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13. September 2025

Die Arbeitszeitdebatte ist verlogen

Konservative fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit. Dabei geht es nicht darum, mehr Wohlstand zu schaffen, sondern dessen ungleiche Verteilung aufrechtzuerhalten.

Agitieren gegen die Work-Life-Balance: CDU-Generalsekretär Linnemann und CDU-Kanzler Merz.

Agitieren gegen die Work-Life-Balance: CDU-Generalsekretär Linnemann und CDU-Kanzler Merz.

IMAGO / photothek

In Deutschland wird zu wenig gearbeitet. Das finden die Vertreter von Arbeitgebern und Kapital. Die Zahlen scheinen ihnen recht zu geben: Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit ist auf etwa 36 Stunden gesunken, der Krankenstand ist so hoch wie nie. Für die besagten Akteure ist klar: Der deutsche Wohlstand ist in Gefahr. »Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können«, sagte Friedrich Merz bereits im Mai.

Bundeskanzler, Arbeitgebervertreter, CDU- und AfD-Politiker und sogar Teile der SPD überbieten sich indes mit immer absurderen Forderungen nach einer Ausweitung der Arbeitszeit. Sie wollen Rentnerinnen und Rentnern den »Wiedereinstieg in die Arbeit erleichtern«, Bürgergeldempfangenden durch härtere Sanktionen Jobs aufdrängen oder am 8-Stunden-Tag sägen. Für »Verteidigung und Infrastruktur« sollte sogar ein Feiertag gestrichen werden, findet ifo-Präsident Clemens Fuest – was de facto einer Lohnstreichung durch die Hintertür gleichkäme. Und Allianz-CEO Oliver Bäte überbot ihn sogar noch, indem er forderte, die Lohnfortzahlung bei Krankenstand am ersten Tag auszusetzen, »um Arbeitgeber zu entlasten«.

Dass es momentan kaum Wohlstandsgewinne gibt, weil die Menschen es mit der Work-Life-Balance übertrieben haben, hält im Übrigen der Realität kaum stand. Bereits 2024 hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass die in Deutschland geleistete Gesamtarbeitszeit auf einem historischen Hoch ist. Zudem belegen zahlreiche Studien, dass »mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance« die Produktivität von Angestellten sogar gesteigert wird. Und schließlich ist der Anstieg von psychischen Erkrankungen wie Burnout einer der Hauptgründe für den hohen Krankenstand in Deutschland (neben der Zunahme von Atemwegserkrankungen nach der Corona-Pandemie). Das legt die Vermutung nahe, dass es Einpeitschern wie Merz gar nicht um die »Sicherung des Wohlstandes in unserem Land« geht – zumindest nicht im rein ökonomischen Sinne der Gesamtsumme an produzierten Werten.

Der Werwolfsheißhunger des Kapitals

Doch warum ist es Merz und Konsorten ein solches moralisches Anliegen, uns vermeintlich arbeitsscheues Gesindel zu mehr Arbeit zu ermuntern? Ein Hinweis darauf findet sich bereits im Kapital. Dort schrieb Karl Marx, dass die Länge des Arbeitstages einer der ersten Kampfplätze der Arbeiterbewegung war. Arbeit produziert Waren, die der Kapitalist zu Geld machen kann. Gleichzeitig sind die Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft als Ware zu verkaufen, weil sie keine anderen Waren besitzen. Der Wert der Ware Arbeitskraft definiert sich, wie bei jeder Ware, durch die Summe der zu ihrer Produktion notwendigen anderen Waren. Also im Falle der Arbeitskraft Lebensmittel, Miete, Energie und so weiter. Gleichzeitig ist die Arbeitskraft die einzige Ware, die in ihrem Verbrauch mehr Wert erzeugt, als sie selbst wert ist, weil ein Arbeiter während eines Arbeitstages mehr Wert produzieren kann, als seine Wiederherstellung für den nächsten kostet.

