17. Dezember 2023
Angel Wagensteins Leben war dramatisch, sein Werk ist eine Chronik des 20. Jahrhunderts. Nach dem kürzlichen Tod des linken bulgarischen Künstlers im Alter von 100 Jahren warten seine Filme darauf, wieder- und neuentdeckt zu werden.
Filmausschnitt aus »Angel Wagenstein: Art Is a Weapon« (2017).
Als Angel Wagenstein am 29. Juni 2023 starb, waren viele Fragen, die sich bei seiner Geburt am 17. Oktober 1922 gestellt hatten, wieder unbeantwortet. Selbst die nach dem politisch-ökonomischen System, die für viele geklärt schien, als er sich in den 1990er Jahren zum Romancier wandelte, ist angesichts der verflochtenen Vielfachkrise wieder offen.
In Wagensteins Geburtsjahr führte Fridtjof Nansen, Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, den nach ihm benannten Nansen-Pass für staatenlose Flüchtlinge und Migranten ein, die es verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg und seinen revolutionären Eruptionen gab; wenige Tage vor Wagensteins Tod musste der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen bekannt geben, dass es noch nie so viele Fliehende und Schutzsuchende gab. Ein Jahrhundertleben war zu Ende gegangen, aber noch nicht die Epoche der Flüchtlinge. Sich und seinesgleichen nannte Bertolt Brecht in Landschaft des Exils, seinem Ankunftsgedicht in Kalifornien, »Boten des Unglücks«. In ihren Geschichten und Leben sind die überlappenden Krisen und Widersprüche zu erkennen – gestern wie heute. Von einigen erzählte Angel Wagenstein in seinen Filmen und Büchern.
Als Angel Wagenstein auf die Welt kam, waren die Folgen des Großen Krieges allgegenwärtig. Ein »Weltkrieg auf Raten« (Papst Franziskus) tobte, der die Klimakatastrophe verstärkt, als er sie verließ. Die Kunst wird sich auch im 21. Jahrhundert nicht aus den Kämpfen der Epoche heraushalten können. Ob sie eine Waffe wieder werden kann, wie ein Film über Angel Wagenstein heißt, bleibt offen. Sicher ist Wagensteins Werk, was Shakespeare Hamlet in der Rede zu den Schauspielern sagen lässt: eine abstrakte und verkürzte Chronik der Zeit.
»Aber die Zeit legt ihre durchsichtigen Schichten aufeinander«, so reflektiert der Erzähler in Wagensteins Roman Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks, und fährt fort: »Sie zeigt die Ereignisse aus der Nähe oder der Ferne wie ein Fernglas, in das man mal von dieser, mal von jener Seite hineinschaut. So legen sich auch heutige Reflexionen und, wenn man will, sogar heutige Irrtümer auf Dinge, die einem in der Vergangenheit nicht klar gewesen sind.«
Wer diese Schichten von heute aus betrachtet, erkennt, dass die Nachwehen des Ersten Weltkriegs, der in Frankreich oder Belgien immer noch Grande Guerre heißt, sein Leben grundierten. Im alten Europa, das sich in dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George Kennan) selbst zerstört hatte, stand die Frage, was sich ändern musste und sollte. In vielen Ländern gab es kommunistische Aufstände, die in West- und Mitteleuropa blutig scheiterten.
»Meinen Vater habe ich im Gefängnis kennengelernt«, erzählt Angel Wagenstein mir ausgerechnet im Grandhotel Sofia bei unserem ersten Treffen im Jahre 2007. »Er war ein alter Bolschewik – und das bis ans Ende seines Lebens Anfang der 90er Jahre.« Weil der Vater am kommunistischen Septemberaufstand von 1923 beteiligt war, wurde er verhaftet. Angel Wagenstein war vier Jahre alt, als er ihn hinter Gittern besuchen durfte. Nach dem Ende der Haft emigriert die Familie nach Frankreich, da der Vater keine Arbeit in Bulgarien mehr findet. Ab 1927 bietet ihnen Paris nicht viel mehr als Armut, und so sind die Wagensteins erleichtert, als ihnen die Generalamnestie von 1934 eine Rückkehr erlaubt. Doch nicht nach Plowdiw kehren sie zurück, sondern gehen in die Hauptstadt Sofia, die sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant entwickelt hat. Es wohnen bereits rund 300.000 Menschen dort. Allerdings herrscht hier ein faschistisches Regime. »Ich meine ein faschistisches Regime wie in Italien, kein nazistisches wie in Deutschland«, sagt Wagenstein. Seine Lebensfrage war aber gestellt: Braucht die Menschheit eine radikal andere Art des Zusammenlebens?
