13. April 2023
Seitdem Andreas Babler seine Kandidatur für den SPÖ-Vorsitz bekanntgab, erlebt die Partei eine regelrechte Beitrittswelle. Bablers erklärtes Ziel? Die SPÖ wieder zu einer linken Arbeiterpartei werden lassen.
Mit Babler als Vorsitzendem könnte die SPÖ eine linke Erneuerung erleben.
Foto: © Andreas BablerErlebt die österreichische Sozialdemokratie gerade ihren Corbyn-Moment? Vielleicht. Nach längerem Niedergang unter Führung der farblosen Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner musste die SPÖ bei den Kärntner Landtagswahlen am 05. März eine schwere Wahlniederlage einstecken.
Kurz darauf wurde überraschend beschlossen, eine Mitgliederbefragung darüber durchzuführen, ob Rendi-Wagner im Amt bleiben soll. Eigentlich sollte mit dieser Mitgliederbefragung eine Entscheidung im schon lange schwelenden Konflikt zwischen Rendi-Wagner und dem burgenländischen Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil herbeigeführt werden.
Aus linker Perspektive war dieser Streit programmatisch eher uninteressant: Denn Rendi-Wagner und Doskozil repräsentieren zwei verschiedene, aber ähnlich deprimierende politische Strömungen innerhalb der SPÖ.
Rendi-Wagner steht für eine neoliberale, technokratische und eigenartig entpolitisierte SPÖ, die als Partei vor allem liberale, urbane, gehobene Mittelschichten ansprechen wollte. Liberale Wirtschaftspolitik und eine völlige Absage an die klassenkämpferischen Traditionen der Partei verbinden sich in dieser von Rendi-Wagner repräsentierten Strömung mit einem oberflächlichen gesellschaftspolitischen Linksliberalismus, was die SPÖ von Grünen und neoliberalen Neos kaum unterscheidbar macht. Dieser politische Ruck nach Rechts geht einher mit der Übernahme einer allglatten Managementsprache, die die SPÖ zunehmend inhaltsleer und beliebig erscheinen lässt.
Hans-Peter Doskozil dagegen repräsentiert denjenigen Flügel innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie, der sich in Reaktion auf die Erfolge der FPÖ an den Rechtspopulismus anbiedert und mit dessen Positionen kokettiert. Im Burgenland führte Doskozil als Landeshauptmann zunächst die von seinem Vorgänger Hans Niessl eingeleitete Koalition mit der FPÖ – und damit das Novum einer sozialdemokratisch-rechtspopulistischen Landesregierung – fort. Ansonsten poltert Doskozil gern mit migrationsfeindlichen Positionen und profiliert sich als Hardliner innerhalb der SPÖ, der für scharfen Grenzschutz und Recht und Ordnung eintritt. Gleichzeitig betont er zumindest rhetorisch deutlich stärker als Rendi-Wagner den Charakter der SPÖ als Arbeiterpartei, setzte im Burgenland kleinere sozialpolitisch-progressive Reformen durch und konnte dadurch in der Parteibasis einige Sympathien gewinnen.
Die Mitgliederbefragung sollte dann darüber entscheiden, welcher dieser beiden Flügel in der SPÖ von nun den Ton angeben möge. Es kam aber ganz anders. Statt dem geplanten Zweikampf zwischen Rendi-Wagner und Doskozil meldeten innerhalb weniger Tage nicht weniger als 73 Bewerberinnen und Bewerber ihre Kandidatur an.
Der große Paukenschlag war die völlig unerwartete Bewerbung von Andreas Babler. Der amtierende Bürgermeister des Wiener Vororts Traiskirchen ist seit Jahren die Stimme des linken Flügels der SPÖ. Babler, gelernter Maschinenschlosser und Fabrikarbeiter, stand in seiner politischen Laufbahn durchweg für konsequenten Antirassismus, linke Wirtschaftspolitik und die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter ein. Der marxistisch sozialisierte Babler aus dem Dunstkreis der in der SPÖ einst einflussreichen Stamokap-Strömung war nach jahrzehntelanger Neoliberalisierung der SPÖ einer der letzten echten Sozialisten in der österreichischen Sozialdemokratie. Für die in der Partei verbliebenen Linken wurde er zu einem Hoffnungsträger.