Marx nennt die Zeit, die für die Produktion des Gegenwertes der für den Arbeiter lebensnotwendigen Güter nötig ist, notwendige Arbeitszeit. Alles, was darüber hinausgeht, ist Mehrarbeit. Desto länger also der Arbeitstag ist, desto höher ist der Anteil an geleisteter Mehrarbeit, die der Kapitalist als Gewinn einstreichen kann. Aus diesem Verhältnis erklärt Marx den »Werwolfsheißhunger« des Kapitals auf Arbeitskraft.

»Wer besitzt den Wohlstand, für dessen Erhalt wir so dringend wieder mehr arbeiten sollen? 60 Prozent des deutschen Nettovermögens fällt auf 10 Prozent der Haushalte.« 

Aber dieses Verhältnis führt auch dazu, dass die Arbeitenden selbst auf ihre Arbeitskraft reduziert werden. Für das Kapital zählen sie nur, insofern sie Arbeit leisten, also Wert produzieren können. Ein Arbeiter, der nicht arbeitet, ist dem Kapitalisten ein Skandal. Bereits 1883 agitierte daher Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue gegen die sozialdemokratische Forderung eines »Rechts auf Arbeit«: »Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Karikatur der christlichen Moral, belegt das das Fleisch des Arbeiters mit einem Bann; Ihr ideal ist es, den Produzenten auf ein absolutes Minimum an Bedürfnissen zu reduzieren, seine Vergnügungen und seine Leidenschaften zu unterdrücken und ihm zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, die ohne Rast und Dank Arbeit ausführt.«

Doch warum entdecken Merz und Konsorten gerade jetzt die puritanische Arbeitsmoral für sich? Das liegt zum einen an der historischen Situation nach der Pandemie: Der Fachkräftemangel nach den Massenentlassungen während Corona hat dazu geführt, dass Arbeitnehmer zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten in der Situation sind, über relative Autonomie bei der Jobwahl zu verfügen und also in der Lage sind, Forderungen an einen möglichen Arbeitsplatz zu stellen. Das stellt für die Arbeitgeber ein Problem dar, insofern es die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern stärkt. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass die Versprechen der kapitalistischen Gesellschaft, jeder könne sein Glück machen, wenn er nur hart genug arbeite, spätestens seit der Finanzkrise ad absurdum geführt wurde. Das Framing, die Jungen haben einfach »keinen Bock« zu arbeiten, also muss man ihnen halt Bock machen, funktioniert eben besser als zu fragen, warum die Jungen »keinen Bock« haben.

Die Gründe hierfür sind indes vielfältig: Der Fachkräftemangel grassiert vor allem in Branchen, in denen die Arbeitsbedingungen hart und die Löhne knapp sind, also auf dem Bau, in der Gastronomie, im Gesundheitswesen oder dem Handwerk. Grundsätzlich stellt sich aber auch die entscheidende Frage, für wen sich die Arbeit, auf die hier wieder »Bock« gemacht werden soll, eigentlich am meisten lohnt? Wer besitzt den Wohlstand, für dessen Erhalt wir so dringend wieder mehr arbeiten sollen? 60 Prozent des deutschen Nettovermögens fällt auf 10 Prozent der Haushalte. Die meisten Arbeitnehmer in Deutschland, insbesondere wenn sie eben nach der Finanzkrise 2008 ins Arbeitsleben gestartet sind, werden sich dagegen von ihrem Einkommen niemals eine Wohnimmobilie leisten können, geschweige denn eigenes Kapital aufbauen. Zu Recht entsteht also der Eindruck, man arbeite gar nicht für das eigene Wohlergehen, sondern das der Aktionäre, und Spekulanten.

Mehr Zugriffsmacht für das Kapital

Wenn also Arbeitgebervertreter, Bundeskanzler und sonstige politische Vertreter des Großkapitals moralistische Predigten wider die Faulheit halten, dann geht es ihnen nicht nur darum, die allgemeine ausbeutbare Arbeitszeit möglichst hoch zu halten. Es geht auch darum, einen Vorwand zu schaffen, um Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherungen abzubauen. Es geht um eine Diskursverschiebung von Fragen der Wohlstandsverteilung zu einem Diskurs der individuellen Verantwortung, der es erlaubt, Maßnahmen durchzusetzen, die die Autonomie von abhängig Beschäftigten einschränkt und die Zugriffsmacht des Kapitals auf Arbeitskraft erhöht.

