04. März 2024
Internationale Gespräche mit dem Ziel, globale Pandemien zu verhindern, stehen kurz vor dem Scheitern. Das liegt vor allem daran, dass sich Staaten wie die USA, Kanada und Deutschland weigern, Kompromisse bei den Eigentums- und Patentrechten der großen Pharmaunternehmen einzugehen.
Eine Krankenschwester im Sylhet, Bangladesch bereitet eine Dosis des Oxford-AstraZeneca-Impfstoffs vor während der zweiten Phase der Covid-19-Impfkampagne, 10. April 2021.
Rückblickend sind sich die Virologinnen, Epidemiologen und weitere Fachleute einig, dass die Menschheit die COVID-19-Pandemie relativ glimpflich überstanden hat. Zwar sind fünf Millionen Personen direkt an dem Virus gestorben und nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es insgesamt etwa 15 Millionen Todesfälle mehr als in »normalen« Jahren, doch die allermeisten Infizierten haben die Erkrankung überstanden. SARS-CoV2 erwies sich letztlich nicht als das zivilisationsbedrohende Virus. Es war nicht »The Big One«.
Doch es ist klar, dass es weitere Pandemien geben wird. Das Auftreten neuartiger Infektionskrankheiten ist ein grundsätzlicher Teil des Lebens auf diesem Planeten; und ihre schnelle Ausbreitung über Grenzen hinweg ist ein Charakteristikum der Moderne – wir handeln, reisen, transportieren, migrieren mit hoher Geschwindigkeit und über Grenzen hinweg. Im 14. Jahrhundert dauerte es über ein Jahrzehnt, bis sich die Beulenpest über die Seidenstraße von Südwestchina bis nach Italien ausgebreitet hatte. Heute können Krankheitserreger von einem Urlauber auf dem Heimflug mitgenommen werden und an so einem einzigen Nachmittag den gesamten Erdball umrunden. Die Abholzung der Wälder verschlimmert die Bedrohung erheblich; aber selbst in einer Welt mit einem viel umfangreicheren Schutz der Wälder ließen sich derartige Ausbrüche nicht vermeiden.
Vielleicht haben wir bei der nächsten Pandemie erneut Glück. Die Chance, dass es in einem beliebigen Jahr zu einem erneuten Ausbruch mit ähnlichen Auswirkungen wie bei COVID-19 kommt, liegt nach einer Schätzung aus dem Jahr 2021 bei eins zu fünfzig. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der diesen Text liest, im Laufe seines Lebens eine weitere Pandemie dieses Ausmaßes erlebt, liegt bei immerhin 38 Prozent.
Dass ein weitaus schwerwiegenderer Erreger auftaucht – zum Beispiel einer mit der Ansteckungsfähigkeit von Masern und der Todesrate von Ebola, bei dem etwa zwei Drittel der Infizierten sterben – ist durch Übertragungseffekte, ungewollte Unfälle oder auch geplante Ausbrüche durchaus möglich.
Es gibt also eine allgegenwärtige Bedrohung. Die Erfahrungen mit den katastrophalen Reaktionen der Welt auf COVID-19 (aus denen wir lernen sollten), haben die Nationen der Welt dazu veranlasst, ein neues globales Pandemieabkommen zu erarbeiten. Wie Charles Michel, der scheidende Präsident des Europäischen Rates und ein früher Befürworter eines solchen Vertrages, schon 2021 schrieb: »Keine einzelne Regierung oder Organisation kann die Bedrohung durch künftige Pandemien alleine bewältigen.«
»Selbst wenn in letzter Minute eine Einigung für ein globales ›Pandemieabkommen‹ erzielt werden sollte, dürfte es keinen wirklichen globalen Durchsetzungsmechanismus geben.«
Ziel ist daher ein völkerrechtlich verbindlicher Pakt, um 1) die Verhinderung von Pandemien, 2) unsere Vorbereitung auf ihr Auftreten und 3) die Reaktion, wenn sie eintreten, zu verbessern.
Die meisten Menschen sind müde von Artikeln über »diese letzte« Pandemie, und die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen beherrschen die Nachrichten. Die Berichterstattung zu potenziellen Pandemie-Pakten beschränkt sich daher größtenteils auf die Fachpresse wie das British Medical Journal. Die jüngste Verhandlungsrunde begann am 19. Februar in Genf, aber es gab nicht den üblichen Wanderzirkus mit Tausenden Journalistinnen, Nichtregierungsorganisationen und Demonstrierenden wie beispielsweise bei den Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen (wobei Lobbyisten natürlich vor Ort sind).