Als Bürgermeister von Traiskirchen, dem Standort des größten, chronisch überfüllten Erstaufnahmezentrums für Geflüchtete in Österreich, gelangte Babler zu landesweiter Bekanntheit, als er die Unmenschlichkeit der österreichischen Asylpolitik scharf kritisierte und sich demonstrativ mit den in seiner Gemeinde untergebrachten Flüchtlingen solidarisierte, die gegen die oft menschenunwürdigen Bedingungen protestierten.
»Innerhalb von wenigen Tagen sind fast 10.000 neue Mitglieder der SPÖ beigetreten, um rechtzeitig zum Stichtag stimmberechtigt zu sein.«
Bablers im Vergleich zu den SPÖ-Parteibürokraten erfrischend authentisches Auftreten und sein Einsatz für eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik brachten ihm eine enorme Popularität und überwältigende Ergebnisse bei den Kommunalwahlen ein: Rund drei Viertel der Traiskirchner Wählerinnen und Wähler stimmten für Babler und bewiesen, dass der Rechtspopulismus keine Chance hat, wenn es eine integere sozialdemokratische Alternative gibt.
Angesichts dieser spektakulären Erfolge – die neben der sonstigen Misere der SPÖ in Niederösterreich umso mehr hervorstechen – wurde schon seit Jahren gemutmaßt, ob Babler aus der Enge Traiskirchens heraustreten und die Bühne der Bundespolitik betreten würde. Für desillusionierte Linke, die der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt hatten, oder solche, die kurz vorm Austritt standen, war das die große Hoffnung. Mit Babler an der Spitze würden viele der Partei noch einmal eine Chance geben. Und eben das könnte jetzt geschehen.
Bablers völlig überraschende Kandidatur hat in der österreichischen Linken eine Welle der Euphorie ausgelöst. Innerhalb von wenigen Tagen sind fast 10.000 neue Mitglieder der SPÖ beigetreten, um rechtzeitig zum Stichtag stimmberechtigt zu sein. Für eine Partei, die bisher insgesamt 140.000 Mitglieder zählt, ist das ein enormer Zuwachs. Viele unter ihnen sind ehemalige linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die jetzt in die Partei zurückkehren, um Babler zu unterstützen. Die erschrockene Parteibürokratie scheint seinen Sieg für eine so realistische Option zu halten, dass Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch schon einmal präventiv verkündete, das Ergebnis der Mitgliederbefragung müsse nicht unbedingt bindend sein – wofür er einen Sturm der Entrüstung erntete.
In seiner medienwirksam Wahlkampagne setzt Babler nun auf die Themen, mit denen er den gesamten linken Flügel der Sozialdemokratie um sich zu vereinen sucht: die Stärkung der parteiinternen Demokratie, staatliche Eingriffe zur Schließung des Gender Pay Gap sowie hohe Strafen für Unternehmen, die Frauen schlechter bezahlen, eine Energiesicherung, die einen allgemeinen Rechtsanspruch auf Heizung schafft und Energieabschaltung für säumige Haushalte verbietet, eine Kindergrundsicherung und kostenloses Schulessen für alle Kinder aus einkommensschwachen Haushalten, eine massive Erhöhung der staatlichen Mittel für die Altenpflege, Preiskontrollen und Übergewinnsteuern für den Energiemarkt, ein Verbot der Immobilienspekulation und schließlich ein Green New Deal für Österreich, der einen ökologischen Umbau der Wirtschaft und einen Ausbau klimagerechter Infrastruktur mit der Schaffung zahlreicher neuer Jobs verbinden soll. Die Anleihen an die Kampagne von Bernie Sanders sind deutlich.
