16. September 2020
Bei den US-Vorwahlen in Missouri stieß die Black-Lives-Matter-Aktivistin Cori Bush den zentristischen Demokraten und zehnfachen Amtsinhaber Lacy Clay vom Thron. Der Sieg kam überraschend. Im Gespräch mit Jacobin erzählt sie, wie sie ihre Erfahrungen als Aktivistin in den Kongress tragen wird.
Cori Bush, Aktivistin und ehemalige Krankenschwester, siegte gegen den etablierten Demokraten Lacy Clay.
Am 4. August besiegte Cori Bush den zehnfachen Amtsinhaber William Lacy Clay bei der Nominierung der Demokraten für Missouris ersten Kongresswahlbezirk. In diesem demokratisch geprägten Bezirk gilt ihr Sieg bei der bevorstehenden Wahl im November als gesichert.
Bushs Erfolg markiert das Ende von fünfzig Jahren Kontrolle durch Clay und seinen Vater vor ihm. Damit würde sie die erste schwarze Frau werden, die diesen Bezirk repräsentiert. Nach dem Mord an Michael Brown im Jahr 2014, dem Freispruch von Jason Stockley sowie dem Mord an Anthony Lamar Smith war Bush eine zentrale Figur in der Black-Lives-Matter-Bewegung in St. Louis.
Neben Bushs Sieg bestätigen auch andere Wahlergebnisse einen politischen Wandel in St. Louis, so sind Staatsanwältin Kim Gardner und Schatzmeisterin Tishuara Jones wiedergewählt worden – allesamt Women of Color, die als progressiv gelten und die etablierte Demokraten besiegten, obwohl die Chancen für sie schlecht standen. Und noch vor gerade einmal zwei Jahren verlor Bush mit 20 Punkten gegen Clay. Diese Niederlage wurde in der Netflix Dokumentation Knock Down the House festgehalten, in der auch ihre baldige Kollegin Alexandria Ocasio-Cortez porträtiert wird.
Bush ist stolz auf ihre aktivistische Karriere: »Ich bin, wie viele andere in dieser Stadt, seit Jahren auf der Straße und wir setzen unsere Körper, unsere Jobs und unseren Lebensunterhalt aufs Spiel, Tag für Tag. Doch wir wurden von jemandem repräsentiert, der in diesen Kämpfen nicht auf unserer Seite war.«
»Der Vater des Amtsinhabers ist 1968 in dieses Amt gewählt worden«, erzählt uns Bush. »Man sah in ihm einen Bürgerrechtsaktivisten und eine Person von der Straße. So eine Führung wünschten sich die Leute damals. Doch seither hat sich viel geändert.« Lacy Clay wurde für seine Nähe zu Großspendern wie JPMorgan Chase und Citibank kritisiert, und für seine Verbindungen zu Lobbygruppen wie der American Financial Services Association, Anheuser-Busch und Boeing. Außerdem stimmte er in der Vergangenheit für die Deregulierung der Banken.
Clays versuchte Bush öffentlich schlechtzureden, indem er sie als isrealkritisch darstellte, da sie BDS (Boykott, Divestment, Sanctions) unterstützt. Dem entgegnete Bushs Kampagne, dass sie »mit dem palästinensischen Volk solidarisch ist, ebenso wie die Palästinenserinnen und Palästinenser solidarisch mit den schwarzen Amerikanerinnen und Amerikanern sind, die für ihr eigenes Leben kämpfen.« Diese Antwort lässt anklingen, dass Bush intendiert, die Forderungen aus den aktivistischen Bewegungen auf die Wahlebene zu heben – anstatt dem Druck etablierter Demokratinnen und Demokraten nachzugeben.
Das Rennen zwischen Clay – der im Vergleich zum Establishment der Demokraten selbst so etwas wie ein Progressiver ist – und der Aktivistin Cori Bush war in vielerlei Hinsicht symbolisch für den Scheideweg, an dem die demokratische Partei steht. Bezüglich der kontroversesten Punkte innerhalb der Partei – Medicare For All und der Green New Deal – haben sowohl Clay als auch Bush ihre Unterstützung bekundet. Doch danach wurden die tieferen Trennlinien im progressiven Lager deutlich.