Die Verhandlungsführer der westlichen Mächte konnten sich somit still und leise von jeglichem Gerechtigkeitsgedanken zwischen Industrie- und Entwicklungsländern distanzieren – im Dienste der Eigentums- und Patentrechte der Pharmaunternehmen. Schon die Bemühungen, überhaupt ein Gespräch über die für die Pandemievorsorge notwendigen Finanzmittel zu beginnen, sind im Sande verlaufen.
Diplomatinnen und Diplomaten räumen anonym ein, dass bei ähnlichen Verhandlungen (wie den UN-Klimagipfeln) in der Regel zumindest eine gewisse Bewegung auf allen Seiten zu erkennen ist, die sich dann schleichend auf einen Kompromiss zubewegen. Im besagten Pandemieabkommen-Fall bewegen sich die Vertreter des Globalen Nordens jedoch überhaupt nicht. Es bleiben nur noch zwei Verhandlungssitzungen, bevor der Vertragsvorschlag der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly), dem Entscheidungsgremium der WHO, zur Prüfung vorgelegt wird. Es wird intern offenbar befürchtet, dass die Gespräche ohne jegliche Fortschritte komplett scheitern könnten.
Abgesehen von den diplomatischen Spielchen: Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch wurden nur wenige bis gar keine Garantien für die Bürgerrechte aufgenommen. Und das, obwohl während der COVID-19-Pandemie mehrere Regierungen, sowohl autoritäre als auch vorgeblich demokratische, wiederholt gegen Menschenrechte und ebenjene bürgerlichen Freiheitsnormen verstoßen haben.
»Ohne klare und verbindliche Verpflichtungen zur Einhaltung von Menschenrechtsgesetzen und -standards im Vorfeld und während gesundheitspolitischer Notlagen hat die [COVID-19-]Krise zu einer Welle von Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch geführt«, mahnt die Menschenrechtsorganisation in einer Erklärung zu den derzeitigen Verhandlungen. »Die Regierungen haben Lockdowns, Quarantäne und andere Beschränkungen in einer Weise durchgesetzt, die oft in keinem Verhältnis zur Bedrohung der öffentlichen Gesundheit standen und die Menschenrechte unterminierte. In einigen Fällen haben die Regierungen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit als Mittel eingesetzt, um Randgruppen zu diskriminieren sowie Aktivistinnen und Oppositionelle ins Visier zu nehmen.«
Selbst wenn in letzter Minute eine Einigung für ein globales »Pandemieabkommen« erzielt werden sollte, dürfte es keinen wirklichen globalen Durchsetzungsmechanismus geben, warnen Fachleute aus dem Gesundheitswesen. Ohne solche Mechanismen würde der Zugang zu Impfstoffen im Globalen Süden wohl weiter mangelhaft bleiben – und das Unterfangen samt Vertragsunterzeichnung wäre kaum mehr als Symbolpolitik.
Bei den Gesprächen gibt es zahlreiche Meinungsverschiedenheiten zwischen Industrie- und Schwellenländern. Der Hauptstreitpunkt ist jedoch die Gegenleistung, die im Mittelpunkt des Verhandlungstextes steht: der sogenannte Zugangs- und Vorteilsausgleichsmechanismus, offiziell WHO Pathogen Access and Benefit-Sharing System (WHO PABS System).
Eine Zusammenfassung: Um das Übergreifen neuartiger Krankheitserreger aus tierischen Quellen besser überwachen zu können, ist Pandemieprävention unerlässlich. Dies erfordert den Ausbau der Labor- und Überwachungskapazitäten, einschließlich innovativer Instrumente für die Datenerfassung und Vorhersageanalyse in allen Staaten, vor allem aber in den ärmeren Ländern, in denen diese Kapazitäten bisher recht begrenzt sind und in denen das Risiko einer Übertragung am größten ist.
Damit eine solche Überwachung auf globaler Ebene funktioniert, muss sie angemessen finanziert und vor allem mit der gemeinsamen Nutzung von Daten, die bei der Überwachung anfallen, sowie mit der Zusammenarbeit zwischen Forschungszentren weltweit gekoppelt werden. Die gemeinsame Nutzung von Wissen ist eine wesentliche Voraussetzung für die schnelle genetische Sequenzierung von Krankheitserregern und die anschließende Produktion von Impfstoffen und Therapeutika.
