09. Juni 2020
Black Lives Matter ist nicht länger nur eine US-amerikanische Protestbewegung. Auch in Europa gehen Hunderttausende gegen rassistische Polizeigewalt auf die Straße — und legen das blutige Erbe ihrer eigenen Gesellschaft offen.
Großbritannien: Protestierende werfen jubelnd die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken von Bristol.
Sonntag, der 7. Juni: Protestierende reißen in der englischen Hafenstadt Bristol inmitten der #BlackLivesMatter-Proteste die Statue des ehemaligen Sklavenhändlers Edward Colston ein. Sie knien so lange auf seinem Hals, wie der mörderische Polizist in Minneapolis auf dem Hals von George Floyd kniete, bevor dieser starb – dann werfen sie die Statue in das Hafenbecken. In jenes Meer also, in das Colstons Royal African Company zwischen 1680 und 1692 rund 19.000 Sklaven werfen ließ, weil sie zu krank für den Transport waren oder auf der Überfahrt zu den Plantagen verstarben.
Kurz danach erscheinen Fotos aus Brüssel: Hier steigen Menschen auf die Statue des kolonialen Schlächters König Leopold II. und singen »Mörder«, während sie die Flagge des einst belgisch kolonisierten Kongo hochhalten. Die US-amerikanische #Blacklivesmatter-Bewegung wird in Europa nicht nur unterstützt, sie wird in den Kontext unserer Gesellschaften übersetzt – insbesondere ihrer kolonialen Grundlagen. Nicht nur gibt es Polizeigewalt und Rassismus ebenso in Europa – es gibt auch eine lange, unaufgearbeitete Geschichte der Kolonialisierung und Ausbeutung schwarzer Menschen, auf denen der Reichtum dieses Kontinents maßgeblich basiert.
Im Falle der Colston-Statue stand der Protest ohnehin längst auf der Tagesordnung. Nicht nur stellte die Stadt Bristol die bronzene Statue 1895 auf, als die Sklaverei längst verboten war, zudem mussten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bis 2015 die Schulden zurückzahlen, die die Regierung aufgenommen hatte, um den Colston-Clan für das bei der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1833 verlorene Eigentum zu »entschädigen«. Insgesamt zahlten die Menschen von Bristol also 182 Jahre lang für den Reichtum einer Verbrecher-Familie und ehrten Edward Colston dafür auch noch mit einer Bronze-Statue. Eine frühere Petition mit 10.000 Unterschriften hatte die Statue nicht stürzen können – nun aber brachte der Stoß der Gerechtigkeit sie zu Fall.
Ein Regime zu errichten oder zu kippen – das ist eine Sache politischer, militärischer und wirtschaftlicher Macht. Aber sie findet auch auf symbolpolitischer Ebene statt. So war es von großer Bedeutung, 1991 die Lenin-Statue auf dem heutigen Platz der Vereinten Nationen in Berlin abzureißen oder 2003 den Sturz der Statue Saddam Husseins als Symbol des Sieges im Irak-Krieg zu verwenden. Politische Anführer derart zu »enthaupten«, ist eine Machtdemonstration, die alle sehen sollen.
Dass sich Europa derart an Kolonialsymbolen und Zeugnissen des Sklavenhandels abarbeitet, ist nicht neu: So manche Straßennamen und die Kämpfe um deren Umbenennung zeugen davon. Straßenschilder – wie das der »Mohrenstraße« in Berlin – sind immer auch Symbole der Auseinandersetzung. Jedes Jahr werden sie von Aktivistinnen und Aktivisten überklebt – auch gibt es aufklärende Stadtrundgänge zur Kolonialgeschichte.
Nun ist das drückende Knie auf Edward Colstons Hals noch kein Regimewechsel, der herrschende Systeme, Eliten und Führungspersonen austauscht. Doch es wirkt wie ein Befreiungsschlag – eine späte Rache für das Unrecht, das an Tausenden, Hunderttausenden, Millionen von Menschen begangen wurde und das in alltäglichen Schikanen und Morden an Schwarzen und eingewanderten Menschen fortlebt.
