04. Oktober 2023
Aserbaidschan hat mit seiner jüngsten Militäroffensive in Bergkarabach Hunderte von Menschen getötet und unzählige Armenierinnen und Armenier vertrieben. Doch seine Expansionspläne sind damit nicht am Ende.
Eine Bewohnerin von Bergkarabach blickt aus dem Autofenster, während ihr Zuhause evakuiert wird.
IMAGO / ZUMA WireAm 19. September startete die aserbaidschanische Armee eine groß angelegte Invasion in der überwiegend von Armenierinnen und Armeniern bewohnten Region Bergkarabach. Die Führung des abtrünnigen Gebiets (auf Armenisch auch Republik Karabach oder Republik Arzach genannt) kapitulierte innerhalb von 24 Stunden und willigte ein, ihr Territorium an Aserbaidschan zu übergeben sowie sich Ende dieses Jahres selbst aufzulösen. Der Sturz von Arzach kostete hunderte Menschenleben und führte zur massenhaften Vertreibung und Flucht der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach.
Dass die Republik Arzach nun ihrem baldigen Ende entgegengeht, ist drastisch veränderten Hegemonie- und Machtverhältnissen in der Region geschuldet. Die Lage hat sich seit dem sogenannten 44-Tage-Krieg im Herbst 2020 deutlich zu Aserbaidschans Gunsten verschoben. Vor allem konnte sich Aserbaidschan Vorteile erschließen, indem es inmitten größerer geopolitischer Turbulenzen Partnerschaften mit den lokal dominierenden Mächten, von der Türkei über Russland bis hin zu westlichen Ländern, aufgebaut hat.
Es war offensichtlich, dass der (Teil-)Sieg Aserbaidschans in den Auseinandersetzungen 2020 – den schwersten Kämpfen seit dem Waffenstillstandsabkommen von 1994 – kein Ende des Bergkarabach-Konflikts bringen würde. Das lag nicht nur daran, dass Aserbaidschan nicht in der Lage war, die vollständige Kontrolle über das Gebiet zu erlangen, sondern auch daran, dass ein solcher Krieg, der darauf abzielt, eine gewisse soziale Ordnung in einer Region zu schaffen und zu erhalten, kein Ende haben kann. Vielmehr muss er eine kontinuierliche, ununterbrochene Ausübung von Macht und Gewalt beinhalten. Wie Michael Hardt und Antonio Negri es ausdrückten: »Man kann einen solchen Krieg nicht gewinnen, oder besser gesagt: Man muss ihn jeden Tag aufs Neue gewinnen.«
Seit dem Krieg von 2020 waren neue polizeiliche Instrumente notwendig, damit der aserbaidschanische Staat seine Kontrolle über Bergkarabach behalten beziehungsweise ausbauen konnte. So wurde ein andauernder Kriegszustand geschaffen, der kaum noch von harten polizeilichen Maßnahmen zu unterscheiden war. Wenn Kriegsführung auf »Polizeiaktionen« reduziert wird, werden Kontroll- und auch Zwangs-/Foltermechanismen zu einem zentralen Bestandteil dieser militärischen Operationen. Eine solche Polizeiarbeit bestimmte die Situation der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach bis zuletzt.
Im Dezember 2022 begann Aserbaidschan dann, das Leben der Menschen in Bergkarabach durch eine veritable Belagerung noch stärker zu bestimmen und zu beherrschen. Es ist wahrscheinlich die älteste Form des totalen Krieges: Mit ihr wird ein absoluter Sieg angestrebt, ohne dass zwischen zivilen und militärischen Zielpersonen unterschieden wird. Die brutale neunmonatige Blockade Bergkarabachs führte zu einem dramatischen Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln und Treibstoff. Vor gut zwei Wochen griff Aserbaidschan die ohnehin schon geschwächte Region dann im Rahmen einer angeblichen »Anti-Terror-Operation« an. Die Stadt Stepanakert und die umliegenden Gebiete, in denen einst über 100.000 Armenierinnen und Armenier lebten, werden nun intensiv von der aserbaidschanischen Polizei kontrolliert. Ein Großteil der Bevölkerung ist nach Armenien geflüchtet.
