03. März 2025
Weil Union, SPD und Grüne bei der Bundestagswahl Stimmen eingebüßt haben und keine Zweidrittelmehrheit mehr stellen, will Friedrich Merz mit den alten Mehrheiten noch schnell die Verfassung ändern. Dieser antidemokratische Coup darf ihm nicht gelingen.
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz will mit einem verfassungsrechtlich zweifelhaften Manöver die Sperrminorität umgehen.
Die neuen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, besonders das unerwartet gute Abschneiden der Linken, könnte die Merz-CDU, SPD und Grüne zu einem regelrechten antidemokratischen Coup verleiten. Es gibt dieser Tage viel Gerede von der bedrohten liberalen Demokratie, die die Parteien der Mitte zu verteidigen vorgeben. Wie ernst sie es damit meinen, wird sich dadurch zeigen, wie sie damit umgehen, dass eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nur noch mit der Linken oder der AfD erzielbar ist. Die Parteien der Mitte könnten ihre herben Verluste und den fehlenden Rückhalt innerhalb der Bevölkerung nun dadurch wettmachen, dass sie Entscheidungen, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen werden können, an der Zweidrittelmehrheit vorbeischleusen – ganz in trumpistischer Manier.
Aufgrund der neuen Mehrheitsverhältnissen haben Union und Friedrich Merz einen Tag nach der Wahl Gespräche anberaumt, mit dem Ziel, noch mit den alten Mehrheiten Entscheidungen herbeizuführen. Es wird vor allem um die Schuldenbremse gehen, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit reformiert werden kann, da sie in der Verfassung verankert ist. Es geht also um genau die Schuldenbremse, die die Union noch im Wahlkampf erbittert verteidigte. Auch die Union will sich diese ökonomische Schlinge nicht um den Hals legen, wenn sie selbst regiert.
Es bleibt abzuwarten, wie die künftigen Oppositions-Grünen auf dieses antidemokratische Manöver reagieren; Robert Habeck soll bereits angedeutet haben, dass er dabei mitziehen würde. Dass die Grünen sich dazu sofort bereit erklärt haben, verdeutlicht einmal mehr, wie wenig man in der Partei versteht, politische Macht wirksam einzusetzen.
Ein anderes Kampffeld, bei dem es ebenso einer Zweidrittelmehrheit bedarf, sind die Wahlen der Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht leitet seine Legitimität seit Bestehen daraus ab, dass seine Mitglieder über Parteigrenzen hinweg Ansehen genießen und nicht von einfachen, politischen Koalitionsmehrheiten bestimmt werden. Auch die Opposition ist somit an den Wahlen der Richterinnen und Richter einzubinden. Es geht also um nicht weniger als das Legitimationsprinzip des Gerichtes.
Laut Grundgesetz werden die Richterinnen und Richter je zur Hälfte vom Bundestag und Bundesrat gewählt. Das sogenannte Bundesverfassungsgerichtsgesetz erfordert, dass ein Kandidat oder eine Kandidatin eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen im Bundestag auf sich vereinigen muss. In der kommenden Legislatur sind mehrere solcher Wahlen durch den Bundestag vorgesehen. Aktuell versucht die Union mit Ach und Krach den erzkonservativen Kandidaten Robert Seegmüller gewählt zu bekommen.
»Union, SPD und Grüne könnten eine Blockade simulieren, um das Wahlrecht auf den Bundesrat übergehen zu lassen – wo die Mehrheitsverhältnisse in ihrem Sinne sind.«
Es wird nun interessant sein, wie Union, SPD und Grüne damit umgehen, dass sie einen Kandidaten nur mit Unterstützung der Linken wählen können – ein Novum. Die Grundprämisse bei den Aushandlungen der beteiligten Parteien ist, dass jede Partei, im Verhältnis zu ihrer Größe, ein für alle akzeptables Vorschlagsrecht für die Wahl der sechszehn Richterinnen und Richter hat. So ist die bisherige Praxis.
Dass es für die Union eine unerträgliche Vorstellung ist, dass die Linke erstmals das Vorschlagsrecht für eine Richterin oder einen Richter bekäme, dürfte selbsterklärend sein. Offen bleibt, wie SPD und Grüne sich verhalten werden. Denkbar wäre, dass sie sich dem Unvereinbarkeitsbeschluss der Union unterwerfen und die Linke wie die AfD gleichermaßen ausschließen. Das liegt nahe, sollten beide Parteien ihre künftigen Machtoptionen vor allem als Juniorpartner der Union sehen und eine andere Machtperspektive – etwa mit der Linken – für unrealistisch halten.