Ein solcher Wissensaustausch birgt jedoch auch Risiken: ein mögliches Verbot von Reisen in und aus Ländern, die Informationen über Krankheitsausbrüche im eigenen Land ermittelt und weitergegeben haben, sowie Einschränkungen oder sogar der Zusammenbruch des Handels. Solche ökonomischen Risiken sind gerade für diejenigen am gravierendsten, die solche Handelsunterbrechungen am wenigsten verkraften können, namentlich die am wenigsten entwickelten Länder.
Als Gegenleistung für die Weitergabe von Wissen aus dem Globalen Süden soll sich der Globale Norden daher verpflichten, die Beobachtung und Kontrolle in diesen ärmeren Regionen mitzufinanzieren und den allgemeinen Zugang zu den »Früchten« der Überwachung – Impfstoffe und Arzneimittel – zu gewährleisten.
Während der COVID-Pandemie kamen die globalen Versorgungsketten, einschließlich der Vorprodukte für die Produktion von Impfstoffen und Arzneimitteln, an ihre Belastungsgrenze. Erst als die Regierungen der global führenden Staaten (insbesondere der USA durch ihre Anwendung des Defense Production Act aus Zeiten des Koreakriegs) viele Verteilungsentscheidungen aus den Händen der Privatwirtschaft nahmen, wurden lebenswichtige Güter nicht mehr an den Meistbietenden geschickt, sondern an die Orte, an denen sie am dringendsten benötigt wurden. Hier zeigte sich in tödlicher Weise, wie Märkte in Krisen funktionieren. Was profitabel ist, ist nicht unbedingt nützlich oder sinnvoll.
Mit Blick auf die nächste Pandemie sollten daher ausreichende Vorräte, eine globale Koordinierung der Verteilung und die schnelle Entsendung qualifizierter medizinischer Teams im Bedarfsfall zum Kern eines Abkommens gehören. Damit ein solches Abkommen im Interesse aller funktioniert, müssen derartige Aktivitäten aber auf tatsächlicher Bedarfsgrundlage und nicht mit Blick auf Profite durchgeführt werden. Außerdem muss eine umfangreiche, kontinuierliche und garantierte Finanzierung gewährleistet sein.
Die WHO kann nicht jedes Jahr mit dem Klingelbeutel zu ihren Geldgebern gehen. Wenn dies weiterhin passiert, werden nicht nur die Reaktions-, sondern auch die Monitoringfähigkeiten untergraben: Eine WHO mit knappen Kassen ist (noch) weniger in der Lage, Geldgeber wie China, die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union zu kritisieren, wenn diese ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, keine Daten weitergeben, keine Warnungen herausgeben oder riskante, biologisch unsichere Projekte in Angriff nehmen. Wir haben hier einen Interessenkonflikt zwischen einzelnen Staaten einerseits und der Weltgemeinschaft mit ihren Institutionen andererseits. Und: Die WHO kann nicht die Hand beißen, die sie (finanziell) füttert.
»Alles in allem scheinen wir es hier mit einem glasklaren Fall von unternehmerischer Gier und der Instrumentalisierung westlicher Regierungen für die Interessen der Pharmakonzerne zu tun zu haben.«
Die G20 haben verstanden, dass die Pandemie-Bekämpfungskapazitäten vor allem im Globalen Süden nicht ausreichen. Deshalb haben sie 2022 einen Pandemie-Fonds unter der Schirmherrschaft der Weltbank ins Leben gerufen, für den die WHO technisches Personal zur Verfügung stellt. Im vergangenen Jahr vergab der Fonds seine erste Runde von Zuschüssen in Höhe von mickrigen 338 Millionen US-Dollar. Von den Verwaltern des Fonds selbst heißt es, man benötige »wesentlich mehr«. Der Milliardär Bill Gates, der Pandemieprävention inzwischen zu einem Schwerpunkt seiner philanthropischen Arbeit gemacht hat, sagte letztes Jahr, ein von ihm so bezeichnetes »Global Epidemic Response Mobilization Team« unter Leitung der WHO würde die Welt das Dreifache, nämlich rund eine Milliarde Dollar pro Jahr, kosten. Freilich ist auch er dagegen, die Steuern für Wohlhabende und/oder Unternehmen zu erhöhen, damit Regierungen solche Mittel aufbringen können.