»Einfach war es für Wagenstein nicht, seine Filme zu drehen.«
Obwohl Wagenstein im geteilten Deutschland an etlichen Filmen beteiligt war, darunter seine besten mit dem Regisseur Konrad Wolf, war er nie deutscher Staatsbürger oder lebte längere Zeit in Deutschland. Der 30. Januar 1933 war – wie für die meisten europäischen Juden – das Schlüsseldatum seines Lebens. Für Europa ist die Machtübergabe an die Nazis in Berlin die entscheidende Wegmarke zur zweiten Selbstzerstörung. Da man nicht zweimal im gleichen Fluss schwimmen kann, da man nicht jenseits der Literatur Geschichte nochmal durchspielen kann, ist es unmöglich zu sagen, was genau geschehen wäre, ohne die Nazidiktatur: Wäre dann Stalins Herrschaft noch zu begrenzen, wäre der zweite große Krieg zu verhindern gewesen? Wahrscheinlich wäre die Shoah nicht geschehen. Hätte dann Oppenheimer oder jemand anderes die Atombombe entwickelt? Wäre eine Welt, aufgeteilt unter zwei Supermächte, mit Stellvertreterkriegen im Globalen Süden, der damals Dritte Welt hieß, möglich gewesen? Alles, worüber Angel Wagenstein schrieb oder Dokumentarfilme drehte, die teilweise auf seinen Erlebnissen beruhten, wäre anders geworden und damit anders zu erzählen gewesen.
Nachdem Bulgarien sich im März 1941 auf die Seite der Achsenmächte Deutschland und Italien gestellt hatte, ging Angel Wagenstein, der schon seit seinem sechzehnten Lebensjahr Mitglied einer illegalen kommunistischen Jugendorganisation war, zu den Partisanen. Heldenhaft sahen die meisten Kämpfenden nicht aus, teilweise mussten sie sogar barfuß gehen, aber tollkühne Aktionen unternahmen sie bis zu einem Bankraub. Unter abenteuerlichen Umständen steckten sie das große Pelzlager im Zentrum von Sofia an, das die Sechste Armee der Wehrmacht in der Winterschlacht in Stalingrad mit wärmenden Jacken versorgen sollte. Nach solchen Aktionen zog sich Jackie, so sein später zu klärender Spitzname, zurück ins bulgarische Mazedonien.
Bei den Dreharbeiten des dokumentarischen Porträts Art is a Weapon erzählte Jackie der Regisseurin Andrea Simon, dass er beim Pelzlagercoup als Brandbeschleuniger Zelluloid-Filme für private Kameras verwendete, die leicht zu beschaffen waren und keinen Verdacht erregten. Einige seiner Genossen wurden erschossen, ihm selbst gelang die Flucht, auch wenn er erkannt wurde. Ein Fahndungsbild führte zu seiner Denunziation und Verhaftung. Ein Todesurteil war ihm gewiss als Partisan, Kommunist und Jude.
Alliierte Bomben fielen aus den Schächten der Fliegerstaffeln, Sofia brannte, Menschen flohen, starben. Im Chaos des Untergangs versank die Stadt. Wachmannschaften evakuierten Gefangene eilig nach Sliwen. Im Durcheinander verschob sich der Prozess; als dann am 9. Mai 1944 das Todesurteil gefällt wurde, war die sowjetische Armee ante portas, die deutsche Wehrmacht zog sich zurück. Nach langen Tagen und Nächten in einer isolierten, verdunkelten Todeszelle konnte Angel Wagenstein fliehen, weil keiner mehr das Urteil vollstrecken wollte.
