27. Oktober 2020
Das Erbe linker Dissidenten in der DDR ist in Vergessenheit geraten. Dabei hat ihr Denken nichts an Aktualität verloren. Was sie forderten? Einen demokratischen, ökologischen Sozialismus.
Am 4. November 1989 beteiligten sich Hunderttausende an der Alexanderplatz-Demonstration zu der linke Kulturschaffende und Systemkritiker aufgerufen hatten.
Über das intellektuelle Leben in der DDR ist recht wenig bekannt. Wenn, dann hat es in der Popkultur meist etwas mit der Stasi zu tun – wie etwa in dem vielfach ausgezeichneten Spielfilm Das Leben der anderen aus dem Jahr 2006. Dieser handelt von einem Geheimdienstmitarbeiter, der beauftragt wurde, kritische Intellektuelle zu observieren. Im Laufe des Films durchläuft er eine höchst unrealistische Wandlung und entwickelt Sympathien für seine Observationsobjekte, die er schließlich vor der repressiven Staatsmacht beschützt.
Bei aller berechtigten Kritik am Plot hat der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck doch eine Sache treffend herausgearbeitet: die Existenz zweier sich als links verstehender Gruppen, die unversöhnlich gegeneinander arbeiten. Auf der einen Seite der realsozialistische Staatsapparat, der seinen Alleinvertretungsanspruch auf den Sozialismus auch mittels Repression durchzusetzen bereit war – bis das ganze System schließlich nicht mehr viel mit dem zu tun haben sollte, was sich linke Intellektuelle und Kunstschaffende unter Sozialismus vorstellten. Diese wiederum versuchten, die Staatsmacht zu überlisten, sei es im Ringen mit der Zensur oder mittels konspirativer Diskussionen über Literatur, westliche Kultur oder oppositionelle linke Theoretiker.
Diese hielt die realsozialistische Staatspartei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), für gefährlicher als Abweichungen von ihrer Ideologie, dem sogenannten »Marxismus-Leninismus«. Mit ihr wurde eine Kanonisierung klassischer marxistischer Theorie intendiert, die kontinuierlich durch die Reden der jeweiligen Parteiführer erweitert wurde. Dieses dogmatische System hatte seinen Ursprung in der frühen Sowjetunion, erlebte unter Stalin seinen traurigen Höhepunkt und bestand auch nach dessen Tod 1953 in abgemilderter Form weiter.
Trotzdem gab es über all die Jahre und Jahrzehnte hinweg kritische Köpfe, die sich nicht unterordnen wollten und für einen demokratischen Sozialismus eintraten. Obwohl der Sozialismus, gegen den sie argumentierten, seit über drei Jahrzehnten bereits Geschichte ist, gibt es in ihrem intellektuellen Erbe noch viel zu entdecken.
Als 1949 die DDR gegründet wurde, waren die Terrorjahre in der Sowjetunion bereits vorbei. Viele deutsche Kommunistinnen und Kommunisten kamen nach Kriegsende aus dem Exil zurück nach Deutschland. Da in den drei westlichen Besatzungszonen ein kapitalistisches System aufgebaut wurde und dabei viele alte Nazis wieder hohe Ämter und Funktionen besetzten, verschlug es zahlreiche Exilanten (zunächst) in die DDR. Schließlich wurde dort in dieser Zeit propagiert, dass nun alle antifaschistischen Kräfte gleichberechtigt den ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufbauen würden.
Wenig später begann der Kalte Krieg. West und Ost wurden feindseliger. Wer im Verdacht stand, mit der Gegenseite zu kollaborieren, geriet in die Schusslinie. In Westdeutschland wurden in den 1950er Jahren tausende Kommunistinnen und Kommunisten drangsaliert und eingesperrt – teils verurteilt von alten Nazi-Richtern. In Ostdeutschland agitierte man gegen den Westen und verdächtigte viele der Spionage.