So lehnte Clay die Versuche der Obama-Ära ab, die Kurzzeitkredit-Industrie zu beschränken. Bush wiederum stand persönlich auf der anderen Seite und war von den räuberischen Zinsfallen dieser Industrie selbst betroffen. Während Clay als Vorsitzender des Ausschusses für Wohnen, Nachbarschaftsentwicklung und Versicherungen an kleinschrittigen Reformen arbeitete, erlebte Bush mehrfache Zwangsräumungen und Obdachlosigkeit.
Gerade einmal zwei Monate vor der Ermordung Michael Browns am 9. August 2014 stimmte Clay gegen die Einschränkung von Transfers von Militärausrüstung an die örtliche Polizei. Mit denselben Waffen (Schallkanonen, MRAPs, M4-Karabiner, Tränengas und mehr) wurden wenig später Bush und viele andere während der Proteste in Ferguson eingeschüchtert und angegriffen. Nach dem Aufstand – und der Kritik, der sich Clay wegen seiner Stimmabgabe ausgesetzt sah – gestand er ein, dass es ein Problem mit Rassismus in der Polizei gibt. Doch Clay zufolge rühre das Problem lediglich daher, dass es einen Mangel an Diversität unter den Polizistinnen und Polizisten gebe. Bush wieder unterstützte eine ganze Reihe von Maßnahmen, die den Gefängnisapparat einschränken sollten: von Kürzungen des Polizeibudgets über die Schließung aller privaten Gefängnisse bis zur Abschaffung von Bargeld-Kautionen.
Kurzum, Bushs Politik wurde im – wortwörtlichen und metaphorischen – Feuer des gelebten Elends und des Graswurzel-Protests geschmiedet. Damit ist ihre Politik den gegenwärtigen Zeiten der Massenproteste und Hoffnungslosigkeit besser gewachsen. »Jetzt, mit diesen Protesten, gibt es wieder das Verlangen nach jemandem, der von der Straße kommt«, sagt Bush. Doch der Weg dahin war steinig.
»Die Leute haben mich Siegen gesehen und nannten das ›Black Girl Magic‹. Doch ich kann euch sagen, es war verdammt hart. Meine geflochtenen Zöpfe, die Größe meiner Hüften – über solche Dinge wurde mehr gesprochen als über die Politik, die ich vertrat. Wir reden nicht genug darüber, was mit schwarzen Frauen passiert, mit Frauen aus Minderheiten, Muslimas, Transfrauen, wenn wir uns dazu entscheiden, für ein Amt zu kandidieren […] Ich arbeitete in Vollzeit während ich den Wahlkampf organisierte. Wir machen für all das sehr viel durch – doch einfache Leute müssen im Kongress repräsentiert werden.«
Bush ist mit ihrer Politik eine unnachgiebige progressive Herausforderin. Im Gespräch betonte sie: »Nach dem Ausbruch von COVID-19 konnte jeder verstehen, warum ich Medicare For All bereits seit 2016 einfordere.«
Bush hatte selbst inmitten ihrer Kampagne mit dem Coronavirus zu kämpfen. Zwei Monate war sie außer Gefecht. »Doch drei Tage nach meiner Genesung waren wir wieder auf der Straße, um wegen des Mordes an Breonna Taylor zu protestieren. Wenn die Menschen nicht verstanden, warum ich seit 2014 in die Bewegung involviert bin, dann sehen sie jetzt die Hartnäckigkeit und den langen Atem dieser Selbstverpflichtung.« Die progressive Haltung wird – in Wellen – zur Mehrheitsmeinung. Das ist stimmt vor allen Dingen für Themen der Polizeigewalt und den Zugang zu Gesundheitsversorgung.
Bushs Wahlprogramm fordert unter anderem stärkere soziale Absicherung, den Green New Deal, Medicare for All und den Zugang zu Wohnraum als universelles Menschenrecht. Das bedeutet insbesondere Unterstützung für geringverdienende Schwarze und Latinos, Mietkontrollen und mehr öffentlichen Wohnungsbau. Zugleich versprach Bush, räuberische Kreditpraxis zu bekämpfen, Gewerkschaften zu stärken, sich für ein national gefördertes öffentliches Bankenwesen sowie einen Mindestlohn von 15 Dollar einzusetzen, und umfassende Reformen des Strafrechts und der öffentlichen Sicherheit durchzusetzen.