Hoffnungsvoll nach seinem unwahrscheinlichen Überleben, weil die Zeit des Faschismus, der Besatzung und der Shoah vorbei war und man eine neue Gesellschaft errichten könnte, ging er zum Filmstudium nach Moskau – für ihn eine Zeit des Aufbruchs.
Schon im 19. Jahrhundert lernten die Bilder, sich zu bewegen. Im Jahre 1895 verließen in einem Kurzfilm Arbeiter eine Fabrik, eine Reise zum Mond zeigte 1902 ein Streifen. Seitdem bewegt sich das Kino zwischen Dokument und Fantastik. Es ist die neue Erzählkunst des 20. Jahrhunderts.
Angel Wagensteins Spitzname »Jackie«, den er schon als Kind erhielt und bis ans Lebensende behielt, deutet schon auf seine Filmbegeisterung hin. In Begleitung seiner Tanten sah er mehrfach Chaplins legendären Stummfilm The Kid (1921) und diese verglichen ihn scherzhaft mit dem kleinen Bösewicht Jackie Coogan, der Fensterscheiben einschoss, damit der befreundete Glaser die zersplitterten ersetzen konnte.
Auf der Filmakademie in Moskau lernte er nicht nur sein Handwerk, das ihn befähigte, als Drehbuchautor und Dokumentarfilmregisseur über fünfzig Spiel- und Dokumentarfilme zu verwirklichen – in Bulgarien und der Sowjetunion, in der DDR und der BRD, in Griechenland und Vietnam –, sondern er lernte auch seinen wohl nächsten Freund kennen: Konrad Wolf.
Beide hatten mit der Waffe in der Hand gekämpft; der Exilant Konrad Wolf in der sowjetischen Armee und Angel Wagenstein als Partisan. Bis ins hohe Alter hatte »Jackie« seine ehemalige, noch funktionstüchtige Waffe in seiner Wohnung. Beide kamen aus kommunistischen Haushalten, beide sahen, wie die schweren Lawinen des Stalinismus die helle, lichte Zukunft immer wieder unter sich begruben.
Zunächst bestimmten die Folgen des Nationalsozialismus und die Shoah, die damals noch nicht so in der Erinnerungskultur verankert war wie heute, seine Geschichten, zwischen Erlebtem und Literaturadaptionen, ob in der DDR mit Joachim Hasler oder in der BRD mit Wolfgang Staudte. Vieles begann in den 1950er Jahren, als ihn die DEFA nach einer Filmidee fragte. In wenigen Tagen schrieb er eine Geschichte auf, die auf Erlebtem und Beobachtetem beruhte und zunächst begeistert aufgenommen wurde, aber dann wollte Kurt Maetzig, Mitbegründer und Vorstandsmitglied der einzigen ostdeutschen Filmproduktion DEFA, die Regie nicht mehr übernehmen. Der Filmemacher, dessen jüdische Mutter während der Nazidiktatur Selbstmord begannen hatte, hatte angeblich die Nase voll von jüdischen Geschichten.
Es wurde die Stunde des Konrad Wolfs: Sterne war eine Sensation bei den Filmfestspielen in Cannes 1959. Es ist die Geschichte einer unerfüllten Liebe zwischen einem Walter genannten deutschen Militärangehörigen und der Jüdin Ruth. Sie begegnen sich in einer kleinen bulgarischen Stadt, wo der Zug mit griechischen Juden 1943 auf dem Weg in die Gaskammern von Auschwitz drei Tage warten muss. Dort bittet Ruth den Walter genannten um Hilfe für eine gebärende Mitgefangene. Er hilft so gut er kann, und beide verlieben sich ineinander. Das bewirkt die allmähliche Wandlung des ehemaligen Kunststudenten, den seine Kameraden Rembrandt nennen, wo das immer wieder thematisierte Verhältnis zwischen Kunst und Macht aufscheint.