Besonders ins Visier gerieten jene Exilkommunisten, die während der Hitlerzeit nicht in Moskau ausharrten, sondern sich in den USA oder Mexiko aufgehalten hatten. Sie hatten nicht im berüchtigten Moskauer Hotel Lux die Verhaftung durch Stalins Geheimdienst fürchten müssen, sondern westliche Freiheiten und Demokratie erfahren. Zu ihnen zählten etwa Ernst Bloch, Anna Seghers oder Bertolt Brecht. Auf sie hatte der allmächtige Parteichef Walter Ulbricht ein kritisches Auge geworfen, der in eben jenem Hotel Lux sein Exil verbracht hatte, und nun den Politikstil der Stalinisten auf die DDR übertragen wollte. Er wurde protegiert durch die Führung in Moskau und musste nach Stalins Tod 1953 um seine Führungsposition bangen.
Noch im gleichen Jahr gingen am 17. Juni landesweit Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Straße, um gegen die SED-Politik zu demonstrieren. Der Aufstand wurde mit Panzern aus Moskau niedergeschlagen. Die Intellektuellen schwiegen dazu. Drei Jahre später probten sie dann wiederum den Aufstand, wurden aber von den Arbeitern im Stich gelassen. Vor allem Intellektuelle aus dem Westexil, aber auch jene, die die Nazijahre in Deutschland im Widerstand verbracht hatten, wollten Ulbricht nicht länger unterstützen und forderten mehr Demokratie und ein Ende der Repressalien.
Ende 1956 kam es in Ostberlin zu einer Reihe von Festnahmen. Die Verhafteten waren linke Intellektuelle. Begonnen hatte alles aber schon Anfang des Jahres in Moskau, als auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) die Periode eines politischen »Tauwetters« eingeleitet wurde und Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede über die Übel des Stalinismus gesprochen hatte. Zwar stellte er nicht das gesamte System in Frage, sondern nur dessen übersteigerten Personenkult, den Dogmatismus und teilweise auch den Terror. Das wirkte jedoch im Osten wie ein Epochenbruch. Erleichterung machte sich breit.
Intellektuelle von Budapest über Warschau bis Berlin hofften, dass die Entstalinisierung einen freieren Meinungsstreit über die Ziele des Kommunismus ermöglichen würde. Dies war weniger im Sinne Ulbrichts, der aber in die Defensive ging. Namhafte Schriftsteller und Wissenschaftler beteiligten sich an der Diskussion. Auch international angesehene Denker wie Bloch oder Brecht forderten mehr Debattenkultur – nicht jedoch das Ende der DDR oder ein anderes System als das sozialistische.
Im Herbst 1956 kam es dann zu Aufständen gegen die Regierungen in Polen und Ungarn. Moskau machte sich nun Sorgen um die Lage im Ostblock, politische Spannungen in der DDR galt es daher zu vermeiden. Glück für Ulbricht, der wieder fest in den Sattel rückte und nun mit seinen Kritikern ins Gericht ging. Neben Politikern und Geheimdienstfunktionären standen auch einige Intellektuelle auf der Abschussliste. An die international bekannten Köpfe traute man sich zwar nicht ran, aber an Leuten aus der zweiten Reihe sollte ein Exempel statuiert werden.
Der Schauprozess gegen die von der Stasi konstruierte »Gruppe Harich« war der letzte seiner Art in der DDR. Zu dieser Gruppe gehörten Intellektuelle aus dem Aufbau-Verlag, der viel Exilliteratur aus dem Westen publizierte. Der Philosoph Wolfgang Harich und seine Kollegen diskutierten, wie die DDR lebenswerter und somit auch für westliche Arbeiter attraktiv werden könnte. Sie wollten unter anderem den Geheimdienst abschaffen, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und ein Ende der SED-Herrschaft einleiten. Das ging Ulbricht zu weit.
Die Choreografie des Prozesses war so geschickt, dass die Verhafteten gegeneinander ausgespielt wurden. Der Schauprozess zeigte Wirkung: Viele andere kritische Intellektuelle schwiegen danach oder gingen in den Westen. Eine Weile hielt die Ruhe. Ulbricht hatte die Rückkehrer aus dem Westexil diszipliniert. Entweder hatten sie sich untergeordnet, waren krank oder verstorben oder sie wurden als einfache Parteifunktionäre in die Provinz zwangsversetzt und degradiert.