Doch aktuell wäre Bushs erste Amtshandlung, so sie gewählt wird, Druck für ein weiteres Pandemie-Rettungspaket aufzubauen. Jacobin teilt sie mit: »Wir fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen von 2.000 Dollar pro Monat, welches rückwirkend für die Zeit der Konjunktur-Schecks über 1.200 Dollar gilt, und bis zum Abklingen der Pandemie gültig bleiben wird; es soll für ein weiteres Jahr keine Zwangsräumungen geben; und wir müssen in öffentliche Schulen investieren, damit Kinder unabhängig von ihrer Lernumgebung erfolgreich sein können.« Bush fährt fort: »Man wird uns erzählen, dass wir uns zwischen Geld für Sozialprogramme und Geld für Konjunktur-Schecks entscheiden müssen. Doch das müssen wir nicht – wir können beides haben.«
Aufgrund dieser Haltung wurde Bushs Sieg mit dem von Alexandria Ocasio-Cortez bei den New Yorker Vorwahlen von 2018 verglichen. Beide Frauen waren in sozialen Bewegungen eingebunden und gingen aus ihnen hervor. Beide kommen aus der Arbeiterinnenklasse und beide haben durch ihren Sieg dynastische zentristische Demokraten von ihren Posten verdrängt.
Gemeinsam mit Rashida Tlaib, Ilhan Omar, Ayanna Pressley und einer ganzen Reihe weiterer Women of Color wird Cori Bush aller Wahrscheinlichkeit nach Teil der wachsenden Kraft progressiver Kongressmitglieder. Seit diesem Jahr gehören auch Jamaal Bowman und Mondaire Jones dazu, die beide aus New York stammen.
Vielerorts wird diese neue Welle auch als Ergebnis der bewusstseinsbildenden sozialen Bewegungen verstanden, die wir seit der Finanzkrise 2008 erlebten, wie zum Beispiel Occupy Wall Street. Neuerdings sieht man den Erfolg dieser progressiven, schwarzen Kandidatinnen und Kandidaten auf allen staatlichen Ebenen in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Formen der Fürsprache, Weiterbildung und Transformation des öffentlichen Diskurses, die ein Ergebnis der 2013 gegründeten Black-Lives-Matter-Bewegung sind.
In diesem Zusammenhang wuchsen auch Gruppen wie das Electoral Justice Project, das Black Youth Project 100 und die fortlaufenden Kampagnen zur Abschaffung der Polizei. Waleed Shahid, Sprecher der Justice Democrats, sagt über Bush: »Sie wird von dieser Bewegung getragen und der Ursprung dieser Bewegung ist in Ferguson.«
Nach dem Protesten in Ferguson spielte Bush eine zentrale Rolle in der Kampagne für einen Mindestlohn von 15 Dollar, war im Jahr 2015 Mitbegründerin des Truth Telling Projects und setzte sich gemeinsam mit Gewerkschaften und den Democratic Socialists of America (DSA) gegen die sogenannten »Right-to-Work-Gesetze« in Missouri ein, die auf eine Schwächung der gewerkschaftlichen Organisierung und Tarifbindung abzielen. Bush protestierte außerdem an der Seite von Umweltaktivistinnen und -aktivisten und unterstützte die Schließung des St. Louis Schuldnerinnen-Gefängnisses: das sogenannte »Workhouse«. Nach diesen Kämpfen wandte sie sich der parlamentarischen Arena zu.
Die Justice Democrats gründeten sich nach der Niederlage von Bernie Sanders 2016. Ziel war es, progressive Kandidatinnen und Kandidaten zu unterstützen und aufzubauen. Im Jahr 2017 war Cori Bush ihre erste Kandidatin. Nach den Ergebnissen am 4. August dankte sie ihnen für ihre Unterstützung, ebenso wie der Sunrise Movement, den DSA, Our Revolution und Bernie Sanders. Letzterer hatte um die 100.000 Dollar für ihre Kampagne gesammelt.
Bushs Sieg bei den Vorwahlen liegt nun über einen Monat zurück. Und obwohl ihr Sieg gegen den republikanischen Anthony Rogers quasi garantiert ist, hat sie nicht aufgehört, Druck für ihre progressive Politik zu machen, ganz besonders in St. Louis.