»Die Frage der Gewalt in der Geschichte, die seine Filme und seine Literatur durchzieht, beruhte auf realen Erlebnissen und Erfahrungen vom ersten Besuch des Vaters im Gefängnis über Angels Kampf als junger Partisan bis zu den Guerillatruppen, die er als Dokumentarist besuchte.«
Er gerät in Konflikt mit seinem befreundeten Vorgesetzten Kurt, der brutal soldatische Pflichterfüllung fordert, und Wünschen, er solle den im Wehrmachtstützpunkt arbeitenden bulgarischen Widerstandskämpfern helfen. Beides kann er nicht, er will nur Ruth retten. Als er ihren Abtransport nicht verhindern kann, ändert Walter seine Haltung und gibt dem Widerstand Waffen. Ein Sprecher, der offensichtlich wie »Jackie« ein Partisan ist, sagt im Film: »Für uns alle war er eben einfach der ›Herr Unteroffizier‹. Niemand hat seinen Namen erfahren. Daher haben wir ihn Walter genannt…« Die Geschichte dieser Wandlung erzählt der Film, allerdings gehören die letzten Bilder der im Zug in die Vernichtungslager gefangenen Ruth. Ein jüdisches Lied erklingt: »Es brennt! Es brennt, mein Haus, hilf! Steh nicht mit gekreuzten Armen – lösch es mit deinem Blut, sonst entflammt es deines!«
Der Film bekam den Spezialpreis der Jury und wurde in 72 Ländern verkauft. Nicht aufgeführt werden konnte er zunächst in Israel, weil man die Wandlung eines positiv gezeichneten Wehrmachtsangehörigen nicht zeigen wollte, und in den arabischen Ländern, in denen das Leid der Juden nicht auf die Kinoleinwand kommen sollte. Verdeckt doch für viele Araber der Holocaust die Vertreibung der Palästinenser. Mittlerweile ist Sterne einer der klassischen Filme über den Mord an den europäischen Juden.
Es sollten weitere Filme für die DEFA folgen, wie der Science-Fiction-Film Eolomea mit Herrmann Zschoche oder mit Konrad Wolf die doppelbödige Feuchtwanger-Verfilmung Goya oder der arge Weg der Erkenntnis. In Bulgarien entwickelte Wagenstein sich zu einer Gründungsgestalt der bulgarischen Filmkunst.
Als im Oktober 2015 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin die Kriegstagebücher Konrad Wolfs vorgestellt wurden, sprach auch Angel Wagenstein über seinen Freund, den er immer Konrad Friedrichowitsch nannte, Vorname und Vatersname nach russischer Art. Der frühe Tod im Jahr 1982 bewahrte ihn vor dem argen Weg der Erkenntnis, den Wagenstein zu Ende gegangen war. Einmal war es zu einem Streit gekommen, als der Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf (deshalb Friedrichowitsch) von einem Kommunisten erzählte, der trotz jahrelanger Gulag-Haft das Zwangsarbeitslager mit der Herrschaft der Kriminellen als glühender Kommunist verlassen habe. »Konrad Friedrichowitsch sagte, das sei doch wahrlich ein ganz großer Charakter – ich erwiderte ihm, das sei doch wahrlich ein ganz großer Idiot.«
In ihrem starken Goya-Film aus dem Jahr 1971, der historisch konkret die Geschichte des spanischen Hofmalers, der als Jahrhundertkünstler im französischen Exil starb, szenisch, darstellerisch, bildlich groß erzählt, arbeiteten sie sich auch am Stalinismus ab, obwohl der Film vielschichtiger ist und heute aktuelle Sichten erlaubt. Der Horror der Ideologien wird gespiegelt im Horror der Inquisition. Eine Szene ähnlich wie im Film, wo der von Rolf Hoppe gespielte König zögert, wie er das Gemälde der königlichen Familie beurteilen soll, bis seine Frau die Peinlichkeit mit perlendem Lob auflöst, ereignet sich nach der Vorführung vor Funktionären in Leningrad. Wladimir Baskakow, ein mächtiger Sowjet-Filmfunktionär, der erst 1986 mit dem Beginn der Perestroika entmachtet wird, schweigt. »Gefühlte fünf Minuten«, erinnert sich Angel Wagenstein. »Dann schlug er vor, in einem georgischen Restaurant zu speisen. Schließlich wollte er, dass Konrad Wolf den Film ändere. ›Wir haben schon solchen Ärger mit Solschenizyn, und jetzt das‹, redete er auf ihn ein.«
Konrad Wolf verfügte damals schon über genügend Reputation und Kontakte, um sich durchzusetzen. Beim Film Sonnensucher von 1958 war ihm das nicht gelungen. Von heute aus gesehen zeigt sich dazwischen eine Zeitenwende. Die indirekte, in einen historischen Stoff verlegte Kritik war in den 1970er Jahren noch möglich, doch sie verlor an politisch-ästhetischer Kraft. Die wahre Gefahr erblickte das Regime in der dokumentarischen Prosa Solschenizyns. Beide, Konrad Wolf wie Angel Wagenstein, spürten das und wollten im »Troika«-Projekt, einer autobiografisch grundierten Auseinandersetzung mit der tragisch-tödlichen Geschichte des Kommunismus, direkter vorgehen. Ob es hätte gelingen können, muss offenbleiben – Wolf erlag bereits 1982 einem Krebsleiden.