Natürlich währt so ein Zustand nicht ewig. Bis zum Mauerbau am 13. August 1961 wanderten einige kaltgestellte Intellektuelle noch in den Westen aus, so etwa Bloch oder der Literaturwissenschaftler Hans Mayer. Nach dem Mauerbau fühlte sich das System nun sicherer. Die Lage schien sich zu weiter zu beruhigen, auch die meisten Intellektuellen begrüßten die Mauer als notwendiges Übel, um den Sozialismus ohne Störfeuer aus dem Westen aufbauen zu können.
Schon bald wurde aber wieder darüber diskutiert, wie demokratisch dieser Sozialismus nun sein soll. Dabei geriet der bis dato systemtreue Parteifunktionär Robert Havemann in die Kritik. Er hatte mehrere Funktionen im System inne, war aber vor allem ein international anerkannter Naturwissenschaftler und Professor an der Berliner Humboldt-Universität. In seinen Vorlesungen Anfang der 1960er Jahre forderte Havemann mehr wissenschaftliche Freiheit und ein Ende der politischen Bevormundung. Der Staat wollte nämlich den dogmatischen Marxismus-Leninismus als Grundlage aller Wissenschaften verankern. Folglich sollten ihm auch die Naturwissenschaften untergeordnet werden. Havemann verwehrte sich dagegen.
Seine Vorlesungen entwickelten sich zum Geheimtipp. Irgendwann strömten bis zu 1000 Leute in den Hörsaal – und schon bald auch die Stasi. Es dauerte nicht mehr lange bis seine berufliche Karriere ein Ende finden sollte. Allerdings hatte Ulbricht mit ihm kein so leichtes Spiel wie zuvor mit Harich 1956: Havemann war ein international bekannter Wissenschaftler und vor allen Dingen im Widerstand gegen die Nazis aktiv gewesen. Dies hatte ihm eine Inhaftierung durch die Gestapo eingebracht und er wurde vor Hitlers Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Nur durch Glück und Beziehungen erlebte er seine Befreiung im Jahr 1945.
Wegen dieser Vorgeschichte war es der SED nicht möglich, Havemann einen Prozess zu machen. Die Außenwirkung wäre fatal gewesen. Also drängte man ihn in die Isolation. Er entwickelte sich bald zum »Staatsfeind Nr. 1«, äußerte bis zu seinem Tod 1982 in den Westmedien seine Ablehnung des autoritären Realsozialismus und forderte einen demokratischen Sozialismus.
Ein guter Freund Havemanns war der Sänger Wolf Biermann. Auch er hatte Auftrittsverbot in der DDR, weil er in seinen Liedern seinem Unmut über den realen Sozialismus Luft machte. Nach einem Auftritt in der Bundesrepublik wurde Biermann 1976 die Wiedereinreise verweigert. Die Kunst- und Kulturszene der DDR protestierte gegen dieses Vorgehen und solidarisierte sich mit Biermann. Viele weitere verließen alsbald das Land gen Westen, so etwa auch der Schauspieler Armin Mueller-Stahl, der später in Hollywood Karriere machen sollte.
Nur ein Jahr nach Biermanns Ausbürgerung trat der bis dato unbekannte Soziologe Rudolf Bahro mit seinem Buch Die Alternative ins Rampenlicht. Fredric Jameson bezeichnet dieses Werk als seine »great East German Utopia«. Bahros Text beschreibt das System des Realsozialismus als unterentwickelten Sozialismus im Larvenstadium und fordert eine Kulturrevolution. Anstatt einer »Megamaschine« müsse man endlich einen richtigen, selbstverwalteten Sozialismus ohne Bürokratie aufbauen. Bahro wurde verhaftet und kurz nach seinem Prozess in den Westen abgeschoben.
Die genannten Namen stehen stellvertretend für viele andere Linke, deren Karrieren aufgrund ideologischer Abweichungen ein Ende fanden, so etwa Anton Ackermann, Rudolf Herrnstadt, Paul Merker, Kurt Vieweg, Arne Benary und Fritz Behrens. Die Liste ausgebooteter, parteiinterner Kritiker ist lang, die Strafen waren teils drakonischer als jene gegen antikommunistische, bürgerliche Systemkritiker.
Aber warum war das so?