Der deutsche Kolonialismus wird gern als kurze Episode dargestellt – die Franzosen, Briten, Belgier und Spanier seien viel schlimmer gewesen, so der historische Alltagsverstand. Doch auch die deutsche Kolonialgeschichte ist seit den 1880er Jahren bis hinein in den Ersten Weltkrieg von Ausbeutung und blutiger Unterdrückung durchzogen. Bereits die Arbeiterbewegung begehrte gegen den Kolonialismus auf: 1906 lehnte die SPD unter August Bebel einen Nachtragshaushalt für den sogenannten »Hottentottenkrieg« in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) ab. Man wolle die »Ausrottungsstrategie« der deutschen Kolonien nicht unterstützen. In die Zeit dieses Krieges fällt der Völkermord an den Herero und Nama, bei dem etwa 40.000 bis 60.000 Herero und 10.000 Nama starben.
»Bismarck-Statuen stehen unverfroren – bis zum heutigen Tag.«
Bis heute hält sich der Mythos, der erste Reichskanzler Otto von Bismarck habe gar keine Kolonien gewollt. Nun, erobert hat er sie dennoch. Wie alle anderen Staatsoberhäupter auch, bezweckte er im imperialen Wettlauf um Kolonien die Sicherung wirtschaftlicher Interessen. Er nannte die Kolonien euphemistisch »Schutzgebiete« – immerhin sollten sie den deutschen Handel schützen. In der Fläche wurde das Deutsche Kaiserreich durch Eroberungskriege zeitweise zum viert- oder drittgrößten Kolonialreich seiner Zeit.
Bismarck-Statuen stehen unverfroren bis zum heutigen Tag – sowohl in Deutschland als auch in »Übersee«. Präziser formuliert: Als Andenken an die deutsche Kolonialisierung sind sie sogar in Kamerun, Papua-Neuguinea und Tansania zu finden. Vor unseren Haustüren in Bielefeld, Hamburg, Stade und einer endlos langen Liste weiterer deutscher Städte stehen Monumente, die uns an den »Staatsmann« erinnern sollen, der nicht nur die deutsche Kolonialgeschichte mitzuverantworten hat, sondern auch Gewerkschaften und sozialdemokratische Parteien per Sozialistengesetz verbot und verfolgte. Kurz: Die Erinnerung an ihn müsste alle seine historischen Verbrechen mittransportieren. Noch stehen die monumentalen und geschichtsvergessenen Statuen an ihren Plätzen.
Vielleicht sind wir an einem Punkt, an dem der überspringende Funke aus den USA auch diese Aufarbeitung in Europa ermöglicht. Spontan und gewaltvoll wirkt der Protest nur aus dem Grund, dass sich ihm Tausende im richtigen Moment anschließen. Die Vorarbeit wurde von Gruppen wie der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland oder den Initiatorinnen und Initiatoren der Petition in Bristol geleistet.
Es geht bei alledem nicht darum, alte Symbole einfach nur abzureißen und sich ihrer Geschichte zu entledigen, sondern um einen historisch-kritischen Umgang mit den Symbolen der Macht. Sprich: Es geht darum, aufzuräumen und die Geschichte gegen den Strich zu bürsten. Das fängt mit Protesten gegen Straßennamen, Statuen und preußische Stadtschlösser an, weil sie uns tagtäglich dumpf an eine nationale Identität erinnern sollen und dabei einfach nur die Geschichte der Gewinner widerspiegeln. Enden muss es darin, den hässlichen rassistischen Geist auszutreiben, mit dem die Herrschenden über die Jahrhunderte hinweg die Völker gespalten und kleingehalten haben.
Wenn die #BlackLivesMatter-Bewegung ihren Protest aufrechterhalten und auf den europäischen Kontinent übertragen kann, dann könnte das nach den großen antikolonialen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der nächste wichtige Zyklus einer langen Befreiungsgeschichte werden.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.