27. Januar 2022
Um die Wirtschaft zu fördern, beschwören Wirtschaftsliberale gerne die Entfesselung der Märkte. Doch es ist nicht die Kraft des Marktes, die Wohlstand und Innovation hervorbringt, sondern staatliches Handeln. Das zeigt der Blick in die Geschichte.
Bis zur gescheiterten Privatisierung noch in staatlicher Hand: Infrastruktur der Deutschen Bahn.
Um Wachstum, Innovation und Wohlstand zu fördern, wird die freie Kraft der Märkte von Wirtschaftsliberalen bis aufs Äußerste verteidigt. Tatsache ist jedoch, dass der sogenannte freie Markt Ergebnis zahlreicher staatlicher Regeln, Eingriffe und Sanktionen ist. Der Blick in die Geschichte beweist, dass der Staat seit jeher eine zentrale Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung eingenommen hat. Ob es nun darum ging, Industrien Wettbewerbsvorteile zu sichern oder Wachstum zu ermöglichen – es war historisch betrachtet immer der Staat, der die entscheidenden Impulse setzte. Die Frage, die wir uns stellen müssen ist, in wessen Interesse der Staat handelt.
Das England des 17. und 18. Jahrhunderts ist ein besonders geeignetes Beispiel, um die Wirkung staatlicher Intervention zu verdeutlichen. Seit Ende des 17. Jahrhunderts gab es insbesondere innerhalb der bürgerlichen Schichten Europas eine Hohe Nachfrage nach indischen Baumwolltuchen. Der massive Anstieg der Importe dieser Tuche sowie der damit zusammenhängende Abfluss von Geld und Edelmetallen veranlasste England dazu, zwischen 1670 und 1690 die Importzölle auf indische Tuchwaren von 7,5 Prozent auf 37,5 Prozent ihres Warenwertes anzuheben. Die höhere Verzollung erzielte jedoch nicht den erhofften Effekt – indische Baumwolltuche waren bei der urbanen Mittel- und Oberschicht Englands nach wie vor sehr gefragt. Und so sah sich England gezwungen weitere Schritte einzuleiten, um den wachsenden Importen Herr zu werden.
Im Jahr 1700 sollte ein Verbot des Verkaufs indischer Tuche folgen. Der Import war ausschließlich zum Zweck des Reexports erlaubt. Im selben Atemzug wurden die Importzölle auf unverarbeitete Baumwolltuche gesenkt; die profitable Veredelung dieser Waren sollte fortan verstärkt in England selbst stattfinden. Rund zwei Jahrzehnte später wurde selbst der Import von unverarbeiteten Baumwolltuchen verboten, lediglich Baumwollgarn durfte nach England eingeführt werden. Das Profitpotenzial hatte sich inzwischen gesteigert, da Mischtuche aus Leinen und Baumwolle bei den ärmeren Schichten immer beliebter wurden. Die Produktion dieser Mischtuche wurde durch die niedrigen Importzölle auf die notwendigen Rohstoffe und durch die Abschaffung von Exportzöllen auf die Fertigwaren befeuert. In anderen Worten: Der Staat sorgte dafür, dass das englische Textilgeschäft profitabel wurde.
Doch damit nicht genug. Steinkohle und Pferde waren für die inländische Produktion unabdingbar und so erhob England Exportzölle auf diese wichtigen Ressourcen. Damit trug der Staat dazu bei, dass sich der Produktionsfaktor Kapital im Verhältnis zum Produktionsfaktor Arbeit nicht verteuerte. Mitunter war es sogar günstiger für Produzenten, kapitalintensiv zu produzieren und vermehrt Dampfmaschinen und mechanische Webstühle einzusetzen. Das Eingreifen des englischen Staates in die Wirtschaft sorgte dafür, dass die indischen Tuchproduzenten um 1830 vom Weltmarkt nahezu verschwunden waren.
Der Staat agierte jedoch nicht nur im Interesse der heimischen Industrie, sondern auch als Stabilisierer, um die Schwankungen des Marktes aufzufangen. Selbst im Mittelalter gab es vielerorts ordnungspolitische Maßnahmen und Eingriffe in die Wirtschaft, etwa Verbote von Preiswucher – für Grundnahrungsmittel wurden Preise sogar oftmals festgeschrieben. Auch sogenannte Fürkäufe, also das Aufkaufen von Waren zum Zweck der Verknappung und der Steigerung der Preise, waren häufig untersagt.
Ein weiteres wegweisendes Zeugnis staatlich gelenkter Preise bietet die Speicherpolitik: Um Engpässe zu überbrücken und Stabilität zu garantieren, wurden in China groß angelegte Getreidespeicher staatlich verwaltet. Auch in Europa waren lokale Kornspeicher nichts Ungewöhnliches und halfen dabei, die Fluktuation der Märkte einzudämmen. Gab es Missernten, etwa aufgrund von klimatischen Veränderungen oder nach Kriegen, war es durch eine solche Speicherpolitik möglich, die Versorgung lokal sicherzustellen – auch wenn das nicht zu allen Zeiten und erst recht nicht in allen Regionen immer auch gelang.
Im Zuge der voranschreitenden Industrialisierung verlagerten viele Staaten ihr wirtschaftspolitisches Engagement. Während des 19. Und 20. Jahrhundert lässt sich eine erhebliche Verdichtung an Regularien, Gesetzen und Auflagen erkennen – insbesondere der Handel und das Bankenwesen gerieten in den Fokus. Es wurden Gesetze gegen Kartelle und Monopole beschlossen, wie etwa der Sherman Antitrust Act aus dem Jahr 1890, der mitunter zu Entflechtungen der marktbeherrschenden Giganten General Electric und Standard Oil führte. Gewichte und Maße wurden stärker reguliert, Verstöße schärfer sanktioniert.
