05. Oktober 2023
Die Rechtsstaats-Rhetorik in Deutschland und der EU wird immer unglaubwürdiger: Die Abschottungspolitik hindert jetzt schon Geflüchtete daran, ihre Rechte überhaupt in Anspruch zu nehmen. Und neuere Reformvorschläge drohen, sie ganz aufzuheben.
Geflüchtete bei der Ankunft auf Lampedusa im September 2023.
IMAGO / Avalon.redDie Debatte um Asylrecht und noch weiter verschärfte Grenzkontrollen hat mal wieder an Fahrt aufgenommen. Einzelne Kommunen klagen, sie seien mit den Ankommenden überlastet. Während Union und FDP für einen neuen Asylkompromiss, sprich eine Verschärfung des Asylrechts, plädieren, gibt es auch bei SPD und Grünen kein Halten mehr, wenn es darum geht, in die Kerbe der rassistischen Panikmache zu schlagen. Kathrin Göring Eckhardt freut sich zwar über neue Arbeitskräfte, fordert aber konsequentes Abschieben »mit freundlichem Gesicht« und Nancy Faeser verspricht stationäre Grenzkontrollen. All das natürlich unter dem Vorwand, der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Dabei wurden erst im Juni mit der Asylrechtsreform auf EU-Ebene dramatische Einschnitte ins europäische Asylsystem beschlossen. Menschenrechtsorganisationen sprechen gar von einer »Aushebelung des Flüchtlingsschutzes«. Europa und Deutschland scheinen auf dem besten Weg zu sein, unter dem Vorwand, die Demokratie zu verteidigen, ihre Grundfesten und ihre unveräußerlichen Rechte zu untergraben.
Matthias Lehnert, Rechtsanwalt für Aufenthaltsrecht und Mitglied des Vorstands des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, sprach mit Mirco Drewes für JACOBIN über die rechtliche Situation Schutzsuchender, die fehlende Durchsetzung bestehender Rechte und die daraus resultierenden Doppelstandards europäischer Geflüchtetenpolitik.
Wie ist es heute um die rechtliche Situation Schutzsuchender bestellt?
Schlecht. Das Recht auf Schutz und Asyl war schon immer umkämpft, vor allem in Phasen, in denen es sich bewähren musste. Denken wir an die 1990er Jahre, als die Zahl der Schutzsuchenden vor allem wegen des Jugoslawienkrieges stark angestiegen ist – und die deutsche Politik vor den rassistischen Pogromen eingeknickt ist und das Asylrecht aus dem Grundgesetz massiv eingeschränkt hat. Seit 2015 – dem Sommer der Migration – wird das Asylrecht in der politischen Diskussion erneut frontal angegriffen.
Und das zeigt sich auch praktisch: durch zahlreiche Einschränkungen der Verfahrensrechte in Deutschland in den vergangenen Jahren und aktuell durch die Pläne auf europäischer Ebene, Asylverfahren an die Außengrenzen auszulagern. Wir sind derzeit mit einer sehr brisanten Situation konfrontiert: Die politische Rechte wird immer stärker, stellt das Asylrecht komplett infrage, bestimmt und verändert damit auch des gesamtgesellschaftlichen Diskurs – und die anderen Parteien lassen sich davon treiben, anstatt die Menschenverachtung mit einer Politik der Menschenrechte zu bekämpfen.
Erwarten Sie durch die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asysystems (GEAS) eine Verbesserung für die Situation Schutzsuchender?
Nein, das Gegenteil ist der Fall. Der Entwurf der Reform des GEAS stellt eine massive Schlechterstellung des Rechts der Schutzsuchenden dar. Zentral geht es darum, eine Vielzahl von Asylverfahren in Grenzverfahren umzuwandeln und an die Außengrenze auszulagern. Dadurch werden die Rechte von Schutzsuchenden stark eingeschränkt, weil es dort faktisch kaum Zugang zu Rechtsschutz gibt. Diese Auslagerung unter regelmäßig unhaltbaren Bedingungen ist nichts Neues, wir erinnern uns noch an den Brand im griechischen Lager Moria, wodurch die Missstände dort sehr prominent wurden. Wir haben jetzt schon an den Grenzen eine Vielzahl an Konstellationen, in denen Menschen kaum Zugang zu Recht haben, zu Anwältinnen und Anwälten, zu Beratungsstrukturen, zu medizinischer Versorgung. Statt diese unrechtmäßigen Zustände zu bekämpfen, will Europa diese in ein Gesetz gießen.