Was bedeutet das Phänomen Babler nun? Zunächst illustriert es eine Besonderheit der politischen Landschaft Österreichs: Im Gegensatz zu den meisten anderen westlichen Ländern ist die Sozialdemokratie in Österreich immer noch ein wichtiger Bezugs- und Orientierungspunkt der Linken. Denn links der Sozialdemokratie hat sich bislang keine neue breite Linkspartei als Alternative etablieren können.
Das liegt einerseits an der Geschichte der SPÖ, die für Linke wesentlich mehr positive Identifikationsmöglichkeiten bietet als etwa die spätestens seit 1918 trübe Geschichte der SPD in Deutschland. Im Gegensatz zur SPD behielt die SPÖ in der Zwischenkriegszeit mit dem sogenannten Austromarxismus ein dezidiert marxistisches Profil. Die wegweisende Sozial- und avantgardistische Kulturpolitik des von 1918–34 fest in sozialdemokratischer Hand befindlichen Roten Wiens sind bis heute für einen großen Teil der österreichischen Linken eine politische Inspirationsquelle geblieben.
Während die deutsche Sozialdemokratie 1933 vor der faschistischen Machtübertragung kampflos zusammenfiel, leistete die österreichische Sozialdemokratie 1934 nach der Machtübernahme des Austrofaschismus bewaffneten Widerstand; während die deutsche Sozialdemokratie spätestens seit dem Godesberger Programm in den 1950er Jahren auch offiziell dem Marxismus abschwor und für die Integration Deutschlands in die antisowjetische NATO warb, war die Neutralität der zweiten Republik für die österreichische Sozialdemokratie der Nachkriegszeit identitätsstiftend. Auch wirtschafts- und sozialpolitisch behielt die Partei ein zumindest stark linksreformistisches Profil bei, auch über die Ära des sagenhaft verklärten Bruno Kreisky hinaus.
Dementsprechend wurde die SPÖ viel länger als die SPD als die Arbeiterpartei akzeptiert. Nach 1945 hatte sie durchweg eine in Relation zur Einwohnerzahl viel größere Massenbasis und Verankerung in der Bevölkerung. Das ist bis heute so geblieben. Während in Deutschland etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung Mitglied der SPD sind, sind in Österreich knapp 2 Prozent der Bevölkerung in der SPÖ, wenn auch mit in den letzten Jahren stark sinkender Tendenz.
Als in den 1990er Jahren spätestens mit Gerhard Schröder eindeutig besiegelt war, dass die SPD sich von ihren linksreformistischen Traditionen komplett verabschiedet hatte und zu einer neoliberalen Partei geworden war, fiel es der westdeutschen Linken relativ leicht, die SPD fallenzulassen und mit der WASG und anschließend dann der LINKEN eine Alternative zu schaffen. In Österreich gestaltete sich das angesichts dieser breiten gesellschaftlichen Verankerung und der immer noch starken Strahlkraft der Geschichte der SPÖ deutlich schwerer, auch wenn die SPÖ spätestens ab 2008 unter Werner Faymann und Christian Kern eben jenen neoliberalen Kurs einschlug, der in Deutschland in der SPD unter Schröder besiegelt worden war.
Diese Beharrungskraft der österreichischen Sozialdemokratie hat auch eine handfeste materielle Basis: Der riesige sozialdemokratische Parteiapparat mit seiner in Relation zur Einwohnerzahl fünfmal größeren Mitgliederbasis als die SPD und mit seinem verästelten Netzwerk von Vorfeldorganisationen, Thinktanks, Stiftungen, sozialdemokratisch dominierten Unternehmen, Medien und Kultureinrichtungen bietet einer größeren Zahl von Menschen Karrierechancen als der SPD-Apparat. Ein SPÖ-Parteiausweis war, besonders in Wien, jahrzehntelang ein nützliches Instrument, um die eigenen beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten zu befördern – angefangen beim Gewerkschafter, der über die Partei zum Manager eines staatsnahen Betriebs aufsteigen konnte, bis hin zum Intellektuellen, dem dank SPÖ-Parteibuch ein Posten in einem sozialdemokratischen Thinktank oder Kulturinstitut sicher war.