Zeitgleich trat der Staat insbesondere dort vermehrt als Unternehmer auf, wo es für privates Kapital nicht profitabel genug war, oder wo es zu riskant gewesen wäre, private Akteure walten zu lassen. Dies war insbesondere bei der Bereitstellung und dem Ausbau von Infrastruktur der Fall: Der Eisenbahnbau war konsequenterweise staatlich betrieben worden. Denn Infrastrukturprogramme wie das Schienennetz neigen zu natürlichen Monopolen, da es nur ein einziges Schienennetz geben kann. Da der Staat nicht auf Profite angewiesen ist, kann er die Infrastruktur dem gesamten Privatsektor zur Verfügung stellen, ohne exklusive Nutzungsrechte verkaufen zu müssen. Welche negativen Auswirkungen die Privatisierung solcher öffentlicher Bereiche hat, zeigt sich gegenwärtige am Beispiel der Deutschen Bahn AG.
Der Staat agierte aber nicht nur als Bereitsteller zentraler Infrastrukturen, sondern auch als Treiber von Innovationen. Das zeigt sich etwa am Apollo-Projekt der NASA, für das die US-Regierung stolze 25,4 Milliarden Dollar aufgewendet hat. Das Apollo-Projekt hat nicht nur einen Menschen auf den Mond gebracht, sondern zahlreiche Spillover-Effekte nach sich gezogen. Ohne das US-amerikanische Raumfahrtprogramm und die damit einhergehenden massiven Aufwendungen für Forschung und Entwicklung wären eine Vielzahl weiterer Innovationen in anderen Branchen gar nicht erst möglich gewesen. Darauf machte die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem kürzlich erschienenen Buch Mission: Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft aufmerksam: Kameratelefone, kratzfeste Linsen, Computertomografie, LEDs, Landminenräumung, Rettungsdecken, Wasseraufbereitungssysteme, Gebäudeisolierung, Funk-Kopfhörer, Babynahrung, einstellbare Rauchmelder, künstliche Gliedmaßen oder auch Laptops wären ohne das staatliche Raumfahrtprogramm gar nicht oder erst viel später entstanden.
Dennoch hält sich weiterhin der Mythos der Innovationskraft des freien Marktes, was sich besonders deutlich am Unternehmen Tesla zeigt. Im Jahr 2009 vergab das Energieministerium der USA einen garantierten Kredit über 465 Millionen Dollar an Tesla, schlicht zum Zweck der Innovationsförderung. Von dem heutigen Erfolg des Unternehmens profitieren weder der Staat noch die Beschäftigten noch die Bevölkerung – profitiert hat einzig und allein Elon Musk.
Dass Staaten immer wieder als Treiber innovativer Technologien und Branchen auftreten, lässt sich auch im Südkorea der 1990er Jahre beobachten, als man dort das Potenzial von High Definition erkannte. Die damalige Regierung bildete zusammen mit Privatunternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen ein Konsortium. 100 Millionen Dollar flossen aus öffentlicher und privater Hand in das Projekt, das Südkorea zum führenden Hersteller digitalen Fernsehens machen sollte. Der Staat war jedoch nicht bloß Geldgeber, sondern koordinierte auch die Unternehmen bei der Erarbeitung der Standards für digitales Fernsehen.
Auch die Entwicklung der Impfstoffe gegen Covid-19 wurden massiv staatlich bezuschusst und gründen auf jahrelanger, staatlich finanzierter Grundlagenforschung. Anstatt die Gewinne zu privatisieren, sollte vielmehr sichergestellt werden, dass Impfstoffe und auch andere Medikamente, die mithilfe von massiven staatlichen Zuschüssen und auf Grundlage staatlicher Forschung entstanden, für alle Menschen zugänglich sein müssen. Staaten wären zudem gut beraten, eigene Produktionskapazitäten im Bereich der Impfstoff- und Medikamentenherstellung aufzubauen, um die Bevölkerung jederzeit ausreichend versorgen zu können.
Die Frage, ob sich der Staat oder der Markt den Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft annehmen sollte, stellt sich also nicht. Es war seit jeher der Staat, der dem Markt ermöglichte, zu wachsen – und nicht selten erzeugte auch der Staat selbst Wohlstand, indem er als Unternehmer auftrat oder investierte. Bereits Giovanni Botero erkannte 1589 in Ragion di Stato, dass es nicht allein Gold, Silber und Geld sind, die Wohlstand bedeuten: Es ist die Arbeit, die den Wohlstand schafft.
Was wir brauchen, ist ein Markt im Interesse der Mehrheit und im Interesse der Nachhaltigkeit. Wert wird kollektiv geschaffen und ist nie auf die Leistung einer einzelnen Person oder eines einzelnen Unternehmens zurückzuführen. Und genau deshalb sollte das Gemeinwohl bei der Verteilung des entstandenen Wertes einbezogen werden. Der Markt ist und war nie frei. Er kann dem Staat nur folgen – im besten Fall in Richtung einer gerechteren, nachhaltigeren Gesellschaft.
Julien Niemann ist Historiker und spezialisiert sich im Bereich der neueren und neuesten Wirtschafts- und Sozialgeschichte.