Die Ursünde bestand in dem 1921 auf dem X. Parteitag der Bolschewiki verkündeten und nie revidierten Fraktions- und Oppositionsverbot. Es sollte in Russland unter den Bedingungen des Bürgerkriegs dafür sorgen, dass die russischen Kommunisten stets geschlossen standen. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg diente es fortan der innerparteilichen Disziplinierung. Demokratie gab es nur auf dem Papier. Das System hieß »demokratischer Zentralismus«: Die Zentrale beschließt etwas und die Untergebenen müssen es ausführen.
Einen weiteren Grund für das harte Vorgehen gegen linkes Dissidententum bot der Umstand, dass die DDR ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs war. Das Land befand sich in einer ungünstigen Lage, zerrieben zwischen den Vorgaben aus Moskau und in direkter Konkurrenz mit dem westdeutschen Staat. Der bolschewistischen Logik folgend mussten auch hier die Reihen geschlossen gehalten werden. Wie zuvor unter Stalin bedeutete dies, dass unliebsame Personen oder Debatten unterdrückt werden mussten. Zur Ruhigstellung anderer Meinungen wurde enormer Aufwand betrieben, wie auch die Überwachung Havemanns darlegt: Der damals schon alte Mann lebte abgeriegelt in seinem Sommerhäuschen und trotzdem wurde er rund um die Uhr durch hunderte Stasi-Mitarbeiter überwacht.
Auch Abweichungen von der Parteilinie waren nicht erwünscht. Wer sie dennoch wagte, dem erging es wie den Ketzern in der Katholischen Kirche: Verbannung aus der Organisation und gegebenenfalls Gefangenschaft. Da der Marxismus-Leninismus durchaus quasi-religiöse Konnotationen in sich trägt, war für viele der Betroffenen ein Parteiausschluss gleichbedeutend mit dem Verlust der Lebensaufgabe. Und der Disziplinierungseffekt funktionierte.
Kurzfristig ließ sich mit solchen Mechanismen die Herrschaft stabilisieren, langfristig jedoch sorgte das für eine Erstarrung des Systems, für Bürokratie, Unterordnung und Demotivation.
Erschreckend ist, um welche innovativen Ideen und Potentiale sich der Staat auf diese Weise brachte: Innenpolitisch durfte die Repression nicht diskutiert werden. Wer es dennoch tat, so wie Harich 1956, der bekam sie umgehend selbst zu spüren. Außenpolitisch bestimmte Moskau den Kurs: Zunächst strebte man die Wiedervereinigung an, nach dem Mauerbau 1961 dann den Aufbau des Sozialismus im kleineren Teil Deutschlands. Kritik daran durfte es nicht geben.
Wirtschaftspolitisch legte man in den 1960er Jahren mit der Kybernetik, dem Ausbau der chemischen Industrie und Versuchen eines Neuen Ökonomischen Systems gut vor. Ökonomen, die mehr wollten, wie etwa Fritz Behrens, der auf ein Modell wie die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung hoffte, wurden schnell zurückgepfiffen. Nach Ulbrichts Ablösung 1971 änderte sich der Kurs: Sein Nachfolger Erich Honecker setzte auf mehr Konsum und Wachstum, finanziert durch westliche Kredite. Dagegen regte sich Widerspruch bei ökologisch denkenden Marxisten wie Bahro, Harich oder Havemann, die in ihren Gedanken viele Ansätze des heutigen Postwachstumsdiskurses bereits vorwegnahmen.
Gefeierte Intellektuelle wie Naomi Klein oder Andreas Malm weisen heutzutage nur zu Recht darauf hin, dass Klimarettung und kapitalistischer Wachstumszwang nicht miteinander vereinbar sind – und für diese Einsicht wird ihnen in breiten Kreisen Anerkennung zuteil. Die Dissidenten der DDR wussten das aber bereits in den 1970er Jahren. Sie richteten ihre Kritik jedoch nicht nur gegen den Westen, sondern auch gegen die umweltschädliche Wirtschaftspolitik der SED.
Sie waren der Meinung, dass sich diese am westlichen Wachstumsmodell orientiere, dessen Niveau aber ohnehin nie erreichen könne. Deshalb schlugen sie vor, stattdessen einen ökologischen Sozialismus aufzubauen, der ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur herstellt. Da die Produktionsmittel nicht in der Hand von Privaten liegen, sondern beim Staat, könne solch eine Gesellschaft hier entstehen – im Kapitalismus hingegen nicht. Dieser sei per se nicht dazu in der Lage, auf Wachstum zu verzichten.