»Die jüngsten Entwicklungen in Bergkarabach erinnern an Russlands vermeintliche ›Entnazifizierung‹ der Ukraine oder den ›Krieg gegen den Terror‹ der USA, die beide zur Legitimation eines andauernden Kriegszustands behaupten, dass ihre Kriege ein allgemeines Interesse verfolgen.«
Wenn es zu immer mehr Überschneidungen zwischen militärischen und polizeilichen Aktivitäten kommt, die darauf abzielen, »Sicherheit« durchzusetzen, wird der Unterschied zwischen Menschen innerhalb und außerhalb des Nationalstaates immer geringer – und ein wichtiger Faktor im Krieg fällt weg: So ist es für den aserbaidschanischen Staat und seinen Präsidenten Ilham Alijew zwar immer noch wichtig, das Bild eines äußeren Feindes aufzubauen, doch kann dieser aktuell nicht mehr als ernsthafte Gefahr angesehen werden. Armenien stellt schlichtweg keine große Bedrohung für Aserbaidschan dar. Der aserbaidschanische Staat braucht daher einen abstrakteren Feind sowie neue Formen der internationalen Partnerschaft, um seinen Krieg zu rechtfertigen.
Die jüngsten Entwicklungen in Bergkarabach erinnern an Russlands vermeintliche »Entnazifizierung« der Ukraine oder den »Krieg gegen den Terror« der USA, die beide zur Legitimation eines andauernden Kriegszustands behaupten, dass ihre Kriege ein allgemeines, ja humanitäres, Interesse verfolgen und somit gerecht seien. In Anbetracht der andauernden und eskalierenden Kriegsführung seit 2020 ist klar, dass wir in Bergkarabach und Umgebung auf eine düstere Zukunft zusteuern. Diese Zukunft dürfte von einem ewigen »Kriegszustand« statt Frieden geprägt sein.
Aserbaidschan hat seine Ziele bisher erreicht. Die Debatte um den Sangesur-Korridor – ein Landstreifen, der Aserbaidschan durch armenisches Territorium hindurch mit der Türkei verbindet – zeigt aber bereits, dass die Feindschaft mit dem Nachbarland wohl weiter bestehen wird.
In diesem Dauerkonflikt manifestieren sich imperialistische Machtkämpfe, das Nation-Building in der postsowjetischen Periode und der durch die kapitalistische Globalisierung geschürte Wettbewerb. Sowohl in Armenien als auch in Aserbaidschan diente es vor allem den Interessen der etablierten Nomenklatura, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nationalistische Stimmung und Ressentiments zu schüren. Die politischen Eliten in beiden Ländern nutzten nationalistische Rhetorik, um ihre politische Vorherrschaft zu festigen – und von Unzufriedenheit mit ihrer autoritären Herrschaft abzulenken. Allerdings gab und gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Ländern, der zu erheblichen Machtungleichgewichten führt: Aserbaidschan hat eine wesentlich größere Wirtschaftskraft, die auf den Reichtum an natürlichen Ressourcen, insbesondere Öl und Gas, zurückzuführen ist.
In Kriegszeiten geht das Leid der Massen oft Hand in Hand mit den Profiten der Eliten. Der Bergkarabach-Konflikt ist keine Ausnahme. In diesem Fall gehen die Machenschaften des aserbaidschanischen Staates und seiner vetternwirtschaftlich-kapitalistischen Elite jedoch über reinen Waffenhandel und die sogenannte Sicherheitsindustrie hinaus. Sie erstrecken sich auch auf Offshore-Geldwäsche und die Einbeziehung wirtschaftlicher Eliten auf der ganzen Welt, wo immer möglich.
Dies zeigt sich beispielsweise an der verstärkten Präsenz des britischen Bergbauunternehmens Anglo Asian Mining mit seinen neuen Projekten in Karabach, an denen die aserbaidschanische Herrscherfamilie mitbeteiligt ist. Blockade, Krieg und Kontrolle werden zu Mitteln, um wirtschaftliche Interessen auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, also der breiten Gesellschaft, durchzusetzen. Die autoritäre Führung der aserbaidschanischen Herrscherfamilie sichert die stillschweigende Akzeptanz der Bevölkerung für den Stabilisierungs- und Überwachungskapitalismus.
Aufgrund der Komplexität des Bergkarabach-Konflikts – inklusive der großen Rolle, die Russland in seinem »Hinterhof« spielt – war es für Baku eine Zeit lang nicht einfach, Kontrolle und Hegemonie aufrechtzuerhalten. Das imperiale und koloniale Erbe Russlands hat die Krieg-und-Frieden-Dynamik in den postsowjetischen Regionen, einschließlich Bergkarabach, erheblich beeinflusst.