Schließlich hatte schon Napoleon davor gewarnt, dass der Müßiggang unter den Arbeitern Gefühle von Stolz und Unabhängigkeit hervorrufen könnte. Das stellt ein Problem für die Kapitalistenklasse dar: Denn selbstbewusste Arbeiter lassen sich schlechter managen oder mit faulen Kompromissen abspeisen. Zudem könnte eine Arbeiterklasse, die sich dessen bewusst ist, dass sie es ist, die den Mehrwert produziert, im schlimmsten Fall anfangen zu fragen, warum es die Bosse und Kapitaleigner, die denselben einstreichen, überhaupt noch braucht? Stolz und Unabhängigkeit müssen also gebrochen werden, soll die kapitalistische Produktion aufrechterhalten werden. Und das soll geschafft werden durch das Schüren von Abstiegs- und Verlustängsten.

Doch auch hier arbeiten die Propagandisten des Arbeitszwanges mit einer Verquickung von ökonomischen und moralischen Argumenten: Angst geschürt wird nicht bloß vor dem ökonomischen Abstieg, der ja für viele durch Lohnstagnation, Reallohn-Verminderung, Inflation und Explosion der Immobilien- und Energiepreise, bereits bittere Realität ist. Es geht vor allem auch um den gesellschaftlichen Abstieg: Es geht darum, Arbeitslose und Arbeitsunfähige als asozial zu brandmarken – und das Problem der explodierenden Lebenshaltungskosten auf ein Problem individueller Verantwortlichkeit zu reduzieren. Nicht zufällig folgte auf die Forderung, es müsse mehr gearbeitet werden, die unerbittliche Hetze gegen »Sozialbetrüger«. Es geht darum, soziale Sicherungsnetze für Arbeitende abzubauen. Denn desto weniger soziale Sicherung sie genießen, desto mehr sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und desto kleinmütiger werden sie gegenüber ihren Arbeitgebern auftreten. Wer gezwungen ist, zu verkaufen, ist eben einfacher zu übervorteilen.

Wenn Merz und Co. also gemahnen, »wir« sollten wieder mehr arbeiten, um »unseren Wohlstand« zu sichern, dann sollte man hier ganz genau hinschauen: Das Perfide an dieser Argumentation liegt nämlich genau darin, dass das »wir«, dass mehr arbeiten soll, gar nicht dasselbe ist, wie das »unser« in »unserem Wohlstand«. Denn ein Großteil des deutschen Wohlstandes gehört Leuten, die ihn geerbt oder geschenkt bekommen haben – also keinen einzigen Tag für denselben gearbeitet haben.

Was hier verschleiert werden soll, ist der Klassencharakter von Merz’ Forderung: Während seine Regierung immer mehr unternehmerfreundliche Maßnahmen verabschiedet, wie die Senkung der Körperschafts- und Energiesteuer oder das Abblocken von Reformen bei Erbschafts- und Vermögenssteuer, hat sie sich gleichzeitig dazu verschworen, die ohnehin schon bittere Lage der abhängig Beschäftigten noch bitterer zu machen. Würde es Merz wirklich darum gehen, Wohlstandsgewinne für die Bevölkerung zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln, wären kräftige Lohnerhöhungen ein gutes Mittel. Sie sorgen am ehesten dafür, dass die Leute »Bock auf Arbeit haben«. Nur geht es Merz gar nicht darum, den Wohlstand in Deutschland zu sichern – es geht ihm darum, seine zutiefst ungleiche Verteilung aufrechtzuerhalten.

Till Hahn ist freier Autor und Philosoph. Er studierte in Frankfurt am Main und Paris. Zuletzt erschienen ist das Buch »Kritische Philosophiegeschichte«, das er zusammen mit Charlotte Szász und Roberto Nigro herausgegeben hat.