Auch die verstärkte Nutzung der Drittstaatenregelung, also die Ablehnung von Asylanträgen von Menschen, die aus sogenannten sicheren Drittstaaten kommen, würde zu einer extremen Einschränkung des Rechtes auf Schutz führen.
Was kritisieren Sie an den Migrations-Kooperationen der EU mit Drittstaaten?
Diese Kooperationssystematik, die, schön formuliert, dem Flüchtlingsschutz dienen soll, lagert Migrationsbekämpfung in Drittstaaten aus. Das hat auch eine koloniale Komponente, weil Europa am längeren Hebel sitzt, andere Staaten finanziell oder mit seiner Visapolitik unter Druck setzen kann.
Asylrechtlich sind die Drittstaatenregelungen – also die Ablehnung von Asylanträgen wegen der vermeintlichen Sicherheit in einem Drittstaat – sehr problematisch, weil die Genfer Flüchtlingskonvention als zentrales Dokument der Rechtsgewährleistung für Geflüchtete einen solchen Ausschluss des Flüchtlingsschutzes eigentlich nicht erlaubt.
»Es gibt das Flüchtlingsrecht auf dem Papier, doch es gilt nur für Menschen in Europa. Es gibt kein Recht, über Botschaften einen Schutzantrag zu stellen, es gibt kein Recht auf legale Einreise für Geflüchtete.«
Abgesehen davon führt die konkrete Zusammenarbeit mit Staaten wie der Türkei, Libyen oder Tunesien, in denen es kein funktionierendes Asylsystem gibt und bisweilen die Regierungen offen rassistisch sind, regelmäßig zu unhaltbaren Zuständen für Geflüchtete.
Diese Kooperationen untergraben massiv das individuelle Recht auf Asyl.
Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 gibt als Ziel einer GEAS den »Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände Schutz in der Union suchen« aus.
Das ist ein schönes Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und zu den Rechten Schutzsuchender, das in der Praxis in vielerlei Hinsicht unglaubwürdig ist. Prägend ist leider eine Abschottungspolitik durch Frontex, die nationalen Grenzschutzbehörden und erweiterte Kooperationen der EU mit Drittstaaten. Tatsächlich ist es so: Die besagte Richtlinie von 2011 und das GEAS haben einige Fortschritte mit sich gebracht, auch für das deutsche Recht, zur Frage, wer in Europa als schutzberechtigt anerkannt wird oder nicht. Das Problem ist: Auf das Flüchtlingsrecht kann sich nur berufen, wer europäischen Boden betreten hat.
Es gibt das Flüchtlingsrecht auf dem Papier, doch es gilt nur für Menschen in Europa. Es gibt kein Recht, über Botschaften einen Schutzantrag zu stellen, es gibt kein Recht auf legale Einreise für Geflüchtete. Kein Mensch, der Asyl sucht, kann einfach und legal nach Deutschland kommen. Es ist als Geflüchteter zwingend, dass man unerlaubt einreist. Das Perfide am Flüchtlingsrecht ist, dass es die Brutalität der Flucht bedingt, dass sich nur auf das Recht berufen kann, wer an den massiven Abschottungsmaßnahmen und aggressiven Grenzschutzbehörden vorbeigekommen ist.
Für den europäischen Grenzschutz ist die Agentur Frontex verantwortlich. Wie ist deren Arbeit aus Sicht der Menschenrechte zu bewerten?
Das System Frontex ist in mehrerlei Hinsicht hochproblematisch: Frontex ist eine Institution der Europäischen Union, die zwar an individuelle Menschenrechte gebunden ist, jedoch nur ein Ziel verfolgt: Eine möglichst effektive Sicherung der Außengrenzen – was naturgemäß zu einer Missachtung von Menschenrechten führen muss.
Zudem agiert Frontex sehr unabhängig, sehr intransparent und unkontrolliert. Es gibt keine effektiven Mechanismen, um Menschenrechtsverletzungen zu kontrollieren und gegen diese vorzugehen. Es gab in den letzten Jahren verschiedene Berichte, die nachwiesen, dass Frontex an Pushbacks, rechtswidrigen Zurückweisungen an den Außengrenzen, besonders an der Grenze zu Griechenland, beteiligt ist. Frontex ist eine Agentur, die man als Teil der europäischen Abschottungsmaschinerie bezeichnen muss und die in meinen Augen auch nicht reformierbar ist.