Dieser Einfluss geht über die klassische Gegenüberstellung von liberaler und illiberaler Friedenssicherung hinaus, in der eine demokratische Lösung einem illiberalen – also auf Zwang und Autoritarismus basierenden – Frieden entgegenstehen. So hat Moskau als Hegemonialmacht im postsowjetischen Raum die direkt nach dem Kalten Krieg etablierten liberalen Normen sicherlich infrage gestellt (insbesondere in der jüngsten Vergangenheit), doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es in den 1990er und frühen 2000er Jahren durchaus vorkam, dass die Ansätze Russlands und des Westens in Sachen Konfliktmanagement bemerkenswert ähnlich gestaltet waren.
Eine allmähliche Auseinanderentwicklung dieser Ansätze wurde deutlich, als Russlands mit seiner Beteiligung am Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996 seine Rolle von der eines Friedenssicherers zu der einer aktiven Kriegspartei änderte. Ebenso führte die NATO-Intervention im Kosovo und in Serbien 1999 zu einem tiefen Riss in den russisch-amerikanischen Beziehungen. Auch bei den Konflikten im Kaukasus spielten externe Hegemonialmächte, vornehmlich Russland, eine Rolle, wobei Moskau vor einer allzu direkten Beteiligung in Bergkarabach zurückscheute.
Vor dem Ausbruch des Bergkarabach-Krieges im Jahr 2020 war Russland in seiner Rolle als Ko-Vorsitzender der Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oft Gastgeber der Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Paradoxerweise trug es jedoch auch zur weiteren Eskalation der Spannungen bei, indem es fortlaufend Waffen lieferte, was wiederum dazu beitrug, dass die Verhandlungen stockten und schließlich scheiterten.
Der Krieg von 2020 endet mit dem Sieg Aserbaidschans und einem im Eiltempo unterzeichneten trilateralen Abkommen, an dem Russland, Armenien und Aserbaidschan beteiligt waren. Dieser am 9. November 2020 vereinbarte Text umfasst neun Artikel, darunter den Rückzug der armenischen Streitkräfte, die Entsendung russischer Friedenstruppen, die Rückgabe von sieben armenisch besetzten Gebieten rund um Bergkarabach an Aserbaidschan, die Rückkehr von Binnenvertriebenen, den Austausch von Geiseln und Kriegsgefangenen sowie das Aufheben von Sperrungen aller Wirtschafts- und Verkehrsverbindungen.
Das Abkommen berührte damit zwar viele Themen, legte aber wichtige Details nicht klar fest, beispielsweise das genaue Mandat der russischen Friedenstruppen oder eine Strategie zur Freigabe der Verkehrswege. Dies lieferte Aserbaidschan einen Vorwand, seine Kriegshandlungen bald schon wieder aufzunehmen; casus belli konnten sich zahlreich finden lassen.
Das alles andere als perfekte Waffenstillstandsabkommen, das die Grundlage für weitere Verhandlungen bilden sollte, löste in Armenien Wut und in Aserbaidschan Jubel aus. Die Armenierinnen und Armenier in Karabach verloren Gebiete, darunter einige Regionen, die in der Sowjetunion die Oblast Bergkarabach gebildet hatten. Aserbaidschan hingegen gewann die Kontrolle über die verlorenen »sieben Regionen« und einige Teile Bergkarabachs zurück, insbesondere über das Gebiet um Schuscha/Şuşa, einer zu Sowjetzeiten mehrheitlich von Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschanern bewohnten Stadt. Das Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan basierte somit weitgehend auf den Demarkationslinien, die schon auf sowjetischen Karten für die Teilrepubliken verwendet worden waren.
»Der Einfluss der Türkei stärkt eine neue Form des Nationalismus in Aserbaidschan, geprägt von pan-türkischen und pan-islam(ist)ischen Ideologien.«
Trotz dieser großen Veränderungen gab es weiterhin Unsicherheiten. Zunächst wurde eine russische Friedensmission mit einem Mandat bis 2025 nach Bergkarabach entsandt. Die meisten Vermittlungsversuche gingen tatsächlich von Russland aus: Die OSZE und andere multilaterale Akteure blieben am Rande und hatten keine klaren Vorstellungen für eine Neudefinition ihrer Rolle im Konflikt. Die Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan hielten wegen diverser Themen – von Gefangenaustauschen über Minenfelder bis hin zur Grenzziehung – an und eskalierten immer wieder zu tödlicher Gewalt. Dies geschah im Sommer und Herbst 2021, im März 2022 und schließlich im September 2022, als Aserbaidschan in einige Grenzgebiete Armeniens einfiel.
