05. März 2025
Die Schuldenbremse wird gekippt – aber nur für Rüstungsausgaben. Mit diesem Deal mit der Merz-CDU gibt sich die SPD endgültig auf.
Hat schlecht verhandelt: SPD-Chef Lars Klingbeil.
Eines kann man Friedrich Merz nicht absprechen: Er hat wahrscheinlich seinen Machiavelli gelesen. Der berühmte Denker aus Florenz schrieb in seinem Buch Der Fürst, der Regent müsse Grausamkeiten, die er für nötig hält, direkt zu Beginn seiner Herrschaft verüben, während Wohltaten über den gesamten Zeitraum gestreckt verteilt werden sollten. Zynisch könne der Fürst auf das Vergessen der Menschen setzen. Diesen Zynismus kann man dieser Tage live und in Farbe beobachten.
Hatten die Unionsparteien vor der Bundestagswahl noch abenteuerlich behauptet, um die Ausgaben für Verteidigung zu erhöhen, stehe »nicht in erster Linie die Lockerung oder gar Aufhebung der Schuldenbremse im Raum«, sondern man werde »das ganze Bürgergeldsystem neu aufstellen« und mit dem vorhandenen Geld auskommen, fielen sie nach der Wahl schneller um als Kegel auf der Bowlingbahn. Am 4. März wurde bekannt, dass sich Union und SPD schon nach kaum einer Woche Sondierungen auf einen Deal geeinigt hätten. Demnach sollen durch eine Grundgesetzänderung künftig Verteidigungsausgaben, die über 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen, nicht auf die sogenannte Schuldenbremse angerechnet werden.
Die Schuldenbremse wird damit faktisch abgeschafft – aber eben nur für Rüstung. Für den Bereich Infrastruktur Bund/Länder/Kommunen soll ein Sondervermögen geschaffen werden, über das in einem Zeitraum von zehn Jahren 500 Milliarden Euro Investitionen insbesondere in »Zivil- und Bevölkerungsschutz, Verkehrsinfrastruktur, Krankenhaus-Investitionen, Investitionen in die Energieinfrastruktur, in die Bildungs-, Betreuungs- und Wissenschaftsinfrastruktur, in Forschung und Entwicklung und Digitalisierung« ermöglichet werden sollen, wobei davon 100 Milliarden Euro den Ländern und Kommunen vorbehalten werden sollen. Die Länder, die sich bislang unter der Schuldenbremse gar nicht mehr verschulden dürfen, sollen künftig (wie der Bund) eine jährliche Neuverschuldung in Höhe von 0,35 Prozent des BIP eingehen können.
Damit die Aufrüstung schneller vonstatten geht, wurde noch ein »Planungs- und Beschaffungsbeschleunigungsgesetz für die Bundeswehr« verabredet. Forderungen nach einer allgemeinen Reform der Schuldenbremse werden hingegen im letzten Punkt des Deals auf eine einzusetzende »Expertenkommission« vertröstet, die »einen Vorschlag für eine Modernisierung der Schuldenbremse entwickelt, die dauerhaft zusätzliche Investitionen in die Stärkung unseres Landes ermöglicht«.
In der bürgerlichen Presse und selbst unter einigen fortschrittlichen Ökonomen wird diese Einigung als Durchbruch oder gar als Sieg der SPD gefeiert – eben weil es nicht nur mehr Geld für Rüstung, sondern auch für die Infrastruktur geben wird. Diese Einschätzung beruht, freundlich gesprochen, auf einem Missverständnis oder einer bemerkenswerten politischen Naivität. Vielmehr handelt es sich bei diesem Deal um einen folgenschweren Ausverkauf der Sozialdemokratie, einen Schlag ins Gesicht für die Demokratie und einen empfindlichen Rückschlag für die gesellschaftliche Linke insgesamt. Man muss schon sehr naiv sein, um die hehren Bekenntnisse der Union zu Mehrausgaben und Kreditaufnahme für bare Münze zu nehmen.
Was daran sozialdemokratisch sein soll, nur und einzig die Rüstungsausgaben von der Schuldenbremse auszunehmen, für alle anderen Zwecke aber im Umfang begrenzte Sondervermögen aufzunehmen, die dann wiederum von der Zustimmung der Union abhängig sein werden, bleibt das Geheimnis der SPD-Führung. Ausgaben für Verteidigung werden künftig nicht mehr mit anderen konkurrieren, während andere Bereiche weiterhin dem Korsett der Schuldenbremse unterworfen bleiben. Und die Union wird nicht so naiv sein wie die SPD und sich jedes Zugeständnis für soziale und ökologische Zwecke teuer (und für die sozialdemokratische Seele schmerzhaft) bezahlen lassen.
»Indem die SPD sich darauf einlässt, bereits vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags der Union ihren Herzenswunsch zu erfüllen, die Schuldenbremse ausschließlich für Rüstungsausgaben aufzuheben, gibt sie faktisch alle machtpolitischen Hebel aus der Hand.«
Die vorliegende Einigung ist zudem demokratiepolitisch ein Offenbarungseid. Union und SPD haben mit keiner anderen Partei gesprochen, erwarten aber jetzt ganz selbstverständlich, dass die Grünen im bisherigen, eigentlich bereits abgewählten 20. Bundestag eine Grundgesetzänderung mittragen. Im neuen, 21. Bundestag, der spätestens am 25. März zusammentritt, wäre eine grundgesetzändernde Zweidrittelmehrheit noch mit Hilfe der Grünen und der Linkspartei möglich, wenn die AfD wie bisher außen vor bleiben soll.
