13. März 2024
Der Konflikt zwischen Evo Morales und Luis Arce um die Präsidentschaftskandidatur 2025 spaltet nicht nur die bolivianische Regierungspartei MAS, sondern auch die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften im Land, die deren Basis und Rückgrat bilden.
MAS Mitglieder versammeln sich zum Congreso Orgánico in Cochabamba, 4. August 2021.
Neben den ausgelassenen Karnevalsfeiern auf den Straßen fanden Ende Februar in ganz Bolivien traditionelle Ch‘alla-Zeremonien statt. Es wurden Räucherstäbchen angezündet und Pachamama (Mutter Erde) in Ritualen mit Kokablättern und Alkohol gefeiert. So sollen die Bande zwischen Mensch und Pachamama bekräftigt werden.
Neben dem unwillkommenen chaki (Kater) nach den Feierlichkeiten bereitet eine andere Entwicklung den progressiven Bewegungen Boliviens derzeit Kopfschmerzen: die interne politische Spaltung scheint sich weiter zu verschärfen.
Seit die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) mit Präsident Luis Arce im Jahr 2020 an die Macht zurückgekehrt ist, baut Ex-Präsident Evo Morales seine Unterstützerbasis auf. Er hofft, im kommenden Jahr erneut Präsident zu werden. Im Dezember 2023 entschied das Plurinationale Verfassungsgericht Boliviens allerdings, dass Präsidenten nur für maximal zwei Amtszeiten an der Macht sein dürfen und eine unbegrenzte Wiederwahl (entgegen einer früheren Entscheidung) »kein Menschenrecht« sei.
Für den bereits drei Mal zum Präsidenten gewählten Morales ist das Urteil ein schwerer Schlag. Seitdem kritisiert er Arce – seinen ehemaligen Wirtschaftsminister und engen Verbündeten – scharf. Dieser versuche, ihn aus dem Weg zu räumen und von der Macht fernzuhalten. Auf Social Media warnte Morales vor einem »Justiz-Coup«.
Eigentlich hätten schon im Dezember gemäß der Plurinationalen Verfassung Wahlen zur Neubesetzung der nationalen Gerichte stattfinden sollen. Ende Januar mobilisierte Morales seine Basis im Kokaanbaugebiet von Cochabamba, um Blockaden entlang der Straßen von Cochabamba zum Wirtschaftszentrum Santa Cruz zu errichten. Damit sollten die Forderungen nach den Justizwahlen, aber auch andere lokale Missstände betont werden. Die Blockaden führten allerdings auch zu Lebensmittel- und Treibstoffknappheit und wurden letztlich von den Sicherheitskräften niedergeschlagen.
Huáscar Salazar, Ökonom und Mitglied des Centro de Estudios Populares in Bolivien, kommentiert mit Blick auf die MAS, es gebe wenig Hoffnung auf eine Versöhnung zwischen den beiden verfeindeten Lagern: »Aktuell erleben wir ein Tauziehen zwischen Evo und Arce, die sich darüber streiten, wofür die Bewegung für den Sozialismus eigentlich steht – und natürlich darüber, wer im Jahr 2025 Präsidentschaftskandidat der Partei wird.«
»Die Arcistas profitieren vom Status Quo.«
Salazar weiter: »Das Problem ist, dass dieses Hin und Her erhebliche Folgen für die Basisorganisationen hat. Diese sind in ihren internen Strukturen zunehmend ebenfalls gespalten. Darüber hinaus findet dieser Streit inmitten einer immer deutlicher spürbaren Wirtschaftskrise statt, für die niemand die Verantwortung übernehmen will.«
Mauricio Fonda, ein in Bolivien lebender Open-Data-Aktivist, hat eine Infografik erstellt, die den dramatischen Anstieg der Blockaden in den letzten Wochen und Monaten sowie deren geografische Verteilung aufzeigt.
In der bolivianischen Legislativversammlung sind die MAS-Abgeordneten ebenfalls gespalten zwischen Arcistas und Evistas. Die Wahlen für die Richterschaft im vergangenen Jahr verzögerten sich auch aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über die Kandidaten, die von der MAS-dominierten Legislativversammlung vorausgewählt werden. In Bolivien werden die Richter des Obersten Gerichtshofs, des Verfassungsgerichts, des Agrar- und Umweltgerichts sowie des Justizrats alle sechs Jahre in Direktwahlen gekürt.
Die Arcistas profitieren vom Status Quo: das bisherige Verfassungsgericht hat mehrfach in ihrem Interesse entschieden, unter anderem in der jüngsten Entscheidung, ob Morales noch einmal zum Präsidenten gewählt werden dürfe. Arces Status als Amtsinhaber verschafft ihm außerdem mehr Einfluss auf die staatlichen Institutionen. Auch dies konnte er zu seinem Vorteil nutzen.
»Morales kann immer noch eine breite, motivierte Basis mobilisieren.«
Die Frage nach einer möglichen Wiederwahl von Morales ist seit 2017 ein Streitthema und war der Kernpunkt des Putsches von 2019. Die Verfassung verbietet es jedem, mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten als Präsident zu absolvieren. Im Jahr 2016 verlor Morales knapp ein Referendum, mit dem die Verfassung geändert und ihm eine erneute Kandidatur ermöglicht worden wäre. Er brachte die Entscheidung vor das Plurinationale Verfassungsgericht, das damals mit seinen Unterstützern besetzt war. Das Gericht entschied, die erneute Wahl sei ein Menschenrecht, und hob das Referendumsergebnis auf.
Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen darin eine antidemokratische juristische Farce. Die Gerichtsentscheidung war ein wichtiger Faktor bei der Mobilisierung der städtischen Mittelschicht und der enttäuschten sozialen Bewegungen gegen Morales im Oktober 2019, als ein Putsch dafür sorgte, dass die evangelikale Rechtsradikale Jeanine Áñez die Präsidentschaft übernehmen konnte.
