05. April 2022
Beziehungen gelten als private Angelegenheit. Doch der massive Druck, der im Kapitalismus auf uns lastet, dringt weiter in unser Privatleben vor, als wir glauben.
Im Kapitalismus fehlt es den meisten Menschen an Zeit und Geld. Dieser Mangel macht sich auch in unsere Beziehungen bemerkbar.
Liebe und Sex sind große Themen in Therapien. Egal ob es nun um Konflikte in der Partnerschaft, Trennungsgedanken, Schmerz und Verwirrung nach dem Ende einer Beziehung, Frustration beim Daten und dem Singleleben oder die eigene sexuelle Identität geht – all diese Fragen können in einer Therapie in einem relativ privaten und doch objektiven Rahmen verhandelt werden.
Das Problem dabei ist: Wenn wir daten, Sex haben, uns trennen, heiraten, Kinder bekommen oder miteinander kommunizieren, dann tun wir das unter bestimmten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen und nicht in einem sozialen Vakuum. Therapeutische Techniken wie »Ich-Botschaften«, Listen mit wertschätzenden Charakterbeschreibungen oder die sogenannte DEARMAN-Technik, mit der man in Gesprächen effizienter ans Ziel kommen soll, können uns natürlich dabei helfen, in Beziehungen besser klarzukommen. Doch der Kapitalismus hat selbst in unseren intimsten Beziehungen seine Finger im Spiel. Genau das ist auch der Grund, warum wir uns nicht einfach aus Problemen heraustherapieren können, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext stattfinden.
Der Kapitalismus macht uns das Leben schwerer, als es sein müsste. Die meisten Menschen leiden darunter, dass die Lebenshaltungskosten massiv steigen und sie den ganzen Tag dafür arbeiten müssen, um für das Nötigste aufzukommen. Sowohl Zeit als auch Geld sind knapp, und genau dieser doppelte Mangel wirkt sich auch auf unseren Sex und unsere Beziehungen aus.
In einer Studie des Journals Family Relations aus 2009 fanden Forschende heraus, dass »Konflikte um Geld als wesentlich heftiger und bedeutsamer empfunden wurden als um andere Themen: Sie hielten länger an, überdeckten auch andere Konfliktfelder und hätten auch kurz- und langfristige Nachwirkungen für die Paare.« Erst im Februar dieses Jahres berichtete der Independent von einer britischen Studie, bei der gut zwei Drittel der Befragten angaben, über Geld zu streiten. Ein Drittel gab zu, finanzielle Geheimnisse zu haben und etwa Ersparnisse oder Schulden vor ihrem Partner oder ihrer Partnerin zu verheimlichen – ein Beweis dafür, dass finanzieller Druck ganz grundsätzlich die Offenheit und Kommunikation in einer Beziehung untergräbt. Noch schwieriger wird es, diesen aus einer romantischen Beziehung herauszuhalten, wenn man dazu auch noch überlastet und überarbeitet ist.
Für Menschen in nicht-monogamen Beziehungen, ist die Frage des Zeitmangels noch zentraler: offene Beziehungen, Swinger oder polyamoröse Beziehungen. Eine wachsende Zahl an Therapeutinnen und Therapeuten bezeichnet sich als »Sex-positiv« und bietet spezielle Beratungsangebote an, die als empowernde Alternativen zum Status quo angepriesen werden. Als mich meine Therapeutin vor einigen Jahren fragte, ob für mich nicht auch eine offene Beziehung infrage käme, musste ich lachen. »Wo soll ich die Zeit dafür hernehmen?«
Auch die Entwicklung einer Partnerschaft kann von finanziellen Faktoren abhängen: Steigende Mietkosten etwa können jüngere Paare dazu drängen, zusammen zu ziehen, obwohl sie sich noch nicht dafür bereit fühlen. Manchen entscheiden sich dann dazu, zusammen zu wohnen, bloß um den Rekordmieten ein Stück weit zu entkommen. Auf der anderen Seite halten finanzielle Abhängigkeiten Menschen davon ab, sich aus einer unglücklichen oder gar missbräuchlichen oder gewalttätigen Beziehungen zu lösen. Therapeutinnen und Therapeuten bringt das wiederum in die schwierige Lage, ihren Klientinnen und Klienten dabei helfen zu müssen, sichere Kommunikationswege für gewalttätige Beziehungen zu suchen. Aber wie genau lässt sich »Sicherheit« überhaupt für jemanden definieren, der sich nur zwischen Missbrauch oder Obdachlosigkeit entscheiden kann?
Dann gibt es da noch das Single-Dasein. Wie die Journalistin Anne Helen Petersen beschreibt, sind Alleinstehende im Vergleich zu Menschen in Partnerschaften finanziell benachteiligt, weil sie sich die Miete, Lebenshaltungskosten und Gebrauchsgegenstände nicht teilen können. In den USA zum Beispiel zahlen Singles mehr Steuern und die Ehe ist eine der wenigen sicheren Wege, um krankenversichert zu werden. In einer Studie aus dem Jahr 2010, die Petersen zitiert, wird eine alleinstehende Frau mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 40.000 Dollar angeführt, die im Laufe ihres Lebens im Vergleich zu einer verheirateten Frau etwa eine halbe Million Dollar mehr bezahlt. Wer würde angesichts dieser Rechnung denn nicht in einer schlechten Beziehung bleiben?
Die Lösungen für diese Art von Problemen liegen auf der Hand: mehr Zeit und mehr Geld. Eine der möglichen Folgeeffekte von finanziellem Stress sind nämlich auch Veränderungen der Libido. 2017 versuchte die Kleinstadt Overtornea in Schweden deshalb, das Problem der alternden Gesellschaft durch eine bezahlte »Sex-Auszeit« zu lösen. Und auch wenn dieser Ansatz ein bisschen lächerlich sein mag, zeigt er doch, wie wichtig materielle Lösungen für Beziehungsprobleme sind. Ein realistischerer Ansatz wäre die Vier-Tage-Woche, um für die körperliche und seelische Zuwendung in der Partnerschaft mehr Zeit zu haben. Und um den finanziellen Druck zu lindern, braucht es außerdem ganz einfach höhere Löhne.
Egal ob es sich nun um romantische, freundschaftliche oder familiäre Beziehungen handelt – die Bedingungen des Kapitalismus haben einen enormen Effekt darauf, wie sehr wir in der Lage sind, sie zu pflegen, weil wir ständig damit beschäftigt sind, unsere Zeit für den eigenen Lebenserhalt aufzuwenden. Das bedeutet nicht, dass der Sozialismus in der Lage wäre, all diese Probleme mit einem Schlag zu lösen. Doch es gibt eindeutige Anhaltspunkte dafür, dass es sich lohnt, für eine Welt zu kämpfen, die die Freiheit und das Wohlbefinden aller fördert, statt dies nur einigen wenigen zu ermöglichen.
Colette Shade ist Kolumnistin bei »Tribune«. Sie arbeitet als Autorin und Psychotherapeutin.
Colette Shade ist eine Kolumnistin bei »Tribune«. Sie arbeitet als Autorin und Psychotherapeutin.