Ende Juli votierten die Stadträte von St. Louis für die Schließung des als »Workhouse« bekannten Schuldnerinnengefängnisses. Einige unternehmensfreundliche Demokratinnen und Demokraten versuchten in einer Lockvogeltaktik den St. Louis Lambert International Airport zu privatisieren. Doch Bush lehnte die Privatisierung ab, wie die meisten anderen progressiven Kräfte und Gewerkschaften in der Region. Sie möchte ihr Amt als Repräsentantin des Kongresses nutzen, um auf lokale Probleme wie diese aufmerksam zu machen.
Der Co-Vorsitzende der DSA in St. Louis, Chris Ottolino, stimmt ihr zu: »Seit Coris Sieg konnten wir bereits beobachten, wie sie die Parallelen zog – was sie mit dem Flughafen von St. Louis versuchen ähnelt den Angriffen auf die Post auf nationaler Ebene sehr.« Seit ihrem Sieg hat Bush bereits diverse andere progressive Kandidatinnen und Kandidaten unterstützt – unter anderem Adrienne Belle, die im 14. Bezirk von Texas antritt.
Selbst wenn Joe Biden und Kamala Harris im November Trump schlagen, haben die wenigen progressiven Repräsentantinnen und Repräsentanten nur begrenzte Möglichkeiten, um jene weitreichenden Veränderungen durchzusetzen, welche Bewegungen wie Black Lives Matter anstreben – zumindest kurzfristig gesehen. Dies gilt umso mehr für den ersten Bezirk Missouris, in dem schwarzer Protestbewegungen immer wieder politische Kräfte mobilisierten, die progressive Afro-Amerikanerinnen und Afro-Amerikaner als Repräsentantinnen und Repräsentanten in den Kongress gebracht haben.
»Teil des unausgesprochenen Versprechens dieser nicht-weißen Vertretung ist, dass soziale, wirtschaftliche und politische Dynamiken sich verändern können, wenn Personen von marginalisierten Gruppen an der Spitze stehen. Doch wenn es um Politik für Schwarze geht, war Symbolpolitik viel zu häufig der Ersatz für wirkliche Veränderungen im Leben schwarzer Menschen«, schrieb Keeanga Yamahtta-Taylor kürzlich im New Yorker.
Im vergangenen August wurde Kamala Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin für Joe Biden nominiert. Sie musste viel Kritik einstecken, da sie für die Vertiefung der Gefängniskrise in Kaliforniern mitverantwortlich war. Gleichzeitig unterstützte sie Clay gegen Bush. Diese Spaltung innerhalb der demokratischen Partei wird sich mit einem wachsenden linken Flügel im Kongress aller Wahrscheinlichkeit nach weiter verstärken.
Die Tatsache, dass man von gewählten Vertreterinnen nun wieder erwartet, für die schwächsten ihrer Wählerinnen und Wähler verantwortlich zu sein, ist ein Erfolg der sozialen Bewegungen der vergangenen Jahre. Doch angesichts der Struktur des Kongresses und den vor uns liegenden Verstrickungen, scheint es fast unmöglich, die Forderung nach wirklicher Rechenschaftspflicht zu erfüllen. Angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und der brutalen Auswirkungen der Pandemie auf die marginalisierten Communities der USA ist eine Sache klar: Die Minderheit progressiver Vertreterinnen und Vertreter im Kongress wird nicht reichen.
Bush pocht darauf, dass sie ihre Bühne als gewählte Repräsentantin nutzen und zugleich enge Beziehungen zu ihren Genossinnen und Genossen erhalten möchte. »Ich habe meine Stimme«, sagt sie, »und ich werde sie für lange Zeit nutzen. Ihr solltet nicht vergessen, dass ich nicht allein komme, sondern mit einer ganzen Community von Aktivistinnen und Aktivisten.« So gesehen versteht Bush die gewählte Vertretung nicht losgelöst vom Aktivismus: »Ich gehe in den Kongress als ›Politivistin‹ – ich bleibe verbunden. Wenn in meinem Bezirk etwas passiert und sie auf die Straße gehen, nun ja, dann komme ich eben zurück, gehe auf die Straße, und protestiere mit meinen Leuten. Ich muss nicht, wie einige behaupten, an der Seite stehen und zuschauen. Nur weil ich im Kongress bin, bedeutet das nicht, dass ich den Aktivismus an den Nagel hänge und abhaue – ich bleibe hier.«