Bevor Angel Wagenstein als Romancier neue Wege beschritt, suchte er als Dokumentarfilmer den direkteren Zugriff auf eine sich rasant wandelnden Welt. Er drehte in Vietnam und Nicaragua, wo es damals Kämpfe zwischen Entkolonisierung und Stellvertreterkrieg gab und wo bis heute deshalb ein Misstrauen gegenüber dem »Westen« vorhanden ist.
Einfach war es für Wagenstein nicht, seine Filme zu drehen. Wegen seiner 1973 in der ARD ausgestrahlten Kriegsreportage Eine Patrone und drei Körner Reis protestiert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Wie könne es sein, dass ein bulgarischer Kommunist für das westdeutsche Fernsehen aus Nordvietnam berichte? »Tatsächlich«, so schelmisch lächelnd Angel Wagenstein, »half mir dabei meine Vergangenheit. Erst als ich den Hauptleuten des Vietcongs meine Partisanenvergangenheit erzählte, durfte ich ihre Guerillataktik filmisch dokumentieren.«
»Immer wieder endete die Geschichte in Flucht und Vertreibung, Gefängnis und Hinrichtungen. Die Revolution fraß oder entließ ihre Kinder. Das Jahrhundert internierte sie – immer wieder.«
Die Frage der Gewalt in der Geschichte, die seine Filme und seine Literatur durchzieht, beruhte auf realen Erlebnissen und Erfahrungen vom ersten Besuch des Vaters im Gefängnis über Angels Kampf als junger Partisan bis zu den Guerillatruppen, die er als Dokumentarist besuchte. Wenn ich heute über seine Kunst nachdenke, glaube ich, wenn sie auf der Höhe blieb und heute deshalb noch Bestand hat, war sie nie Waffe. Er machte kaum politische Kunst, aber er agierte politisch – in der Kunst wie im Leben. Nur bei Letztem direkt – in Wort und Tat.
Beim Aufbruch des Jahres 1989, der zum Um- und Abbruch sich wandelte, war Angel Wagenstein aktiv beteiligt. Seine Wohnung in Sofia war Organisationsbüro für die große Demonstration vom 18. November, die das Ende des bulgarischen Staatssozialismus einleitete. Voller Pathos und mit tiefer Überzeugung spricht er vor einer großen Menschenmenge den Satz, der seine weltumspannende Sicht mit historischer Tiefenschärfe zeigt: »Vom blutbefleckten Platz des himmlischen Friedens in Peking bis zum Platz des niedergeschlagenen Prager Frühlings, dem Wenzelsplatz, von der großen Chinesischen Mauer über die alten Mauern des Kremls bis zur eingestürzten Mauer der Schande in Berlin bahnt sich ein Befreiungsprozess wie ein Eisbrecher seinen Weg durch das zugefrorene Meer des Lügensozialismus und schiebt Generalsekretäre und Parteimarionetten gleichermaßen beiseite.«
Der Durchbruch zu einem demokratischen Sozialismus misslang – in Bulgarien wie anderswo. In ihrem großen Buch über Konrad Wolf stellen Antje Vollmer und Hans-Eckardt Wenzel Fragen zu anderen möglichen Verläufen. Ein Schlüsseldatum wie den 30. Januar 1933 gibt es diesmal nicht.