Wenn die Industrieländer sich bereit erklären sollten, das angedachte Rahmenwerk zu unterzeichnen, würde sich das System am sogenannten Bereitschaftsrahmen der WHO für Influenza (Grippe) orientieren, dabei aber für alle Viren und Bakterien mit Pandemiepotenzial gelten. Im Rahmen der Influenza-Bereitschaft teilen alle Länder Proben von entdeckten Grippeviren. Diese Proben werden dann von Pharmaunternehmen zur Herstellung von neuen Impfstoffen verwendet. Als Gegenleistung für die gemeinsame Nutzung der Daten zahlen die Firmen in einen zentralen Fonds ein, der für die Überwachung und andere Präventions-, Bereitschafts- und Reaktionsmaßnahmen, einschließlich der Entwicklung von medizinischen Gegenmaßnahmen wie Impfstoffen, verwendet wird.
Konkret sieht der derzeitige Verhandlungstext vor, dass im Falle einer weiteren Pandemie 20 Prozent der Produktion medizinischer Gegenmittel an die WHO gespendet werden, die dann je nach Bedarf verteilt werden. Zivilgesellschaftliche Entwicklungs- und Gesundheitsorganisationen haben dies zu Recht als völlig unzureichend kritisiert: Ein Fünftel der Mittel, die nach dem tatsächlichen Bedarf verteilt werden, sind nun einmal vier Fünftel zu wenig. Hinzu kommt: Als die COVID-Pandemie ausbrach, gaben gerade die Schwellen- und Entwicklungsländer bereitwillig Stichprobendaten weiter. Sie hofften, im Rahmen der bestehenden Regelungen von einem solchen Austausch profitieren zu können und schnell Gegenmittel zu erhalten. Dies geschah jedoch nicht;die Industrieländer sorgten zunächst für sich selbst.
Zurück zu den 20 Prozent an »Spenden«: Für die Pharmaunternehmen sind selbst diese 20 Prozent zu viel. Nach der Veröffentlichung des aktuellen Verhandlungstextes im vergangenen Oktober kritisierte die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers and Associations (IFPMA) diesen ausgiebig. Neben dem vorgeschlagenen PABS-System lehnt die IFPMA die Aufnahme von zeitlich begrenzten Ausnahmeregelungen für geistiges Eigentum ab. Solche Ausnahmen würden es ärmeren Ländern ermöglichen, Impfstoffe und Therapeutika selbst herzustellen. Damit könnte das Horten von Arzneimitteln und die sogenannte »Impfstoff-Apartheid« überwunden werden, die während der Coronavirus-Pandemie zu beobachten waren.
Die IFPMA argumentierte, die Annahme des Textes in seiner jetzigen Form würde eine »abschreckende Wirkung auf die Innovationspipeline für medizinische Gegenmaßnahmen« haben. Von den Unternehmen sei dann weniger Forschung und Innovation zu erwarten, sodass »wir noch schlechter dastünden als jetzt«. Die Welt wäre in diesem Sinne »sogar besser dran, wenn es überhaupt kein Abkommen gäbe«.
Die USA, das Vereinigte Königreich, die EU, Kanada und die Schweiz – die Heimat vieler der größten Pharmaunternehmen – haben sich der Position der IFPMA angeschlossen und lehnen den Access-and-Benefit-Mechanismus ab. Die deutsche Bundesregierung unter SPD-Führung steht besonders fest an der Seite von Big Pharma. »Für Länder wie Deutschland und die meisten europäischen Staaten ist klar, dass ein solches Abkommen nicht funktionieren wird, wenn die Rechte am geistigen Eigentum derart stark eingeschränkt werden«, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf dem Weltgesundheitsgipfel im vergangenen Oktober.