Fehlt es am politischen Willen zur Aufklärung dieser Missstände?
Es gibt wenig bis gar kein Aufklärungsbedürfnis, weder auf der Seite von Frontex noch auf jener der Europäischen Kommission. Es ist politisch gewollt, dass die Agentur intransparent arbeitet und kaum rechenschaftspflichtig ist.
Dass es am Aufklärungswillen fehlt, sieht man auch am laschen Umgang mit den massiven Rechtsverletzungen durch nationale Grenzschutzbehörden, wie den illegalen Pushbacks an der griechischen oder kroatischen Grenze. Das sind Staaten, die dem europäischen Rechtskanon unterliegen und sich schlicht nicht an diesen halten. Die Europäische Kommission als eigentliche Hüterin der Verträge und europäischen Gesetzgebung tut sehr wenig dagegen. Statt Widerstand gegen diese Rechtsbrüche sehen wir eine hegemoniale Politik, die sich mit diesen Verstößen einverstanden erklärt.
Die Durchsetzung der in der Genfer Flüchtlingskonvention, der europäischen Menschenrechtskonvention und im Völkerrecht definierten Rechte Geflüchteter wird äußerst erschwert. Inzwischen werden auch die Menschenrechte als solche infrage gestellt. In der Praxis haben wir es schon lange mit massiven Abschottungs- und Einschränkungstendenzen zu tun, die es Geflüchteten unmöglich machen, sich auf Rechte zu berufen, die Ihnen eigentlich zustehen.
»Es ist immer problematisch, Menschen nach Brauchbarkeit und Verwertbarkeit zu klassifizieren, aber es ist erst recht problematisch, wenn es um Menschen geht, die erzwungen migriert sind, die Schutz suchen vor Krieg und Verfolgung.«
Um es exemplarisch zu machen: Als die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, 2020 nach der Aussetzung des EU-Türkei-Deals nach Griechenland reiste, prangerte sie die faktische Aussetzung des Asylrechts durch die griechischen Behörden und die gravierenden Missstände dort nicht an, sondern dankte Griechenland dafür, dass es der »europäische Schild« sei. Durch solche Aussagen wird klar, dass Europa voll hinter der Politik struktureller Rechtsverletzungen steht.
Was können Institutionen wie das European Center for Constitutionale and Human Rights gegen bestehende Missstände unternehmen?
Das ECCHR ist eine Organisation, die versucht, durch strategische Prozessführung allgemeine Missstände und die strukturelle Missachtung von Recht zu bekämpfen. Dabei unterstützt sie auch und insbesondere Menschen, die an den Außengrenzen der Europäischen Union mit Rechtsverletzungen konfrontiert werden. Eine Prozessführung, die extrem aufwändig, aber sehr wichtig ist, um dem Recht zur Geltung zu verhelfen, wozu der oder die einzelne Geflüchtete nicht allein in der Lage ist.
Welche Rechtsmittel haben Betroffene illegaler Pushbacks?
Wir können viel über Rechtsverletzungen reden und schreiben, das große Problem ist die Rechtsdurchsetzung. Wenn ein Mensch von einem Pushback betroffen ist, hat er theoretisch die Möglichkeit, vor ein Gericht zu gehen. Praktisch befindet sich die Person jedoch nicht auf europäischem Boden und hat daher auch keinen Kontakt zu Anwälten oder Organisationen, die sie unterstützen.
Dazu kommt das Problem, das Vergehen nachzuweisen. Der Richter hat in einem solchen Verfahren keine Akte, kein Protokoll, sondern nur eine Darstellung, die zutreffen könnte, oder auch nicht – und eine Gegendarstellung der staatlichen Behörden. Viele Geflüchtete haben zudem auch ganz andere Sorgen und überhaupt keine Kapazitäten, so einen Weg zu beschreiten.
Die CDU schlägt vor, das individuelle Recht auf Asyl infrage zu stellen und stattdessen mit Aufnahmekontingenten zu arbeiten. Ist das mit EU-Recht vereinbar?