»Was wäre gewesen, wenn der Spanische Bürgerkrieg mit dem Sieg der Republik geendet hätte? Was, wenn der Prager Frühling nicht unter den Panzern der Bruderstaaten zermalmt worden wäre?« Als andere Wegmarken nennen sie eine nicht erfolgte US-amerikanische Strategie, bei der es eine Zusammenarbeit zwischen Robert Kennedy und Martin Luther King gegeben hätte. Oder das Beispiel Chile. Oder wenn die Entspannungspolitik der 1970er Jahre zur Geburt einer gemeinsamen Weltordnung geführt hätte, die schwere Konflikte wie die polnische Solidarność an Runden Tischen löst.
Immer wieder endete die Geschichte in Flucht und Vertreibung, Gefängnis und Hinrichtungen. Die Revolution fraß oder entließ ihre Kinder. Das Jahrhundert internierte sie – immer wieder. Vertane Chancen, verratene Vermächtnisse. Wie im Westen, so sollte es in den 1990ern im Osten werden. Das Ende der Geschichte blieb aber aus.
Die beiden großen Kinos in »Jackis« Geburtsstadt Plowdiw, mit ihrem Amphitheater und den Häusern der bulgarischen Wiedergeburt des 19. Jahrhunderts, schlossen in den 1990er Jahren und mutierten in der sozial gespaltenen Gesellschaft zu Edelwarenhäusern. Als ich für eine Reportage über den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 seine Geburtsstadt besuchte, sah ich junge Menschen, die Geschäfte in den ehemaligen Kinos wie Museen besuchen. Die meisten trugen Billigvarianten der Markenartikel, die sie hier beäugten und befühlten. Die bulgarische Filmproduktion brach in den 1990er Jahren drastisch zusammen und die Kunst, die Angel Wagenstein machte, wie seine politischen Ansichten waren verpönt. Die Gespenster der Vergangenheit waren und sind nicht gebannt, ja es ging so weit, dass er in einer auflagenstarken Zeitung zu seinem 95. Geburtstag als jüdischer Terrorist mit krummer Nase erscheint, der Kindern Handgranaten gibt: »Nehmt, das sind Bonbons!«
Als Romancier zog er seine Lebens- und Epochenbilanz, die bei aller tragischen Verflechtungen, bitteren Erfahrungen leicht und witzig blieb. So erlebte ich ihn mehrmals, wie er über die neue Zeit sarkastisch Witze erzählte. Er war nicht nur ein großer Autor, sondern auch ein beeindruckender Lebenskünstler.
»Einer der neuen Mafiosi kommt nach Sizilien«, hebt Angel Wagenstein in einem Wein- und Biergarten in Sofia an. »Mit einer Luxuslimousine wird er zu einer zweistöckigen Villa gefahren, wo ihn der oberste italienische Mafioso empfängt: ›Habt ihr im Osten wirklich eine richtige Mafia.‹ – ›Ich denke schon.‹ – ›Hat jeder von euch fünf solcher Luxuslimousinen wie die, mit der ich dich herkommen ließ.‹ – ›Nein.‹ – ›Ach, so. Und eine Villa wie diese hier?‹ – ›Nein.‹ Und der Obermafioso griff an seine Brust: ›Und tragt ihr solche Ketten aus purem Gold.‹ – ›Nein.‹ – ›Na ja, das kann ja noch kommen.‹ Zurück in der Heimat, brüllt der neue Mafioso seine Untergebenen an: ›Keiner hat ab sofort mehr als fünf Luxuslimousinen, von euren Villen sprengt ihr die obersten Etagen weg, und du da nimmst deinem Hund die Goldkette ab und hängst sie dir um den Hals!‹«
Als der Schaschlik kommt, trabt ein Hund heran und schaut auf das frisch dampfende Fleisch. Sein heißes Hecheln lässt die Härchen am Unterarm zittern, seine Augen blicken mich braun-traurig an, bis ich ihm ein Stückchen hinwerfe. »So kommen wir in die EU«, kommentiert lachend Angel Wagenstein, »wie der Hund kriegen wir immer nur einen Brocken hingeschmissen.«
Abraham le Poivrot heißt sein zweiter ins Französische, aber bislang nicht ins Deutsche oder Englische übersetzter Roman. Erzählt wird historisch weit ausholend von einer Familie Plowdiwer Juden – Vorbilder nahm er aus seiner Familiengeschichte. Als die sephardischen Juden Ende des 15. Jahrhunderts nach dem Untergang des Maurischen Reiches aus Spanien vertrieben wurden, suchten sie eine neue Heimat in Ländern, in denen man sie tolerierte. Eines davon war die alte Türkei, das Reich der Osmanen, das sich über den gesamten Balkan erstreckte. So tauchten im 16. Jahrhundert verbannte spanische, sephardische Juden in den wichtigsten Handelszentren des Balkans auf, also auch in Plowdiw.