Rein formal ist es zulässig, den alten Bundestag noch einmal zusammenzurufen. Demokratiepolitisch ist es jedoch ein Affront. Nicht nur, weil die neuen gewählten Volksvertreterinnen und -Vertreter bereits im Wartestand bereit stehen; nicht nur, weil es sich um eine Verfassungsänderung handelt und keine einfachgesetzliche Regelung. Dieses Vorgehen ist auch verwerflich, weil eine ernsthafte Debatte so lange durch die falschen Beteuerungen der Union verhindert wurde und so manche Wählerin ihr Kreuz womöglich anderswo gemacht hätte, wären ihr etwaige Absichten und Bereitschaften von Schwarz-Rot bekannt gewesen.
Das Vorgehen der SPD ist auch im Hinblick auf fehlende Sachgerechtigkeit der Vereinbarung und machtpolitisch verheerend. Die vereinbarten 500 Milliarden Euro werden absehbar nicht reichen, um den aufgestauten Investitionsbedarf abzuarbeiten. Vor der Corona-Pandemie hatten die gewerkschaftsnahe Hans Böckler-Stiftung und das arbeitgebernahe Kölner Institut der Wirtschaft (IW) Investitionen in Höhe von 450 Milliarden Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren gefordert. Sechs Jahre und eine Phase hoher Inflation, nicht zuletzt im Bausektor, später wird eine merklich höhere Summe notwendig sein. Die für das Sondervermögen verabredete Summe wird vorne und hinten nicht reichen.
»Weil die SPD sich hat über den Tisch ziehen lassen, wurde die historische Chance, die Schuldenbremse wieder abzuschaffen, wahrscheinlich verspielt. Anstatt dass die Union auf SPD, Grüne und Die Linke angewiesen ist, brauchen nun diese Parteien die Union.«
Das Deutsche Institut für Urbanistik veranschlagte bereits 2023 alleine den Investitionsbedarf »für den Erhalt und die Erweiterung von Schienennetzen, Straßen und Wegen in deutschen Städten, Landkreisen und Gemeinden bis 2030« auf rund 372 Milliarden Euro. Laut Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau belief sich der kommunale Investitionsstau im vergangenen Jahr bereits auf 186 Milliarden Euro. Obendrauf bleibt das Problem, dass Kommunen und Landkreise vielfach verfügbare Mittel gar nicht abrufen können, weil ihnen fachkundiges Personal fehlt oder die Kapazitäten im Baugewerbe ausgelastet sind.
Indem aber die SPD sich darauf einlässt, bereits vor der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestags der Union ihren Herzenswunsch zu erfüllen, die Schuldenbremse ausschließlich für Rüstungsausgaben aufzuheben, gibt sie faktisch alle machtpolitischen Hebel aus der Hand. Ohne den vorliegenden Deal hätte gegolten: Die Union braucht bald im 21. Bundestag SPD, Grüne und Die Linke, um Größeres durchzusetzen. Will sie mehr für Verteidigung ausgeben, muss sie den fortschrittlichen Parteien entgegenkommen – die AfD kann ihr für eine grundgesetzändernde Mehrheit nicht helfen. Selbst eine völlige ersatzlose Abschaffung der Schuldenbremse wäre auf Geheiß der Linkspartei zumindest auf den Verhandlungstisch gekommen.
Wenn der vereinbarte Deal aber durchkommt, hat die Union das für sie Wichtigste schon abgeräumt, und jede künftig Regierungsmehrheit kann Aufrüstung nach Wunsch betreiben, ohne dass (wie während der Ampelkoalition) eine Ausgabe mit der anderen konkurriert. Dabei hätte die SPD im Grund nichts weiter tun brauchen, als abzuwarten sowie auf der demokratischen Gepflogenheit zu bestehen, dass Verfassungsänderungen nicht ohne breitere Debatte und nicht mit der Brechstange erfolgen sollten.
Weil die SPD sich hat über den Tisch ziehen lassen, wurde die historische Chance, die Schuldenbremse wieder abzuschaffen, wahrscheinlich verspielt. Anstatt dass die Union auf SPD, Grüne und Die Linke angewiesen ist, brauchen nun diese Parteien die Union. Es ist vollkommen unverständlich, dass die SPD nicht auf den neuen Bundestag und darin auf Die Linke als ›strategische Reserve‹ setzen wollte. Obwohl doch die Merz-Union gerade erst mit ihren abschottungspolitischen Initiativen gezeigt hatte, dass sie nicht darum verlegen ist, im Fall der Fälle selbst die Stimmen der AfD einzupreisen; obwohl die SPD gerade erst aus einer Regierungskoalition kommt, die nicht zuletzt am häufigen Wortbruch einer der Partner (FDP) zerbrochen ist; obwohl die Union als Koalitionspartnerin bereits unter Angela Merkel mehrmals bei wichtigen Punkten wortbrüchig wurde – warum sollte sie es beim Thema Schuldenbremse nicht wieder genauso machen, oder zumindest sich jedes Entgegenkommen zu einem astronomisch hohen politischen Preis abkaufen lassen?
Stattdessen bleibt die Sozialdemokratie in Schockstarre. Es könnte, ja es müsste die Stunde der Jusos sein, um diesen historischen Fehltritt ihrer Partei zu stoppen. Doch vom SPD-Parteinachwuchs scheint – wieder einmal – nicht mehr erwartbar zu sein als ein folgenloser Sturm im Wasserglas. Zynisch gesprochen ist diese SPD immerhin in einem zuverlässig: Sie verpasst nie die Gelegenheit, eine Gelegenheit zu verpassen.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.