Dabei waren die meisten medizinischen Gegenmaßnahmen, insbesondere Impfstoffe, in erster Linie das Ergebnis von Forschungsarbeiten, die in öffentlich-finanzierten Universitätslabors durchgeführt wurden. Dass sie relativ schnell auf den Markt kamen, liegt insbesondere daran, dass die Regierungen mit Milliarden an direkten Subventionen und Vorkaufsverträgen dem privaten Sektor das wirtschaftliche Risiko abnahmen. Die Bereitstellung der Impfstoffe könnte als eine Art Sozialismus gelesen werden, zumindest aber als Planwirtschaft anstelle von Marktmechanismus. Man könnte meinen, dass die Produktion von Milliarden von Impfdosen während einer Pandemie sehr profitabel ist – und damit läge man nicht falsch. Doch in den ersten Tagen und Wochen der COVID-Pandemie war noch nicht absehbar, ob es sich tatsächlich um eine große Pandemie handelt oder ob sie schnell wieder abflauen würde wie zuvor SARS oder MERS. Hätten die Unternehmen früh in die Impfstoffproduktion investiert, nur um später festzustellen, dass SARS-CoV2 wie frühere Pandemien harmlos ist, hätten sie einen Milliardenverlust gemacht. Daher mussten die Staaten einspringen, um der Impfstoffproduktion durch Subventionen und Vorkaufsverträge das wirtschaftliche Risiko zu nehmen.
Ein weiteres heikles Thema im Verhandlungstext ist die vorgeschlagene Forderung, dass alle Unternehmen, die öffentliche Gelder für ihre Arbeit erhalten, auf ihre Patent- und Lizenzgebühren verzichten oder diese zumindest reduzieren müssen.
Die People’s Vaccine Alliance, ein Zusammenschluss von über hundert Entwicklungs- und Gesundheits-NGOs, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen, stemmt sich gegen die Haltung der IFPMA und die Regierungen des Globalen Nordens. Das Bündnis erinnert daran, dass die zwanzig größten Pharmariesen während der COVID-19-Pandemie fast so viel Geld für Auszahlungen an Aktionäre und Manager ausgegeben haben wie für Forschung und Entwicklung. Tatsächlich wendeten diese Konzerne zwischen 2020 und 2022 rund 377,6 Milliarden US-Dollar für solche Ausschüttungen auf – und 414,6 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung. Aus Sicht der People’s Vaccine Alliance ist dies ein Beleg dafür, dass der Verzicht auf Patentrechte und geistiges Eigentum sowie der angedachte Access-and-Benefit-Mechanismus diesen Unternehmen in der Realität kaum wirtschaftlichen Schaden zufügen und die Innovationskraft nicht beeinträchtigen würden.
Alles in allem scheinen wir es hier mit einem glasklaren Fall von unternehmerischer Gier und der Instrumentalisierung westlicher Regierungen für die Interessen der Pharmakonzerne zu tun zu haben.
Bei näherer Betrachtung zeigt das Thema geistiges Eigentum aber, dass eine Kritik an der Gier der Unternehmen nicht ausreichend ist und nicht alle Probleme erklärt: Wir müssen auch die Grenzen der Marktanreize im weiteren Sinne und die Probleme der globalen Durchsetzung von Regelungen berücksichtigen. Durch eine solche Sicht lässt sich erklären, dass Regierungen wie die von Joe Biden in den USA oder die von Justin Trudeau in Kanada einerseits niedrigere Arzneimittelpreise fordern und sich andererseits im auswärtigen Handel auf die Seite der heimischen Pharmaunternehmen stellen.
Die People’sVaccine Alliance hat nicht unrecht, wenn sie behauptet, dass die Pharmaunternehmen die Gewinneinbußen durch die (zeitweilige) Aufgaben von geistigen Eigentumsrechten oder Gebühren, die in einen Fonds für den Zugang zu Arzneimitteln eingezahlt werden, leicht verkraften könnten, ohne dass dadurch die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit dieser Konzerne oder ihre Innovationsfähigkeit gefährdet würde. Es sind nicht die geringfügigen Gewinneinbußen, die die Unternehmen oder die Regierungen, die ihre Position unterstützen, motivieren. Der springende Punkt ist vielmehr die Bedrohung des geistigen Eigentums in der Pharmabranche an sich.
Niedrigere inländische Arzneimittelpreise bedeuten nur geringfügig niedrigere Gewinne. Doch der Verzicht auf geistiges Eigentum – selbst wenn er nur vorübergehend ist – bedroht das grundlegende Geschäftsmodell der Pharmaunternehmen. Man kann sich freilich fragen: Wenn während der Pandemie der Präzedenzfall geschaffen wurde, dass Menschenleben in Notfällen wichtiger sind als die Rechte an geistigem Eigentum, warum gilt dies nicht auch zu anderen Zeiten?