»Er war nicht nur ein großer Autor, sondern auch ein beeindruckender Lebenskünstler.«
Ein später Nachkomme der Verfolgten und Vertriebenen ist Angel Wagenstein, ebenso der deutlich jüngere, mit ihm befreundete türkische Erzähler Mario Levi. Nicht nur im Film Sterne hört man Lieder in Ladino, also Judäo-Spanisch, die zum Teil 500 Jahre alte Wurzeln haben, lange nur oral tradiert wurden und sich dadurch wahrscheinlich undokumentiert wandelten. Angel Wagenstein konnte sie ergriffen und beseelt singen, was ich erlebte, und was jeder im Film Art is a Weapon von Andrea Simon hören kann. Viele dieser Lieder verkörpern Niederlage und Wiederaufstehen.
In seinem ersten, auch auf Deutsch, Französisch oder Englisch vorliegenden Roman Pentateuch oder Die fünf Bücher Isaaks (1999) erscheint die Tragödie der Hauptfigur, die zwei Weltkriege und drei Konzentrationslager überleben sowie den Verlust von fünf Heimatländern erleiden muss, als hintergründiger Schelmenroman. So heißt es denn in der Vorbemerkung: »Der Autor dankt herzlich allen bekannten Verfassern, Sammlern und Herausgebern von jüdischen Witzen und Schnurren, durch die mein Volk das Lachen in den tragischen Augenblicken seines Daseins zu einem schützenden Harnisch, einer Quelle der Courage und des Selbstwertgefühls gemacht hat!«
Wagensteins Figuren sind wie Bäume, die sich im Sturm der Geschichte beugen und wenden, versehrt werden, aber meist nicht brechen. Schelmisch, zuweilen hart, kämpfen sie mit allen Mitteln ums Überleben. Da wandeln sich Rabbiner zu Vorsitzenden von Atheistenklubs, oder es freuen sich Nachbarn aus dem Schtetl, die den Gaskammern entronnen sind, über ein Wiedersehen in der kasachischen Steppe, wo der eine als »politischer Häftling« in einen anderen Gulag kommt als der andere, der als »Kriegsverbrecher« Zwangsarbeit leisten muss. Oder es gibt Alte, die in ihrer Jugend fanatisch Nationalflaggen schwenkten und den Zerfall des Habsburgerreiches herbeisehnten und schließlich nostalgisch bei Kaffee und Kuchen in Wien sitzen und über die gute alte Zeit jammern, die leider nicht wiederkommen will.
Hier findet man auch die ungemein dichte Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, die Wagenstein mit Konrad Wolf gestalten wollte, aber nicht konnte – bis hin zur Auslieferung von in die Sowjetunion geflohenen Kommunisten nach Deutschland in den Zeiten des Molotow-Ribbentrop-Paktes.
Gleichzeitig wird der Generalbass der Judenverfolgung deutlich, die auch im dritten Roman Leb wohl, Shanghai zentral ist. Er erzählt von europäischer Juden, die vor den Nazis ins ferne, von Japanern besetzte Schanghai fliehen und sich in den Widersprüchen einer neuen Welt verstricken. Mit dem Blick des Drehbuchautors aufs Wesentliche schreibt Wagenstein rasant, aber nicht hektisch, ganz durchdrungen von seinem Stoff. Geschickt weiß er in seinen Erzählungen das reale Geschehen ins Paradoxe überzuführen, so etwa, wenn ein wohlhabendes, tief in der deutschen Kultur verwurzeltes jüdisches Musikerehepaar aus Dresden nach der geglückten Flucht nach China in bitterer Armut versinkt. Dabei gilt in den Kreisen der reichen Bagdad-Juden von Schanghai Deutsch weiterhin als »Symbol für einen besonders hohen gesellschaftlichen und kulturellen Status«. Einige machen – hier zeigt sich die Unbestechlichkeit des großen Erzählers – sogar mit den Nazis profitable Geschäfte.