Eindeutig: Nein. Thorsten Frei, der parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, hat in einem Beitrag in der FAZ jüngst argumentiert, dass die brutale Migration einschränkt werden könne, indem stattdessen geordnete und legale Wege zur Aufnahme geschaffen werden. Das hört sich oberflächlich betrachtet sehr human an. Das eine – nämlich das Recht auf Schutz für diejenigen, die hier sind – kann jedoch nicht durch das andere – legale Zugangswege – ersetzt werden: Das Grundrecht auf Schutz, das Recht auf Nichtzurückweisung ist ein fundamentaler und zwingender Grundsatz des Völkerrechts und der Menschenrechte, der nicht abgeschafft werden kann. Aus gutem Grund ist vor dem historischen Hintergrund der NS-Zeit das Zurückweisungsverbot in unterschiedlichen menschenrechtlichen Verträgen verbrieft. Wenn man das individuelle Recht auf Asyl abschaffen will, würde man sich von den seit Jahrzehnten geltenden Prinzipien der Menschenrechte in Europa verabschieden. Dass dies dennoch derart offen diskutiert und gefordert wird, zeigt, an welchem Punkt wir gerade stehen.
Natürlich: Aufnahmekontingente zu schaffen und bestehende Aufnahmeprogramme zu stärken, wäre wesentlich besser, als die Menschen auf die Brutalität des illegalen Weges nach Europa festzulegen. Es sollte viel mehr Aufnahmeprogramme etwa für Menschen aus Afghanistan und aus Syrien geben. Aber das eine ersetzt nicht das andere, weil man die Menschenrechte nicht einfach wegstreichen kann. Außerdem ist diese Idee auch politisch bizarr, mindestens sehr naiv. Rein faktisch ist es so, dass Menschen, die nicht in diese, wie auch immer ausgewählten, Kontingente rutschen, trotzdem versuchen, auf anderem Wege nach Europa zu kommen.
Aufnahmeprogramme dürfen nicht dazu führen, dass sich Europa von den Menschenrechten verabschiedet.
In politischen Diskussionen in Deutschland wird die Asyldebatte häufig mit der um gezielte Einwanderung von Fachkräften verbunden. Ergibt das aus Ihrer Sicht Sinn?
Es gibt zwischen beiden Bereichen Verquickungen und Zusammenhänge, aber dennoch muss man das erst einmal trennen. Wir reden über unterschiedliche Menschen, über unterschiedliche Gründe, einzuwandern, und über unterschiedliche politische Hintergründe. Wenn wir über erzwungene Migration, also Flucht, reden, und die Frage, ob jemandem Schutz zusteht, dann ist es eine Frage der Menschenrechte und des Völkerrechts. An der Stelle hat das Argument der Brauchbarkeit der Menschen für den Arbeitsmarkt überhaupt nichts zu suchen. Es ist immer problematisch, Menschen nach Brauchbarkeit und Verwertbarkeit zu klassifizieren, aber es ist erst recht problematisch, wenn es um Menschen geht, die erzwungen migriert sind, die Schutz suchen vor Krieg und Verfolgung.
In Zukunft ist mit großen Migrationsbewegungen als Folge der Klimakatastrophe zu rechnen. Was erwarten Sie für die Rechte in Europa Schutzsuchender?
Das internationale Flüchtlingsrecht, das zunächst mal vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, hat sich zwar immer wieder neuen Entwicklungen angepasst, und ist hier sehr flexibel. Dennoch: Das Recht ist nicht auf derartige klimabedingte Migrationsbewegungen angelegt, es bedürfte anderer völkerrechtlicher Instrumente.
Auf europäischer Ebene sehe ich jedoch, unabhängig davon, wie man dies rechtlich normieren will, keine realpolitische Perspektive auf Einigung und gemeinsames Bestehen einer solchen globalen Krise – hier zeigt der politische Kompass derzeit in eine andere Richtung. Wenn Europa mit einer Zunahme klimabedingter Flucht konfrontiert ist, wird es wahrscheinlich ähnliche Verwerfungen geben, wie es jetzt in anderen Konstellationen, beispielsweise im Umgang mit Flucht aus Afghanistan und Syrien der Fall ist. Optimistisch bin ich nicht, dass es eine große Aufnahmebereitschaft gibt, aber man sollte nicht die Hoffnung aufgeben, an einen politischen Willen zu glauben und dafür zu streiten.
Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt für Aufenthaltsrecht und Mitglied des Vorstands des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e.V. Als Kooperationsanwalt des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GfF) streitet er für die Rechte Geflüchteter.