Andererseits wird zwar tatsächlich ein großer Teil der medizinischen Innovation an öffentlich finanzierten Universitäten, in staatlichen Labors oder durch gemeinnützige medizinische Wohltätigkeitsorganisationen betrieben, aber auch der private Sektor leistet innovative Arbeit. Diese Unternehmen und ihre diplomatischen Stellvertreter liegen nicht falsch, wenn sie fordern, für diese Arbeit müsse es eine Vergütung geben.
»Wie können die Menschen in anderen Ländern, die von den staatlichen Pharmafirmen abhängig wären, die unterschiedlichen Machthaber in die Pflicht nehmen?«
Das große Problem ist daher nicht nur die Gier der Unternehmen, sondern der Fakt, dass die Marktanreize nicht mit dem übereinstimmen, was im besten Interesse der Gesellschaft wäre. Dieses Abstimmungsproblem besteht bei der privaten Gesundheitsversorgung im Allgemeinen: Die Anerkennung des Rechts auf Leben und die Anerkennung des Rechts auf Privateigentum stehen im Wirtschaftsliberalismus im Widerspruch zueinander. Dieser gordische Knoten wird in den meisten Industrieländern durch unterschiedliche Krankenversicherungssysteme oder durch direktes öffentliches Engagement bei der Bereitstellung von Gesundheitsdiensten durchtrennt. Großbritanniens Gesundheitsdienst NHS beispielsweise wurde zwar im Laufe der Jahrzehnte mit Verweis auf Konkurrenzdruck, Unternehmensauslagerungen und Teilprivatisierung ausgehöhlt, aber es bleibt nach wie vor der Fall, dass das Prinzip eines verstaatlichten Gesundheitssystems den Konflikt zwischen öffentlichem Bedarf und Gewinnanreiz löst: Der Leistungserbringer wird für seine Arbeit nicht durch Gewinne, sondern über Steuern oder andere Formen der kooperativen Zusammenlegung von Mitteln entschädigt.
Eine Lösung des Konflikts zwischen dem Recht auf Schutz vor Pandemien und dem Recht am geistigen Eigentum könnte darin bestehen, dass die Forschung, Entwicklung, Herstellung und der Vertrieb von Arzneimitteln in ähnlicher Weise öffentlich bereitgestellt werden, wie es bei der Gesundheitsversorgung bereits der Fall ist. Die Zuweisung von Ressourcen sollte sich dabei am medizinischen Bedarf und nicht am potenziellen Profit orientieren. Die Lösung wäre somit eine Verstaatlichung des Pharmasektors oder zumindest eine signifikante öffentlich-staatliche Alternativoption, sprich: Pharmaunternehmen in öffentlichem Besitz neben dem Fortbestehen privater Konzerne.
Hier stoßen wir allerdings an die Grenzen der globalen Governance, der Finanzierung, der Durchsetzung und damit auch der demokratischen Rechenschaftspflicht. Welches Land soll die Verstaatlichung oder die Gründung von öffentlichen Pharmaunternehmen durchführen? Müssen die USA oder die Schweiz ihren Pharmasektor verstaatlichen, damit die gesamte Welt davon profitiert?
Dies gilt auch für andere Aspekte der Pandemiebekämpfung, die über Therapeutika hinausgehen, von der Produktion medizinischer Kühlschränke bis hin zu Beatmungsgeräten und Sauerstofftanks. Und: Wie können die Menschen in anderen Ländern, die von den staatlichen Pharmafirmen abhängig wären, die unterschiedlichen Machthaber in die Pflicht nehmen? Es gibt nur einen nationalen, nicht aber einen internationalen Mechanismus der demokratischen Rechenschaftspflicht.
Diese Herausforderung in Sachen globaler Governance, Durchsetzung und Rechenschaftspflicht ist der zweite große Knackpunkt bei den Verhandlungen über ein Pandemieabkommen. Die fehlende Durchsetzungsfähigkeit wirkt sich auch auf die Koordinierung der Anti-Pandemievorräte, die Entsendung internationaler medizinischer Einsatzteams, das Monitoring und den Datenaustausch aus.
Selbst wenn sich der Globale Norden auf alle Punkte bezüglich des geistigen Eigentums einlassen würde – ohne eine robuste Durchsetzung bliebe ein solches Unterfangen nicht mehr als heiße Luft.