Der Bundestag hat noch im Dezember 2024 eine Reform zur »Resilienz des Bundesverfassungsgerichtes« verabschiedet. Darin enthalten ist unter anderem eine der Regelungen, die durch eine Grundgesetzänderung vorsieht, dass das Wahlrecht des Bundestages durch einen Notfallmechanismus auf den Bundesrat übergeht. Ein solcher Notfall ist etwa gegeben, wenn wenn es zu einer Blockade kommt und eine Wahl gar nicht mehr zustande kommt. Diese Regelung könnte nun nicht nur gegen die AfD, sondern auch gegen die Linke – die dem Gesetz damals zustimmte – in Stellung gebracht werden.
»Sollte die Zweidrittelmehrheit abgeschafft werden, würde das dazu führen, dass dem Bundesverfassungsgericht dasselbe Schicksal blüht, wie dem US-amerikanischen Supreme Court: Das Gericht würde zu einem politischen Schlachtfeld.«
Dieser Notfallmechanismus darf aber nicht zur Regel werden, weil sonst die ebenfalls im Grundgesetz vorgesehene Regelung, dass die Hälfte der Richterinnen und Richter vom Bundestag gewählt werden muss, unterlaufen würde. Dennoch könnten sich nun Union, SPD und Grüne darauf verständigen, es in dieser Legislatur bei jeder Richterwahl darauf ankommen zu lassen. Sie könnten also eine Blockade simulieren, um das Wahlrecht auf den Bundesrat übergehen zu lassen – wo die Mehrheitsverhältnisse in ihrem Sinne sind. Die Entscheidung darüber, ob dieses verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Verhalten durchgehen wird, liegt am Ende bei einer anderen Instanz: nämlich dem Bundesverfassungsgericht selbst.
Ebenso wäre denkbar, dass das Bundesverfassungsgerichtsgesetz geändert wird, das die Zweidrittelmehrheit vorschreibt. Für diese Gesetzesänderung ist keine Zweidrittelmehrheit nötig, weil es kein Verfassungsgesetz, sondern ein »einfaches«Gesetz ist. Sollte die Zweidrittelmehrheit abgeschafft werden, würde das dazu führen, dass dem Bundesverfassungsgericht dasselbe Schicksal blüht, wie dem US-amerikanischen Supreme Court. Das Gericht würde zu einem politischen Schlachtfeld, jede Koalition könnte es mit einfacher Mehrheit mit eigenen Kandidatinnen und Kandidaten besetzen, ohne Einbindung der oppositionellen Parteien. Die Entscheidungen des Gerichtes würden vor allem damit ihrer Autorität beraubt – schließlich würden bei der Urteilsfindung Richterinnen und Richter mitentschieden, die von bestimmten politischen Koalitionen berufen wurden.
Wollen Union, SPD und Grüne das wirklich? Gerade SPD und Grüne sollten sich gut überlegen, ob sie sich der CDU beugen und ob sie AfD und Linke als gleichzusetzende Extreme behandeln wollen. Die Linke wiederum hat spätestens beim Urteil zum Berliner Mietendeckel gesehen, wie stark politische Gestaltungsmacht auch vom Bundesverfassungsgericht abhängt. Das Gericht entschied damals nicht, ob ein bundesweiter Mietendeckel – eine Forderung, mit der die Partei nun auch in den bundesweiten Wahlkampf ging – zulässig wäre. Es hat in seiner kontroversen Entscheidung vielmehr die fehlende Landeskompetenz gerügt.
Die Linke sollte auf ihr Vorschlagsrecht pochen und dieser Frage Priorität beimessen. Während die zentristischen Parteien so sehr an Rückhalt verloren haben, dass sie keine Zweidrittelmehrheit mehr stellen – der Wahlsieger Merz hat nicht zuletzt das zweitschlechteste Ergebnis der CDU eingefahren –, hat die Linke hingegen hat ein starkes Ergebnis und die neuen Mehrheitsverhältnisse im Rücken. Das gilt es jetzt zu nutzen.
Moheb Shafaqyar ist Rechtsanwalt auf dem Gebiet des Öffentlichen Rechts sowie Verordneter der Linken und Vorsitzender im Ausschuss für Stadtentwicklung und Wohnen in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg.