25. März 2022
Völkerrecht, Pazifismus oder Liebäugelei mit der NATO: in der Debatte über den Ukraine-Krieg findet sich alles. Was der Linken fehlt, ist eine Imperialismuskritik auf der Höhe der Zeit.
Gefragt ist heute eine Antikriegsbewegung, die von politischer Klarheit über den aktuellen Zustand der Weltordnung geleitet ist
Der russische Einmarsch in die Ukraine stellt eine weltgeschichtliche Zäsur dar. Darin scheinen sich auch viele Linke einig zu sein. Doch historische Momente, die als »Zäsur« empfunden werden, bergen Gefahren. Durch die dramatischen Ereignisse erscheinen nahezu alle gestrigen Weisheiten obsolet. Der oft mystisch gedeutete Begriff einer »Zeitenwende« lässt scheinbar wenig Spielraum für eine nüchterne Analyse. Übersehen wird dabei, welche Dinge unverändert blieben.
Etwas Ähnliches erlebten wir am 11. September 2001, als islamisch-fundamentalistische Terroristen unter der Führung von Osama Bin Laden tödliche Anschläge gegen das World Trade Center und das Pentagon verübten. Damals hieß es, alles sei jetzt anders, denn die »freie Welt« sei bedroht. Ähnlich wie heute, waren Fahnenschwingen und »uneingeschränkte Solidarität« das Gebot der Stunde. Und oftmals wurde das Leid der Menschen in Manhattan genutzt, um Stimmen zum Schweigen zu bringen, die auf den Zusammenhang zwischen den Anschlägen und der imperialen Politik der USA im Nahen und Mittleren Osten verwiesen.
Solche Perspektiven seien im allerbesten Fall naiv, im schlimmsten Fall eine moralische Rechtfertigung des islamistischen Terrorismus, so der Vorwurf. Und nicht selten wurden solche Vorwürfe von Linken gegen andere Linke erhoben, denen vorgehalten wurde, sie würden einen überholten »Antiamerikanismus« pflegen und mit ihrer Kritik am darauffolgenden Afghanistanfeldzug eine »unrealistische« Gegnerschaft zum humanitären Interventionismus vertreten.
Heute gilt jedoch der Konsens: Al-Kaida war eine Nachwirkung der langjährigen Unterstützung fundamentalistischer Kräfte während der sowjetischen Besatzung Afghanistans, ein »Blowback« der US-amerikanischen Außenpolitik. Auch nahezu unwidersprochen ist die Tatsache, dass die Neokonservativen die Anschläge als Anlass nutzten, um die strategisch wichtige Kontrolle über Rohstoffe, zuerst in Afghanistan und später im Irak zu sichern.
Weniger beachtet machten in den Jahren danach auch viele Regierungen der Welt Gebrauch vom Diskurs der Terrorbekämpfung, um ihre eigenen »Probleme« in brutalster Art und Weise zu lösen: Israel in Palästina, Indien in Kaschmir, China gegen die Uiguren und nicht zuletzt Putins Russland gegen die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Der »Krieg gegen den Terror« war ein Verbrechen gegen die Menschheit, der Hunderttausende unschuldige Menschen im Nahen und Mittleren Osten das Leben kostete, während er die Bedingungen für noch reaktionärere Organisationen wie den Islamischen Staat (IS) schuf. Kurz gesagt: Die Antikriegsbewegung, die sich in vielen Ländern Europas und Nordamerikas damals entfaltete, hatte recht; die liberalen und linksliberalen Apologeten von George W. Bush und Tony Blair lagen falsch.
Doch heute gerät gerade die Antikriegshaltung, welche die Verantwortung der eigenen herrschenden Klasse thematisiert, wieder ins Fadenkreuz einer sich als zeitgemäß und »glaubwürdig« gerierenden Kritik. So entdecken manche die NATO – diese historische Stütze faschistischer Diktaturen in Südeuropa sowie der Schlächter der kurdischen Bevölkerung der Türkei – als »antiimperiales Verteidigungsbündnis« wieder. Die lächerlichen Rechtfertigungen Putins für den Überfall auf die Ukraine, allen voran die Verneinung der Existenz einer ukrainischen Nation, werden oft als Kriegsursache par excellence akzeptiert, während Russland zur imperialen Macht nach zaristischem Muster hochstilisiert wird.
Um eines vorweg zu nehmen: Der Einmarsch Putins diskreditierte die unter vielen Linken verbreitete Ansicht, die russische Außenpolitik sei eine Exponentin völkerrechtlicher Prinzipien. Ob diese Linken das heutige Russland mit der alten Sowjetunion verwechselten oder Sympathien für Putin hegten, ist hier von sekundärer Bedeutung.
Seit dem Kollaps der Sowjetunion hatten sich tatsächlich vor allem das geschwächte Russland und das aufstrebende China das Völkerrecht auf die Fahnen ihrer Außenpolitik geschrieben. Es waren andererseits die stärkeren USA und ihre Freunde, die die Begriffe des Völkerrechts und der Souveränität von jeglichem Sinn entleerten. Ob in Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001, Irak 2003, oder Libyen 2011 – der Westen verdeutlichte, dass noble Konzepte wie »gerechter Krieg« und »humanitäre Intervention« lediglich Vorwände für die Durchsetzung kruder machtpolitischer und ökonomischer Interessen sind. Und diese Interessen hinterließen in den obengenannten Ländern bekanntlich einen Scherbenhaufen, der im aktuellen Klima der Empörung über das russische Vorgehen gegen die Ukraine schnellstmöglich in Vergessenheit geraten soll.
Mit seinem Feldzug zeigt Putin, dass jetzt auch Russland die von den USA mehrmals gebrochenen Spielregeln endgültig aufgibt. Ähnlich wie zuvor von einem »Kampf gegen den Islamfaschismus«, »irakischen Massenvernichtungswaffen« und der Verhinderung eines »neuen Auschwitz« geredet wurde, so sprach Putin kurz vor Kriegsbeginn von »Denazifizierung«, »ukrainische Biowaffen-Labors« und einem »Genozid gegen die Donbass-Bevölkerung«.
Doch diese Tatsache offenbart weniger eine naive linke Unterschätzung der russischen Bereitschaft zur Gewaltanwendung und mehr ein problematisches Verhältnis großer Teile der Linken zum Völkerrechtsbegriff, der eindeutige identitätsstiftende Züge aufweist. Dies hat mehrere nachvollziehbare historische Gründe. Völkerrechtswidrige Angriffskriege waren das ontologische Merkmal der Nazi-Außenpolitik. Und die nicht weniger von Wirtschafts- und Machtinteressen bestimmte Ostpolitik Willy Brandts, die eine Verständigung mit Moskau beinhaltete, fungierte zur Zeit der Gründung der Partei DIE LINKE als Mobilisierungsmythos für viele Menschen, die den Grünen aufgrund ihres Bruches mit dem Pazifismus während des Kosovokrieges den Rücken kehrten.
Nichtsdestoweniger war die Berufung auf das Völkerrecht – in der aktuellen Form faktisch die rechtliche Kodifizierung von Bipolarität und Blockfreiheit im Kalten Krieg – ein schlechter Ersatz für eine gründliche Analyse des Imperialismus. Das »Völkerrecht« sollte die vielen, teils widersprüchlichen Wahrnehmungen der globalen Staatenordnung nach 1989 innerhalb der sich neuformierenden deutschen Linken in Einklang bringen. Während manche den Begriff »Imperialismus« als überholt erachteten, benutzten andere ihn als bloßes Synonym für eine militarisierte Verfolgung wirtschaftlicher Interessen und schlussfolgerten somit, Russland und China seien nicht imperialistisch. Zu selten wurde über den Imperialismus im ursprünglichen leninistischen Sinne als System zwischenstaatlicher Konkurrenz gesprochen, in das alle kapitalistische Staaten involviert sind – starke sowie schwache.
Diese Verwirrung, die sich aus Traditionspflege und realpolitischem Pragmatismus – dem Streben nach einer künftigen Regierungsbeteiligung – speiste, schlug sich auch in der Parteiprogrammatik nieder. So fordert die LINKE nicht das politisch greifbare Ziel eines Austritts der Bundesrepublik aus der NATO, sondern das durchaus utopische Ziel der »Auflösung der NATO und der Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands«. In dieser oft unübersichtlichen Gemengelage stellt der Überfall auf die Ukraine tatsächlich eine Zäsur da. Diese bezieht sich jedoch mehr auf die analytischen blinden Flecken der deutschen Linken und weniger auf die realexistierenden strukturellen Ursachen des aktuellen Krieges. Diese liegen in der fortdauernden Osterweiterung der stärkeren US-geführten imperialistischen NATO einerseits und der Reaktion des schwächeren russischen Imperialismus andererseits.
Innerhalb der LINKEN ist das Mantra, die außenpolitischen Positionen der Partei seien vielen Menschen einfach nicht mehr »vermittelbar«, heute noch lauter zu vernehmen als nach dem letzten Wahldebakel. Caren Lay, bringt mit ihrem Plädoyer für ein »Update« linker Außenpolitik diesen Gemütszustand zum Ausdruck. Sie nennt dabei viele richtige Punkte, etwa dass »linke Politik nicht mit zweierlei Maß messen darf«. Das darf sie tatsächlich nicht – und zwar nicht nur im Falle der russischen Politik in der Ukraine oder Syrien, sondern auch bezogen auf die israelische Besatzungs- und Entrechtungspolitik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung, zu der leider viele in der LINKEN mit Argumentationsmustern reagieren, die denjenigen vieler »Russland-Versteher« stark ähneln.
Doch manche weiteren Punkte, etwa die Befürwortung gezielter Sanktionen oder die Behauptung, eine »wirtschaftliche, ökonomische und sicherheitspolitische Kooperation mit einem demokratischen Russland« sei »erst in einer neuen Ära nach Putin möglich«, offenbaren eine Denkweise mit erstaunlich wenig Realitätsbezug zur heutigen Weltordnung. So sehr ein demokratischer Machtwechsel im Kreml zu begrüßen wäre, so muss auch gleichzeitig festgestellt werden, dass die Hoffnung auf einen baldigen Sturz Putins als Schlüssel zum gesamteuropäischen Frieden nicht nur illusorisch, sondern unter Umständen auch höchst gefährlich ist.
Eine solche Analyse übersieht zwei wichtige Tatsachen. Erstens hat sich die Welt seit dem »unipolaren Moment« der frühen 1990er Jahre stark gewandelt. Russland ist nicht vollständig isoliert. Aufstrebende Mächte wie China, Indien oder Südafrika teilen die moralische Entrüstung des Westens über Putins Verhalten nicht, sondern betrachten die Ereignisse in der Ukraine als innereuropäische Angelegenheit. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der staatstragenden europaweiten Solidarität gegenüber ukrainischen Geflüchteten mit »blondem Haar und blauen Augen« und dem Sterbenlassen afrikanischer und nahöstlicher Geflüchteter an Europas Grenzen verdeutlicht für viele Menschen im Globalen Süden die Doppelmoral des Westens und seines universalistischen Anspruches, mit dem er seine Politik im Ukraine-Krieg ideologisch rechtfertigt.
Zweitens sind Sanktionen – ob gezielt oder nicht – eine wirkungslose Waffe die Putins Regime nicht stürzen werden. Sie stürzten das Saddam-Regime im Irak der 1990er nicht und sie führen auch heute nicht zum Sturz der Kim-Dynastie in Nordkorea. Staatsapparate verfügen über eine relative Autonomie und lassen sich nicht so leicht von wirtschaftlichen Erwägungen treiben, wie der Liberalismus in der Disziplin der Internationalen Beziehungen oder sogar ein vulgärmarxistischer Ökonomismus behaupten. Die LINKE sollte in ihrem Diskurs Auswege aus dieser brandgefährlichen Situation suchen, anstatt Sanktionen als friedliche Alternative zur Aufrüstung zu unterstützen. Die Gegenüberstellung beider Mittel ist höchst fiktiv, denn beide reihen sich letztendlich in dieselbe politische Eskalationsspirale ein. Und wenn die Sanktionen wie üblich wirkungslos bleiben, dann gewinnen Stimmen, die ein militärisches Eingreifen fordern, die Oberhand.
Als die USA und ihre Verbündeten vor zwanzig Jahren mit ihren Plänen zur Invasion des Iraks deutlich machten, dass deren »Anti-Terror«-Feldzug nur wenig mit den Attentaten des 11. September zu tun hatte, formierte sich in vielen Ländern eine breite Antikriegsbewegung. So eine Bewegung wäre heute noch dringender, denke man nur an das nukleare Eskalationspotenzial des Krieges in der Ukraine. In Russland agiert eine Antikriegsbewegung unter besonders schwierigen Bedingungen. Im Westen hingegen existiert eine Melange von Friedensappellen, unter die sich Rufe nach mehr Waffen und sogar einer Flugverbotszone mischen – alles andere als friedliche Forderungen. In diesem gesellschaftlichen Klima suchen einige Linke aktuell den wahlpolitischen Anschluss. Wie kommt es, dass der Widerstand seitens der breiten Linken angesichts der drastischen Erhöhung des deutschen Militäretats so sporadisch bleibt? Ein Teil der Antwort liegt möglicherweise in der letzten großen Erhebung gegen Krieg im 21. Jahrhundert.
Der Protest gegen den androhenden Irakkrieg vor zwei Jahrzehnten betrat die Bühne mit Hilfe des diskursiven Deutungsrahmens einer Globalisierungskritik, die sich Jahre davor stark verbreitet hatte. Auf das globale Gerechtigkeitsdefizit der neoliberalen Epoche hinweisend, stellte diese Kritik eine direkte Antwort auf die berüchtigte Diagnose von Francis Fukuyama von einem »Ende der Geschichte« dar – eines postideologischen Zeitalters von unbegrenztem Wohlstand, geleitet von der unsichtbaren Hand des Marktes und gestützt durch die militärische Stärke der einzig verbliebenen Supermacht.
Doch manche Stränge der Globalisierungskritik reproduzierten ungewollt einige Prämissen Fukuyamas. Emblematisch dafür war das Buch Empire von Antonio Negri und Michael Hardt. Ähnlich wie Fukuyama erklärten Negri und Hardt das Ende der Konkurrenz zwischen Nationalstaaten. Da diese im Globalisierungszeitalter zunehmend irrelevant wurden, verlor auch der marxistische Imperialismusbegriff an Substanz. Eine grenzenlose, vernetzte, deterritorialisierte und von den Interessen multinationaler Konzerne getriebene Machstruktur, die Negri und Hardt als »Empire« bezeichneten, habe die gegeneinander konkurrierenden souveränen Staaten ersetzt. Ereignisse wie der Irakkrieg stellten lediglich polizeiliche Operationen des Empire dar. Die politischen Schlussfolgerungen von Negri und Hardt waren im Kern reformistisch. So unterstützte Negri öffentlich 2005 die EU-Verfassung sowie den Prozess der sich vertiefenden europäischen Integration, da er dies als postnationales und vermeintlich demokratischeres Gegengewicht zum Empire verstand.
In den nächsten zwanzig Jahren entwickelte sich die Welt jedoch in eine völlig andere Richtung als in diejenige, die Negri und Hardt prognostiziert hatten. Die polizeiliche Operation im Irak ging bekanntlich nach hinten los. Das Resultat war nicht das Verschwinden der Staatenkonkurrenz, sondern die Stärkung von Regionalmächten wie Brasilien, Südafrika, den Golfstaaten, dem Iran, der Türkei und anderen. Russland erholte sich dank hoher Rohstoffpreise zu Beginn des Jahrhunderts und rüstete wieder auf; China setzte auf ein ehrgeiziges Modernisierungsprogramm seiner Streitkräfte. Wirtschaftliche Interessen verschmolzen wieder zunehmend mit Geopolitik.
Doch viele Linke bestehen weiterhin auf die Grundprämisse von Empire und möchten somit faktisch immer noch in einer Welt leben, die Fukuyama vor dreißig Jahren ausrief. Nationalstaaten und ihre Interessen stellen in einem solchen Weltbild eine Anomalie dar, denn so etwas darf es im 21. Jahrhundert gar nicht geben. Wenn Länder wie China und Russland klassische, ihren Nationalinteressen treue Realpolitik betreiben, dann setzt sich die vorhersehbare Reaktion dieser Linken aus Rufen nach Stärkung multilateraler Institutionen wie der UNO sowie nach Sanktionen seitens der »internationalen Gemeinschaft« zusammen. Übersehen wird dabei, wie vor allem die »multilateralen Institutionen« des Westens – die Europäische Union und die NATO – mitnichten die Überwindung von Nationalinteressen verkörpern, sondern deren Durchsetzung mit anderen Mitteln.
Diese Blindheit führt mitunter zu abstrusen Positionierungen. So erkennt der linke britische Journalist Paul Mason, ein prominenter Unterstützer der Labour Party unter Jeremy Corbyn, im jetzigen Ukraine-Krieg einen Kampf zwischen den nicht-so-schlechten westlichen »postimperialistischen« Demokratien einerseits und dem bösen »russischen Imperialismus« andererseits. Aus ähnlichen Gründen plädierte er 2019 (anders als Corbyn) für den Erhalt des britischen Nukleararsenals im Labour Wahlprogramm – eine ziemlich merkwürdige Haltung, wenn man bedenkt, dass die Linke gerade jetzt für die Abschaffung aller Kernwaffen kämpfen sollte.
In diesem Zustand vervollständigt sich die Trennung zwischen politischen Positionierungen einerseits und praktischen Schlussfolgerungen andererseits. Oder anders gesagt: das Postulat Karl Liebknechts, der Hauptfeind befinde sich im eigenen Land, gilt neben dem marxistischen Imperialismusbegriff ebenfalls als überholt. Das erklärt auch, weshalb viele Linke in der aktuellen Debatte so anfällig für moralisierende Vorwürfe von »Westsplaining« sind, die von vereinzelten Gleichgesinnten in der Ukraine durch »offene Briefe« lanciert werden.
Gemeint ist hier die vermeintliche Tendenz einer essenzialistisch konstruierten »westlichen Linken«, alle Weltereignisse ausschließlich als das Resultat westlicher Interessenpolitik zu betrachten. Russland ist tatsächlich eine imperialistische Macht die den postsowjetischen Raum, inklusive der Ukraine, als ihren Hinterhof betrachtet. Selbst in den Jahren der engen Westbindung unter Boris Jelzin intervenierte Moskau unter dem Vorwand der »Friedenssicherung« in zahlreichen Konflikten – Transnistrien, Abchasien, Ossetien, Berg-Karabach, Tadschikistan –, während es nicht selten unbeugsame Machthaber mit treuen ersetzte.
Es steht außer Frage, dass Linke gegenüber der russischen Machtpolitik nicht blind sein dürfen. Doch auch diese Tatsache kann gewisse Realitäten nicht leugnen. Das kombinierte Militärbudget der NATO-Staaten ist deutlich größer als die zusammengeführten Militärbudgets aller übrigen Länder. In einer Welt, die immer noch von der absoluten militärischen und relativen ökonomischen Dominanz des Westens geprägt ist, sind viele Handlungen Russlands, Chinas oder anderer Staaten zwangsläufig als Reaktion auf diese Dominanz einzustufen.
Moralisch gesehen relativiert diese Erkenntnis in keiner Art und Weise die interessengeleitete, ebenfalls von Menschenrechtsverletzungen geprägte und oft durch reaktionäre ideologische Versatzstücke legitimierte Politik dieser Staaten; sie stellt bloß eine nüchterne Anerkennung der Tatsache dar, dass die Weltordnung im Jahr 2022 keiner glatten Ebene gleicht, sondern oft von höchst asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen diversen konkurrierenden kapitalistischen Staaten geprägt ist.
Die obengenannte Feststellung bildet auch den Kern der marxistischen Imperialismuskritik, wie diese von klassischen Marxistinnen und Marxisten wie Wladimir Lenin, Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding, Nikolai Bucharin und anderen entwickelt wurde. Das Zusammenspiel von ökonomischer und geopolitischer Macht hat sich natürlich und erwartungsgemäß in den letzten hundert Jahre dramatisch weiterentwickelt. Staaten sind nicht bloße Handlanger »ihrer« multinationalen Konzerne, sondern agieren gemäß ökonomischer, strategischer sowie ideologischer Überlegungen.
Doch vieles ist unverändert geblieben. Der Kapitalismus ist ein globales System, das aufgrund seiner geographisch ungleichen Entwicklung die Konkurrenz zwischen verschiedenen Staaten fördert. Und wie zu Beginn des Ersten Weltkrieges rechtfertigt im aktuellen Krieg jeder Staat oder Staatenbund seine Machtpolitik mit einem Universalismus (die NATO-Staaten) oder dem Partikularismus einer zivilisatorischen Besonderheit und Überlegenheit (Russland).
Primäre Aufgabe der Linken ist es, alles zu tun, um diesen Krieg sofort zu beenden. In Deutschland und in anderen NATO-Staaten bedeutet das, die Verantwortung unserer eigenen Regierungen zu thematisieren. Denn diese sind bereit zugunsten des rhetorisch unantastbaren »Rechts« der Ukraine auf NATO-Beitritt – der ohnehin niemals stattfinden wird – die ukrainische Zivilbevölkerung bluten zu lassen.
Es ist alarmierend, wie wenig heute von Deeskalation geredet wird. Statt aufzurüsten, Waffen zu liefern oder Sanktionen zu erheben, sollte die Bundesregierung die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland stärker unterstützen. Ein sofortiges Ende des Krieges würde in erster Linie der ukrainischen Bevölkerung zugutekommen und würde zugleich der Schließung demokratischer Freiräume in Russland – zumindest ansatzweise – die Legitimität zu entziehen. Stattdessen setzen die NATO-Staaten ihre Hoffnungen auf eine militärische Zermürbung Russlands, die einem gefährlichen Spiel mit dem Feuer gleicht.
Es ist schließlich illusorisch zu glauben, die sozioökonomischen Forderungen der LINKEN ließen sich mit einer Haltung vereinbaren, die ausschließlich Russland die Schuld für die aktuelle Katastrophe zuschiebt und gleichzeitig mit der Idee der NATO als demokratisierbares Instrument der kollektiven Sicherheit liebäugelt. Solche Tendenzen blenden mit einem Schlag die Verantwortung der NATO und einzelner Mitgliedstaaten für die moralisch verwerflichen und aktuell stattfindenden Drohnenkriege im Nahen Osten und Afrika aus. Selbiges gilt für die westliche Unterstützung von Angriffskriegen, etwa dem saudischen Feldzug im Jemen, der einem Genozid den Weg ebnete. Der Krieg in der Ukraine bedroht die Lebensmittelsicherung vieler Länder im Globalen Süden, während er sich bereits im Globalen Norden als Ausrede für einen Angriff auf das Lebensniveau der arbeitenden Mehrheit übersetzt.
Die besorgniserregenden Ausbrüche von antirussischem Rassismus sowie die Vernachlässigung der immer noch akuten Gefahr des Klimawandels verdeutlichen, dass die gegenwärtige geopolitische Eskalationsspirale vor nichts Halt macht. Der irische Sozialist James Connolly beschrieb den Ersten Weltkrieg einmal als »Karneval der Reaktion«. Was wir heute erleben, folgt einer ähnlichen Dynamik. Gefragt ist heute eine Antikriegsbewegung, die von politischer Klarheit über den aktuellen Zustand der Weltordnung geleitet ist und nicht mit zweierlei Maß misst. Eine solche Bewegung muss aber auch die direkten Verbindungen zwischen theoretischer Positionierung und praktischem Handeln im Hier und Jetzt aufzeigen.
Leandros Fischer ist Juniorprofessor für Internationale Studien an der Universität Aalborg.