Harich entwickelte die Utopie eines globalen »Zuteilungskommunismus«: Der Weltstaat ermittelt genau den Bedarf der jeweiligen Bevölkerung und verteilt entsprechend die Waren. So würde man Überproduktion vermeiden, bräuchte keine Werbung mehr, könnte den Menschen auch klimaschädliche Lebensmittel verweigern oder private PKWs verbieten. Bahros Vorstellung eines Öko-Sozialismus sah hingegen vor, die Menschen aus dem gesamten Modell der modernen Megamaschine zu emanzipieren. Nach einer Kulturrevolution sollte die Gemeinschaft von Freien entstehen, die mit dem Realsozialismus nichts mehr zu tun hätte. Havemann hingegen verfasste eine Öko-Utopie, die vor allen Dingen auf Technik baut.
Die Bedürfnisse würden sich dadurch verändern: Konsum würde uninteressant, langlebige Produkte vermeiden Müll und Arbeitszeit, die Menschen könnten sich dezentral in Kommunen ansiedeln. Durch eine vollautomatisierte Produktion und Distribution wäre zudem ein Maximum an frei verfügbarer Zeit für alle gewonnen. Gelesen hat diese ökologischen Utopien in der DDR allerdings kaum jemand. Sie waren Vordenker. Viele DDR-Bürgerinnen und Bürger dachten nicht an Konsumverzicht, sondern bestaunten die Werbung im Westfernsehen und die dortigen Konsum- und Reisemöglichkeiten.
Die ökologischen Zerstörungen in der DDR der 1980er Jahre waren drastisch: Luftverschmutzung, tote Gewässer, Waldsterben und dann auch noch die Auswirkungen des GAU in Tschernobyl 1986. Daraufhin suchte die Bevölkerung zunehmend bei der Politik nach Antworten auf die ökologischen Krisen, doch die Regierung hatte nur warme Worte parat. Auf Bahro, Harich und Havemann hatte man schließlich nicht gehört und das Thema viel zu lange ignoriert oder gar vertuscht. Und so konnte die neu entstehende Opposition das Thema der Ökologie besetzen.
Linke Systemkritiker innerhalb der Opposition gerieten hier in eine Minderheitenposition. Die Forderungen nach Frieden, Umweltschutz und Menschenrechten wurde jetzt verstärkt durch kirchliche Kräfte vorgebracht. In der Wende 1989/90 spielten die sozialistischen Kritiker und die Intellektuellen nur am Anfang noch eine Rolle, wie bei der damals größten Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Schon bald jedoch wollte die Mehrheit der Bevölkerung nichts mehr wissen von einem reformierten Sozialismus oder von Warnungen vor dem Kapitalismus. Der schnelle Anschluss der DDR an Westdeutschland folgte schon ein Jahr später.
Da die DDR und mit ihr der Realsozialismus vor 30 Jahren verschwunden sind, stellt sich die Frage, ob die heutige Linke davon noch etwas mehr lernen kann als die Lehren aus dem Scheitern. Immerhin weiß man nun, wie es nicht funktioniert hat, und dass ein autoritärer Staatssozialismus kein attraktives Gesellschaftsmodell für die meisten Menschen darstellt. Seither drehen sich die Diskussionen über die Möglichkeit einer demokratisch-sozialistischen DDR um die gleichen Fragen: Wäre ein solches System auf dem Gebiet der DDR überhaupt möglich gewesen? Hätte die Bevölkerung dies mitgemacht? Wenn nicht, wie hätte man sie ohne Repressionen dazu bewegen sollen? Hätte die internationale Politik solch ein Experiment überhaupt geduldet? Oder hätte der kapitalistische Westen nicht umgehend versucht, solch einen Staat zu zersetzen? Die Standpunkte hierzu sind bei ihren jeweiligen Vertretern fest verankert, eine nüchterne Debattenkultur entwickelt sich hierzu erst jüngst, getragen von einer neuen Generation.
Alexander Amberger, geboren 1978 in der DDR, ist Politikwissenschaftler, forscht zu ökologischen Utopien und zur Ideengeschichte der DDR. Er arbeitet seit vielen Jahren in der Politischen Bildung beim Berliner Verein Helle Panke.