Morales machte im Zuge dessen Arce zu seinem Nachfolger, der im Oktober 2020 – ein Jahr nach dem Putsch – tatsächlich zum Präsidenten gewählt wurde. Danach kam es jedoch zum Bruch zwischen den beiden. Im aktuellen Konflikt zwischen Arcistas und Evistas geht es nun um nicht weniger als die Kontrolle über die MAS selbst und über die Ausrichtung der Partei.
Die jüngsten Straßenblockaden sind ein Beleg dafür, dass Morales immer noch eine breite, motivierte Basis mobilisieren kann. Die sogenannten Bloqueos haben eine lange Geschichte in Bolivien und waren Merkmal zahlreicher sozialer Konflikte. 1999, während der Wasserkriege in Cochabamba, schloss sich eine Gruppe von Bäuerinnen, Fabrikarbeitern und Gemeindeaktivistinnen zusammen und verbarrikadierte die Straßen als Reaktion auf ein neues neoliberales Gesetz, mit dem die Wasserversorgung privatisiert worden wäre. Auch nach dem gewaltsamen Putsch von Luis García Meza im Jahr 1980 blockierten Bäuerinnen und Bauern die Straßen, um das Militär daran zu hindern, durch das Land zu ziehen. Es kam zu harter Repression. In jüngerer Zeit, beispielsweise 2020, blockierten Bergarbeiter und Bauernbewegungen die Zufahrtstraßen in die Städte, um die Interimspräsidentin Áñez zu zwingen, Wahlen abzuhalten. Sie hatte fast ein Jahr lang eine Putschregierung geführt, die von Bestechung, Korruption und Massakern geprägt war.
»Seit vergangenem Jahr herrscht akute Dollarknappheit und die Währung Boliviano wurde abgewertet. Konkret bedeutet das einen Wertverlust von 20 Prozent der in der Landeswährung gehaltenen Ersparnisse.«
Die Blockaden gehen von einer Fraktion innerhalb der MAS aus. Dazu muss betont werden, dass die MAS weniger eine traditionelle politische Partei ist, als vielmehr eine sich wandelnde Koalition aus unterschiedlichen und manchmal antagonistischen sozialen Kräften an der Basis. Die Neugründung Boliviens als »plurinationaler« Staat im Jahr 2009 wurde als Ausdruck dieser pluralistischen sozialen Kräfte gesehen. Die Mischung galt bisher auch als Gegenentwurf zu dem, was der bolivianische marxistische Intellektuelle René Zavaleta Mercado als »sociedad abigarrada« (dt. in etwa: »uneinheitliche, ungeeinte Gesellschaft«) bezeichnete – eine Gruppe von Menschen, die innerhalb der Grenzen eines (kolonialen) Nationalstaates sehr unterschiedliche Produktionsweisen, historische Epochen und auch Regierungsformen umfasst.
In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Unterschiede und Spannungen innerhalb der MAS allerdings destruktiv auf Bewegungen wie Bergbaukooperativen, Kokaanbauer, die Bauernschaft insgesamt und die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Städten ausgewirkt. Sie sind intern gespalten; viele haben inzwischen parallel agierende Führungsstrukturen.
Ein Beispiel dafür ist der mächtige Bauerngewerkschaftsbund (Confederación Sindical Unica de Trabajadores Campesinos de Bolivia, CSUTCB), der ebenfalls gespalten ist: Wer Morales nahesteht, wie der derzeitige Vorsitzende Ponciano Santos, befürwortet weitere Straßenblockaden, sollten die Forderungen nach Justizwahlen nicht umgehend erfüllt werden. Santos war im vergangenen Jahr gewählt worden – während des nationalen Kongresses des CSUTCB, der in Schlägereien zwischen Evistas und Arcistas endete. Viele Mitglieder des Gewerkschaftsbundes erkennen Santos nach wie vor nicht als Vorsitzenden an.
2023 waren auch Arce und sein Vizepräsident David Choquehuanca während des MAS-Kongresses aus der Partei ausgeschlossen worden.
Zu den aktuellen politischen Problemen für Arce kommt hinzu, dass die wirtschaftlichen Prognosen für Bolivien düster aussehen. Seit vergangenem Jahr herrscht akute Dollarknappheit und die Währung Boliviano wurde abgewertet. Wie der Wirtschaftswissenschaftler Stasiek Czaplicki Cabezas feststellt, bedeutet die Währungsabwertung einen Wertverlust von 20 Prozent der in der Landeswährung gehaltenen Ersparnisse. Für viele Bolivianerinnen und Bolivianer, insbesondere für die Mittelschicht, ist die finanzielle Zukunft daher höchst ungewiss. Das erhöht den Druck auf Arce. Insbesondere ist der an der britischen Universität Warwick ausgebildete Ökonom nun gefordert, seine wirtschaftspolitische Kompetenz zu beweisen.
Die Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen 2025 müssen noch in diesem Jahr bestimmt werden. Der Druck und der Anspruch von beiden Seiten, den MAS-Apparat vollständig zu führen, wird daher immer größer. Gleichzeitig sorgt der langwierige Konflikt zwischen Arcistas und Evistas in den sozialen Bewegungen Boliviens für Zündstoff. Die Basis ist gespalten. Darüber hinaus untergräbt das Gerangel um die Justizwahlen das Vertrauen der Öffentlichkeit in die demokratischen Organe des Staates und dürfte die Legitimität der zukünftigen Führung – wer auch immer sie stellt – schwächen.
Die bolivianische Politik ist somit stärker polarisiert als je zuvor.