Das eindeutige Machtgefälle zwischen Armenien und Aserbaidschan schuf eine neue Nachkriegsrealität. Die armenischen politischen Eliten wurden im eigenen Land immer wieder für die Niederlage im Krieg 2020 kritisiert. Im Gegensatz dazu konnte Alijews Regierung in Baku mit den militärischen Siegen im Rücken (die viele Aserbaidschanerinnen und Aserbaidschaner als »gerecht« ansahen) seine Macht weiter festigen. Die innenpolitischen Turbulenzen in Armenien nach dem Krieg führten zu Neuwahlen sowie einer Neuausrichtung der außenpolitischen Beziehungen und Prioritäten. Doch auch in Aserbaidschan ließ die Euphorie nach dem Krieg 2020 und die Ansicht, der Konflikt sei damit nun beendet, bald wieder nach.
Eine wichtige neue Realität nach 2020 war die aktive russische Präsenz in der Region. Rund 2.000 russische Soldaten und technische Einsatzkräfte wurden im Rahmen der Friedensmission nach Bergkarabach entsandt. Die armenische Bevölkerung Karabachs war in Bezug auf ihre Sicherheit besonders abhängig von Russland.
Aus Sicht der aserbaidschanischen Führung verhinderte die russische Präsenz in Bergkarabach hingegen, dass sie die vollständige Kontrolle über die Region erlangen konnte. Die Lage änderte sich mit Beginn des Krieges in der Ukraine. In Alijews öffentlichen Auftritten war immer wieder die Rede davon, der Status quo in Karabach könne nicht beibehalten werden. Die neueste Strategie seiner Regierung für die Lösung des Konflikts war klar: keine Autonomie für Bergkarabach; vollständige Kontrollübernahme Aserbaidschans. Da die Macht und der Einfluss Russlands mit dem Angriff auf die Ukraine schwand, fürchtete Armenien ein Ende der Sicherheitsgarantien und bemühte sich um neue Verbündete im Westen. In Baku hingegen sah man die Zurückhaltung Russlands als das erhoffte »grüne Licht«, nun wirklich die vollständige Kontrolle über Karabach zu erlangen. Ab dem 19. September 2023 wurde dieser Plan dann in die Tat umgesetzt.
Die imperialistischen Interessen in der Region sind jedoch nicht nur auf Russland beschränkt: Auch das aktive Engagement der Türkei in der Region ist durchaus erwähnenswert. Ankaras Einfluss in Aserbaidschan nimmt zu; nicht nur auf politischer Ebene durch die Teilhabe am Sieg im Krieg 2020 oder auf wirtschaftlicher Ebene durch verstärkte Zusammenarbeit und Verkehrsprojekte, sondern auch auf kultureller Ebene durch das ethno-nationalistische Framing einer gemeinsamen Turk-Hegemonie. Das Konzept »eine Nation, zwei Staaten« – einst vom ehemaligem Präsidenten Heidar Alijew formuliert – erlebt in Aserbaidschan ein Revival. Der Einfluss der Türkei stärkt eine neue Form des Nationalismus in Aserbaidschan, geprägt von pan-türkischen und pan-islam(ist)ischen Ideologien. Dies trägt zur regionalen Hegemonie Ankaras bei.
Nach dem Krieg von 2020 wurde die Türkei mit der Beteiligung an Infrastruktur- und Bergbauprojekten in Karabach »belohnt«, zusätzlich zu weiteren potenziellen Infrastrukturprojekten. Angesichts der wachsenden türkischen Präsenz in der Region blieb Armenien kaum eine andere Wahl, als ebenfalls eine Annäherung an die Türkei zu suchen. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan schien jedoch wenig daran interessiert; ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen sind eng mit Alijew verknüpft. Da Aserbaidschan nun nach neuen Regelungen bezüglich des Sangesur-Korridors sucht, scheint die zaghafte Annäherung zwischen Armenien und der Türkei nichts weiter als ein Kniff gewesen zu sein, um Jerewan zu noch mehr Zugeständnissen zu drängen.
