bürgerlicher Respektabilität (sprich: »Wirtschaftsfreundlichkeit«) einzufügen, hat den Rebellen Babler schon ganz erheblich eingehegt. Der Standard, die wichtigste Zeitung des liberalen österreichischen Bürgertums, stellte in einem Artikel anerkennend fest: »Andreas Babler hat sich seit der Nationalratswahl verändert. Tritt er dieser Tage vor die Presse, spricht er ruhig, deutlich langsamer als früher, wenige Emotionen, kein Klassenkampf mehr auf offener Bühne. Der SPÖ-Chef verwendet Worte wie ›konstruktiv‹, spricht von einer Koalition, die ›aus der Mitte definiert‹ sein müsse.«
Babler trägt jetzt Krawatte. Es ist eine bewusste strategische Wandlung, die er vollziehen möchte: vom Revoluzzer zum Staatsmann. Potenziell polarisierenden Reizthemen geht Babler, nun ganz »Staatsmann«, aus dem Weg oder greift sie in »staatstragender« Weise auf. Zum Gazakrieg und der auch österreichischen Unterstützung der Regierung Netanjahu war von Babler lange nichts zu hören, bis er sich zu einem recht zahmen Appell für einen Waffenstillstand durchringen konnte. Als in Vorarlberg nach medialem Shitstorm gegen die Führung der Sozialistischen Jugend (SJ) ein Parteiausschlussverfahren wegen Palästina-Soli-Agitation eröffnet wurde – kein Kommentar seitens des Parteivorsitzenden. Weitere Waffenlieferungen aus der EU in die Ukraine begrüßte Babler schon im Juni vergangenen Jahres, wofür er einige anerkennende Worte seitens der liberalen Presse, aber viele entsetzte Reaktionen seitens altgedienter linker SozialdemokratInnen erntete – immerhin ist Österreich ein seiner Verfassung nach zur Neutralität verpflichteter Staat. Von einem revolutionären Umschwung der SPÖ unter Babler, von einem Neuanfang ist nicht mehr viel zu spüren.
Der Alltag ist zurück in der Sozialdemokratie und weite Teile der österreichischen Linken sind zurückgefallen in Resignation und Hoffnungslosigkeit. Das allgemeine Bild ist umso düsterer, als auch die KPÖ als linke Alternative zur SPÖ schwächelt. Zwar erzielte die KPÖ bei den Nationalratswahlen mit 2,4 Prozent das beste bundesweite Wahlergebnis seit den 60er Jahren, aber die zum Einzug ins Parlament nötigen 4 Prozent wurden damit deutlich verfehlt, und es scheint fraglich, ob es ohne die mit enormer zusätzlicher medialer Präsenz einhergehende Parlamentsfraktion gelingen wird, das Momentum aufrechtzuerhalten, das mit der Grazer Wahl Elke Kahrs zur einzigen kommunistischen Bürgermeisterin einer westeuropäischen Großstadt 2021 begann und sich mit dem spektakulären Abschneiden der KPÖ bei den Salzburger Landtagswahlen 2023 fortgesetzt hatte. Bei den steirischen Landtagswahlen im September schließlich musste die KPÖ sogar einen herben Rückschlag einstecken: Nur noch 4,47 Prozent der Stimmen gegenüber 6 Prozent im Jahr 2019 – die Steiermark insgesamt ist leider nicht Graz geworden.
Die Befürchtungen, die ich letztes Jahr geäußert hatte, der Babler-Hype könne nennenswerte Teile der österreichischen Linken erneut an die SPÖ binden, dadurch den Aufbau der KPÖ behindern, ohne die SPÖ aber nennenswert nach links ziehen zu können, scheinen sich zu bewahrheiten. Gut möglich, dass die KPÖ heute im Nationalrat säße, wenn der linke Flügel der SPÖ sich rechtzeitig in Richtung KPÖ umorientiert hätte statt auf ein Wunder durch Babler zu hoffen.
Der Fall Babler zeigt exemplarisch das Dilemma auf, in das der sozialdemokratische Reformismus heute geraten ist, wo immer er die technokratisch-neoliberale Wendung sozialdemokratischer Parteien rückgängig zu machen sucht. In der großen Ära des westeuropäischen Reformismus der 1950er bis 70er Jahre, die von Köpfen wie Bruno Kreisky in Österreich und Willy Brandt in Deutschland verkörpert wird, konnten die sozialdemokratischen Großparteien eine sehr ambitionierte Sozialreformpolitik betreiben einerseits aufgrund des stürmischen Wirtschaftsaufschwungs, der dem westeuropäischen Kapital so große und ständig wachsende Profite bescherte, dass es signifikante Lohnsteigerungen und Ausbau des Sozialstaates im Sinne der Wahrung des sozialen Friedens zumindest zähneknirschend hinnehmen konnte. Andererseits besaß die Sozialdemokratie eine so riesige und mit ihrer ganzen Identität fest an die Partei gebundene proletarische Wählerschaft, dass sie regelmäßig Alleinregierungen bilden oder zumindest als Seniorpartner Koalitionen so weit dominieren konnte, ihren bürgerlichen Koalitionspartnern sehr viel abzuverlangen.
Beide Voraussetzungen sind heute nicht mehr gegeben. Die Dauerkrise des westeuropäischen Kapitalismus seit 2008/09 hat zu einer Radikalisierung der politischen Interessenvertretungen des Kapitals geführt, die nicht nur selbst die kleinsten progressiven Sozialreformideen bis aufs Blut bekämpfen, sondern im Gegenteil Abbau des Sozialstaates, Verlängerung der Arbeitszeit und Kürzung der Realeinkommen überall auf die Tagesordnung setzen. Andererseits ist der Zerfall der sozialdemokratischen Parteien so weit fortgeschritten, dass Alleinregierungen gar nicht mehr infrage kommen und selbst Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Parteien oft nur noch als Juniorpartner möglich sind – immer häufiger müssen sich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten durch völlige politische Selbstaufgabe in Koalitionsregierungen mit bürgerlichen Konservativen hineinbetteln, um sich am Koalitionsspiel überhaupt noch beteiligen zu können. Umso mehr, als der rasante Aufstieg des Rechtspopulismus den Konservativen immer häufiger eine für sie eigentlich attraktivere Alternative bietet. Warum sich noch mit den Resten reformistischer Flausen in Teilen der Sozialdemokratie abgeben, wenn man stattdessen auch einfach mit dem neuen Rechtsradikalismus koalieren und eine kompromisslose Interessenvertretung der reaktionärsten Teile des Kapitals gewährleisten kann?
Sozialdemokratische Reformistinnen und Reformisten können nur noch in die Regierung gelangen, indem sie gerade ihr reformistisches Programm völlig über Bord werfen. Man mag sich nicht vorstellen, welche Demütigungen und welche Selbstaufgabe der Babler-SPÖ im Fall einer Koalition als Juniorpartner Karl Nehammers, quasi dem österreichischen Pendant zu Friedrich Merz, bevorstehen würde. Es ist sicher richtig, dass die radikale Linke weder in Deutschland noch in Österreich ein Patentrezept gefunden hat, den Siegeszug der Rechten zu stoppen. Aber das Buhlen um »Respektabilität«, um für die traditionelle bürgerliche Rechte als Koalitionspartner »regierungsfähig« zu werden wie Babler sich alle Mühe gibt - das nun jedenfalls scheint eindeutig nicht dieses Patentrezept zu sein.
Fabian Lehr ist ex-trotzkistischer Blogger und Youtuber.