Die bestehenden internationalen Gesundheitsvorschriften – die auf das Jahr 1969 zurückgehen und zuletzt 2005 überarbeitet wurden – sind bereits rechtsverbindlich. Dennoch konnte damit nicht das Horten von Impfstoffen und anderen Pandemiebekämpfungsmitteln während der COVID-Pandemie verhindert werden. Die Vorschriften sehen auch vor, dass Länder im Gegenzug für die Weitergabe genetischer Informationen keine Reise- oder Handelsbeschränkungen auferlegt bekommen dürfen. Dennoch war dies eine der ersten von vielen Anti-Corona-Maßnahmen, die im Jahr 2020 umgesetzt wurden.
Der Verhandlungstext enthält Vorschläge für ein Entscheidungsgremium, das aus einer Konferenz der Vertragsparteien (»COP«) und einem Sekretariat (ein Team von Beamten, das mit der Ausführung der Entscheidungen der Konferenz beauftragt ist) unter der Ägide der Weltgesundheitsorganisation besteht. Es ist alles andere als sicher, dass die derzeitigen Verhandlungsführer einem solchen Konstrukt zustimmen werden.
Die Struktur lehnt sich an die Gipfeltreffen der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) an, die formell ebenfalls als COPs bezeichnet werden und bei denen alle Nationen die gleiche Stimme haben. Angesichts der extrem langsamen Fortschritte bei den UN-Klimagipfeln, für die es einen Konsens der fast 200 Vertragsstaaten braucht, wird rasch klar, dass ein solches Modell für eine schnelle Reaktion auf eine Pandemie problematisch wäre.
»Ist überhaupt davon auszugehen, dass die an eine bestimmte Regierung gerichteten Forderungen des Sekretariats des Pandemieabkommens respektiert werden?«
Darüber hinaus ist der UNFCCC/COP-Prozess nicht unbedingt demokratisch: Luxemburg hat 650.000 Einwohnerinnen und Einwohner; Indien 1,4 Milliarden. Trotzdem haben die Stimmen beider Staaten bei den COPs das gleiche Gewicht. Außerdem gibt es keine »Parteien«, die mit unterschiedlichen Vorstellungen über den Umgang mit dem Klimawandel um Wählerstimmen konkurrieren. Wenn also eine Mehrheit in der Welt mit einer Politik oder einer Maßnahme des Sekretariats des Pandemieabkommens oder der COP oder der WHO nicht einverstanden ist, gibt es für diese Mehrheit keinen Mechanismus, um die globalen Entscheidungsträger abzusetzen und andere einzusetzen, die den Willen der Menschen durchsetzen.
Und schließlich: Ist überhaupt davon auszugehen, dass die an eine bestimmte Regierung gerichteten Forderungen des Sekretariats des Pandemieabkommens respektiert werden? Man denke an die wesentlich schwerwiegenderen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs und ihre Auswirkungen.
Der Demokratiemangel ist die Kehrseite der Medaille. Die Durchsetzung von Maßnahmen ist ohne demokratische Rechenschaftspflicht illegitim. Ein aktuelles Beispiel: In mehreren EU-Ländern kommt es derzeit zu Protesten der Landwirte. Dabei wird unter anderem kritisiert, niemand habe für eine derartige EU-Politik gestimmt. Unabhängig davon, wie man nun zu den Protesten und zur Klima- und Agrarpolitik der EU steht, haben die Bäuerinnen und Bauern nicht unrecht, was das bekannte Demokratiedefizit der EU angeht.
Immer wieder haben sich die Eliten bei grenzüberschreitender Politik in vielen Bereichen, vom Klima über Handel bis hin zu Kriegsverbrechen, für undemokratische Regierungszusammenarbeit – also zwischenstaatliche Vertragsabschlüsse – entschieden, die sie offensichtlich für politisch praktikabler halten als den Vorschlag, eine höhere Ebene demokratischer Versammlungen einzurichten. Dies wiederholt sich nun bei einem der drängendsten Themen: Pandemien. Diese sorgen aktuell für mehr Todesfälle als der Klimawandel.
WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus hat sich darüber beklagt, dass der Fortschritt bei den Gesprächen über ein Pandemieabkommen durch »eine Flut von Fake News, Lügen und Verschwörungstheorien« weiter gebremst werde. Damit bezog er sich mit großer Sicherheit auf die Erklärung der rechtsgerichteten Heritage Foundation, der zufolge das Pandemieabkommen die Souveränität der USA bedrohe, oder auf einen der wenigen Artikel über die Verhandlungen, die in einer großen Zeitung Schlagzeilen machten: einen Bericht des Daily Telegraph vom Mai 2023, in dem konservative britische Minister zitiert werden, die befürchten, dass der vorgeschlagene Vertrag es der WHO erlauben würde, Lockdowns zu verhängen und Impfpässe einzuführen oder die Staaten zu zwingen, fünf Prozent ihres Gesundheitsbudgets für die Pandemievorsorge auszugeben. Der konservative Abgeordnete Danny Kruger sagte der Zeitung: »Koordination und Kooperation in einem gesundheitlichen Notfall sind sinnvoll, aber die Kontrolle über Gesundheitsbudgets und kritische Entscheidungen im Falle einer Pandemie an eine nicht gewählte internationale Organisation abzutreten, steht in krassem Widerspruch zu nationaler Autonomie und demokratischer Rechenschaftspflicht.«
Wie bei den Protesten der EU-Landwirte ist die Kritik der Tories – und sogar die der Heritage Foundation – nicht ganz falsch. Die WHO oder ein Pandemieabkommen-Sekretariat wären in der Tat nicht gewählt. Aus demokratischer Sicht wäre es schlicht nicht in Ordnung, wenn ein solches Gremium seinen Willen gegenüber gewählten nationalen Parlamenten durchsetzen könnte.
Dies ist ein Souveränitätsparadoxon, das immer wieder bei zwischenstaatlichen Verträgen in diversen Politikbereichen auftritt – von der WHO und der Welthandelsorganisation über die Europäische Kommission und den Internationalen Währungsfonds bis hin zum Internationalen Gerichtshof und dem UNFCCC. Angesichts der offensichtlichen Demokratiedefizite dieser Organe zögern viele Staaten, ihnen zu viele Befugnisse zu übertragen. Gleichzeitig können solche Institutionen mit ihrer recht bescheidenen Machtfülle für Politiker nützlich sein, wenn diese eine bestimmte Politik durchsetzen wollen, aber wissen, dass sie im eigenen Land keine mehrheitliche Unterstützung dafür bekommen würden. Wenn es auf dem internationalen Forum einen Konsens gibt, kann der Politiker dann zu seiner Wählerschaft daheim zurückkehren und sagen: »Ich konnte nichts dagegen tun; die Mehrheit war dafür; mir waren die Hände gebunden.«
Derartige internationale Institutionen können also sowohl zu viel als auch zu wenig Souveränität und Macht haben: einerseits ist jede Entscheidungsbefugnis, die sie haben (egal wie begrenzt), demokratisch fragwürdig oder gar illegitim, andererseits bräuchten sie eigentlich mehr Macht, um effektiv Politik durchsetzen zu können.
Wir müss(t)en daher die globale Entscheidungsfindung demokratisch gestalten. Wir müss(t)en einen globalen »Souverän« etablieren. Das ist natürlich eine Mammutaufgabe und in naher Zukunft kaum umsetzbar. Vorerst muss es deswegen darum gehen, die westlichen Regierungen dazu zu bringen, einen Vertragstext zu unterstützen, der Ungleichheit sowie irrationale Marktzwänge ablehnt – auch wenn es noch keinen globalen, demokratisch legitimierten Souverän gibt, der in der Lage wäre, diesen Text dann auch durchzusetzen.
Wir sind mit diversen grenzüberschreitenden Phänomenen konfrontiert, die auf globaler Ebene bekämpft werden müssen, von Pandemien und Klimawandel über Handel und Migration bis hin zu Menschenrechten und Kriegsverbrechen. Wie wollen wir mit Asteroiden, Weltraumschrott, Bergbau am Meeresboden, Geo-Engineering und Künstlicher Intelligenz umgehen? Die Zahl dieser globalen Fragen wächst beständig.
Wir leben in einer Zeit, in der die Debatte über weltweite Governance, über eine globale Demokratie, zumindest begonnen werden muss.
Leigh Phillips ist Wissenschaftsjournalist und EU-Korrespondent. Er ist Autor des Buchs Austerity Ecology & the Collapse-Porn Addicts (Zero Books, 2015).