Aserbaidschan ist es gelungen, seine strategischen Bündnisse sowohl mit der Türkei als auch mit Russland zu stärken – Mächte, deren Beziehungen und Interessen untereinander schon seit langem eher konträr sind. Derartig komplexe Partnerschaften machen eine einfache Freund-Feind-Zeichnung zwischen den beteiligten Staaten hinfällig. Stattdessen zeigen sie, wie fortgeführte imperiale Ambitionen die Ex-Großreiche zusammenschweißen, unabhängig davon, wie sichtbar ihre aktuellen Probleme sind oder wie sehr sie anderswo in Konkurrenz zueinander stehen mögen. Ihre wachsende Macht in der Kaukasusregion verdanken Kräfte wie Russland oder die Türkei einer längeren imperialen Vergangenheit, aber auch dem gegenwärtigen Rückzug der westlichen Mächte. Letzterer bietet ihnen die Chance, durch neue wirtschaftliche und finanzielle Verflechtungen in der Region zusätzlichen Einfluss zu gewinnen.
Baku nutzte seinerseits die Gunst der Stunde nach dem Krieg 2020 und schaffte es, seine Bündnisse mit der Türkei und Russland zu festigen. Im Juni 2021 unterzeichnete Aserbaidschan ein strategisches Bündnis (die Schuscha-Erklärung) mit der Türkei und ein ähnliches Übereinkommen mit Russland nur zwei Tage vor der Invasion der Ukraine. Mit diesen Abkommen sicherte sich Aserbaidschan die Loyalität der imperialen Mächte – und profitiert damit von deren Unterstützung ebenso wie von der Neutralität des Westens.
Das erklärt, warum Aserbaidschan sowohl weltweit als auch in der Region auf minimalen Widerspruch stieß, als es im September 2023 seine »Anti-Terror-Operation« in Bergkarabach startete. Angesichts der genannten Bündnisse überrascht es dann auch nicht, dass Russland die Schuld bei Armenien sah und die Türkei mit Erdoğans unmittelbarem Besuch in der Region Nachitschewan (eine aserbaidschanische Enklave an der Grenze zur Türkei) das Bedrohungsnarrativ noch verschärfte. Der Westen zeigte sich »sehr besorgt«, unternahm ansonsten aber nichts.
Der Konflikt um Bergkarabach fand nun seinen jüngsten tragischen Ausgang – einschließlich hoher Opferzahlen, Vertreibung, Armut und zukünftig extrem prekärer Lebensbedingungen vieler Menschen. Dahinter stehen unter anderem imperiale Machtkämpfe und das Streben nach der Schaffung eines nationalen, kapitalistischen Staates.
Nach der Vertreibung hunderttausender Armenierinnen und Armenier aus Karabach ist eine Rückkehr in ihre Heimat ungewiss und scheint aktuell in weiter Ferne. Es gibt keinerlei Garantien für ihre Sicherheit und Aserbaidschan unternimmt keine sichtbaren Anstrengungen zur möglichen Integration dieser Menschen in den eigenen Staat – alles deutet auf ethnische Säuberung hin. Dies dürfte auch eine Fortsetzung der Gewalt bedeuten, die darauf abzielt, das armenische und das aserbaidschanische Volk dauerhaft zu trennen. Hass und Feindseligkeit werden weiter geschürt. So kann die aserbaidschanische Regierung ihre Macht aufrechterhalten und starke Kontrolle über die Bevölkerung ausüben, indem sie am »Sicherheits« und »Anti-Terror«-Narrativ festhält.
Bereits nach dem Krieg von 2020 genoss die Führung Aserbaidschans eine unangefochtene Machtstellung. Mit seinem militärischen Sieg gelang es Alijew nicht nur, seine Unterstützung in sowie Legitimität in der Bevölkerung zu stärken, sondern auch eine Rechtfertigung für eine nahezu grenzenlose autokratische Macht zu erhalten. Derzeit gibt es in Aserbaidschan keine politische Opposition, die Alijew bei seinen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Karabach-Konflikt infrage stellen könnte. Diese Duldung seiner Außenpolitik bedeutet allerdings auch, dass vor vielen innenpolitischen Problemen die Augen verschlossen werden.