Angel Wagensteins geschichtlich wie räumlich weit ausgreifende Romane und Filme erzählen von einem blutigen und zugleich hoffnungsvollen 20. Jahrhundert in all seinen Paradoxien, anschaulich, berührend und gedankenvoll. Dabei weiß der Autor die Schwere des Stoffes immer wieder mit schelmischen Anekdoten aufzulockern. »Wir Bulgaren waren immer gute Schmuggler«, sagte Wagenstein öfters. »Meine Geschichten – ob im Roman oder im Film – sind immer Koffer mit doppeltem Boden.«
»Ich erlebte viele gesellschaftliche Ordnungen«, antwortete Angel Wagenstein, als ich ihn einmal nach seiner zentralen Lebenserfahrung fragte. »Jedes Mal wurden sie zerstört – bis fast auf den Grund. Und dann was Neues aufgebaut. Wir dachten mal, dass es aufwärts geht, glaubten an den Fortschritt. Das Gesetz der Geschichte scheint zu sein, dass eine unvollkommene Ordnung aufgebaut wird, um dann zu zerfallen. Dennoch, ich bin und bleibe Sozialist.«
In unserem zerklüfteten Zeitalter nach 1989 ist diese Haltung weder ein Bach noch ein Strom, aber ein kräftig rauschender Nebenfluss: Er wird gebildet von denjenigen, die trotz den Erfahrungen des Sozialismus im 20. Jahrhundert, eine nachkapitalistische Entwicklung für nötig erachteten. Viele davon sind nicht mehr unter uns, wie der planetarische Klassiker Heiner Müller: »Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen. Nekrophilie ist Liebe zur Zukunft. Man muss die Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Dialogstörer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten.« Einer der herausragenden Historiker, Eric Hobsbawm, beendete seine 1994 erschienene Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit einem Ausblick auf das kommende Jahrhundert, in dem er 2012 starb: Die Menschheit könne das dritte Jahrtausend nur mit grundlegend veränderten Gesellschaften erleben. Die Alternative sei – es ist das letzte Wort des monumentalen Buchs – Finsternis.
Weniger alttestamentarisch plädierte etwa Christa Wolf für grundlegenden Wandel. Im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts und seines Lebens überarbeitete Jean Malaquais, der von André Gide lernte und Norman Mailer lehrte, sein schmales, aber gewichtiges Werk, allen voran seinen Jahrhundertroman Planet ohne Visum, der wie Anna Seghers Transit unter Fliehenden in Marseille spielt. Er schliff seine Bücher fein für Veränderer in unserer Zeit. Das Schlimmste an Stalin war im Jahre 1996 für den damals 88-jährigen Autoren, dass er »lange Zeit – vielleicht ein Jahrhundert lang – die Idee einer klassenlosen Gesellschaft diskreditiert hat«.
Und so endet mein Essay wie das Buch über Konrad Wolf von Vollmer und Wenzel, das im Untertitel Chronist im Jahrhundert der Extreme eine Anspielung auf Hobsbawm enthält, mit einer Aussage aus einem späten Interview mit dem 2023 verstorbenen Angel Wagenstein: »Ich glaube, dass der Sozialismus ein Projekt ist, ein menschliches Projekt, das fundamentalste Projekt der Weltzivilisation nach dem Christentum. […] Die Inquisition war der Gulag des Christentums. […] Ich bin kein Prophet in Sachen Sozialismus. Ich weiß nur, dass es keinen anderen Weg für die Menschheit gibt. Es gibt keinen anderen Ausweg.«
Achim Engelberg ist Publizist, Kurator und Herausgeber und Co-Autor der Schriften seines Vaters, des Historikers Ernst Engelberg. Zuletzt erschien von ihm das literarische Sachbuch An den Rändern Europas (DVA, 2021).