»Alles sieht danach aus, dass die erneuerte KPÖ drauf und dran ist, die politische Kraft links der SPÖ zu werden, die viele österreichische Linke so lange herbeigesehnt haben.«
Die Bildung einer neuen österreichischen Linkspartei wurde auch dadurch erschwert, dass es in Österreich schon eine zweite traditionelle Linkspartei neben der Sozialdemokratie gab: Die kommunistische Partei, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ziemlich stark und einflussreich war, danach zwar in die zweite Reihe des Politbetriebs absank, aber doch deutlich relevanter blieb als die DKP, ihre Schwesterpartei in der BRD. Sicherlich geriet auch die KPÖ mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine schwere Krise, ideologisch wie finanziell. Außerhalb der Steiermark schrumpfte die KPÖ in den 1990er und 2000er Jahren zu einer überalterten Kleinstpartei herunter, die kaum noch junge Leute ansprach, weitgehend als ein kurioses, anachronistisches Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges betrachtet wurde und in Fortsetzung eurokommunistischer Traditionen auch ihr politisches Profil so sehr verwässerte und abschliff, dass die Bundes-KPÖ schließlich kaum noch als überzeugendes Gegenmodell zu SPÖ und Grünen erscheinen konnte.
In den letzten paar Jahren hat die KPÖ aber ein bemerkenswertes Revival erlebt. Bundes-KPÖ und steirische KPÖ, die jahrelang weitgehend getrennte Wege gegangen waren, näherten sich wieder an, was mit einer Anpassung der Bundes-KPÖ an den deutlich linkeren Kurs der deutlich erfolgreicheren steirischen KPÖ einherging. Mit den Jungen Linken, die nicht formell, aber doch de facto zur neuen Jugendorganisation der KPÖ wurden, bekam die Partei eine expandierende neue Jugendorganisation und verzeichnet einen Zustrom von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der so stark ist wie seit langer Zeit nicht mehr.
Die ohnehin recht starke steirische KPÖ erlebte einen neuen Höhenflug und schaffte es, mit Bürgermeisterin Elke Kahr die Stadtregierung der steirischen Landeshauptstadt Graz zu erringen und damit die einzige kommunistische Stadtregierung einer westlichen Großstadt zu bilden – international eine Sensationsnachricht. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die KPÖ wieder in den Nationalrat und mehrere Landtage einziehen, demnächst etwa in den Salzburger Landtag. Alles sieht danach aus, dass die erneuerte KPÖ drauf und dran ist, die politische Kraft links der SPÖ zu werden, die viele österreichische Linke so lange herbeigesehnt haben.
Vor diesem Hintergrund ist klar, dass die SPÖ im Falle eines Sieges Bablers in direkte Konkurrenz mit dieser erneuerten KPÖ treten würde. Dementsprechend müssen österreichische Linke sich bei aller von Bablers Kandidatur ausgelösten Euphorie die Frage stellen, was man für realistischer hält: Setzt man darauf, dass die KPÖ sich auch außerhalb der Steiermark bundesweit als relevante Linkspartei durchsetzen kann oder eher darauf, dass die SPÖ durch einen Sieg Bablers tatsächlich wieder zu einer linken Arbeiterpartei werden könnte. Dabei gilt zu bedenken, dass Babler als Vorsitzender die geballte Macht einer ihm überwiegend feindlich gegenüberstehenden und in den unseligen Traditionen von Faymann, Kern und Rendi-Wagner verankerten Parteibürokratie entgegenschlagen würde. Es ist kaum damit zu rechnen, dass Rendi-Wagner und Co. ihre hochbezahlten Positionen kaum kampflos räumen werden.
Babler könnte also durchaus der österreichische Corbyn oder Sanders werden. Man sollte darüber aber auch nicht vergessen, wie das Projekt Corbyn und Sanders in Großbritannien und den USA endeten: Zigtausende Linke wurden an die Labour Party und die US-Demokraten gebunden – doch sowohl die Kampagnen von Corbyn als auch Sanders scheiterten daran, ihre Parteien auf Dauer nach links zu ziehen.
Fabian Lehr ist ex-trotzkistischer Blogger und Youtuber.