»Wir beobachten den Alptraum eines andauernden und unbestimmten Kriegszustandes, in dem die internationale Rechtsordnung außer Kraft gesetzt bleibt.«
Kleinere aktivistische Gruppen, die sich gegen den Krieg einsetzen, werden immer wieder ins Visier genommen und systematisch ausgegrenzt. Alijew hat die volle Entscheidungsgewalt sowie Deutungshoheit über die Konfliktlösung und diktiert damit sowohl den öffentlichen als auch den politischen Diskurs über den Konflikt innerhalb Aserbaidschans. Demnach sei der Sieg einzig und allein ihm und seiner »eisernen Faust« gegenüber der abtrünnigen Region zu verdanken. In jedem Fall dienen der zunehmende Autoritarismus und die zentralisierte Macht um den Präsidenten dazu, die allgemeine Öffentlichkeit von allen politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Konflikt fernzuhalten.
In Armenien wurde während der aktuellen Amtszeit von Premierminister Nikol Paschinjan nach der Samtenen Revolution 2018 immerhin verstärkt darüber diskutiert, die breite Öffentlichkeit in die Gespräche zur Konfliktlösung einzubeziehen. In Aserbaidschan hingegen war Konfliktlösung ein Beschluss, der ausschließlich in den obersten Rängen der Regierung beraten und getroffen wurde. Alijew behielt angesichts des vorherrschenden öffentlichen Diskurses und der Erwartungen, die er selbst seit langem genährt hatte, ein nationalistisches Narrativ bei. Demnach könne eine Lösung des Bergkarabach-Konflikts nur mit einer vollständigen Niederlage Armeniens und damit der »Ent-Armenisierung« Karabachs erreicht werden. Dieser Plan scheint nun Realität zu werden.
Das Zaudern und die vielen Ungewissheiten bei der Konfliktlösung wurden lange Zeit darauf zurückgeführt, dass die jeweiligen Regierungen keine konkreten Friedens- und Versöhnungspläne vorgelegt haben und dass es keine ernsthafte öffentliche Debatte über diese Fragen gab. Die Zunahme konfliktbedingter Leiden (beispielsweise: die Flucht vieler Armenierinnen und Armenier), weiterhin zunehmender Nationalismus sowie die Erfahrungen einer ganzen durch den Konflikt geprägten und gespaltenen Generation machen es immer schwieriger, sich eine friedliche Koexistenz in naher Zukunft vorzustellen.
Da Krieg in der jüngeren Vergangenheit im weiteren europäischen Kontext eher eine Ausnahme war, wird eine Aussetzung demokratischer Politik in solchen Kriegszeiten meist als vorübergehend angesehen. In Aserbaidschan ist der Kriegszustand allerdings seit den 1990er-Jahren ein ständiger Begleiter des alltäglichen Lebens. Dies rechtfertigte den Vorrang vermeintlicher Sicherheit und Stabilität vor Demokratie oder dem Wohlstand der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Es ist nicht absehbar, dass sich dies jetzt ändert.
Nach dem Krieg von 2020 und der vollständigen Niederlage Bergkarabachs im September 2023 scheint es, als sei »der Krieg« nun tatsächlich vorbei. Doch neue Formen des Krieges, in Form von umfassender Polizeiarbeit und Militarisierung, halten die Illusion aufrecht, dass die Region sich in einem Ausnahmezustand befindet. Aserbaidschanische Polizeikräfte werden bereits in Karabach eingesetzt; außerdem scheint sich die Armee darauf vorzubereiten, den vermeintlichen aserbaidschanischen Anspruch auf den Sansegur-Korridor mit Gewalt geltend zu machen.
Die Republik Arzach in Bergkarabach soll am 1. Januar 2024 aufgelöst werden. Doch der Kriegszustand hält an. Die Aussetzung der Demokratie, die angeblich eine Ausnahme sein soll, ist in Aserbaidschan längst zur Regel geworden. Wir beobachten den Alptraum eines andauernden und unbestimmten Kriegszustandes, in dem die internationale Rechtsordnung außer Kraft gesetzt bleibt. Die Verantwortlichen sprechen von Sicherheit. Dabei unterscheiden sie aber nicht, wie dies erreicht werden soll: durch eine Aufrechterhaltung des aktuellen Friedens- und Ruhezustands oder durch weitere Kampfhandlungen.
Sevinj Samadzade ist eine feministische Forscherin und Praktikerin, die sich auf Gender, Frieden und Sicherheit in der Südkaukasusregion spezialisiert hat.