30. September 2024
»Follow the science« ist ein beliebter Slogan, um den Klimaschutz voranzubringen. Doch wer glaubt, Desinformation sei das Hauptproblem im Kampf für mehr Klimaschutz, verkennt die Herausforderung, vor der wir eigentlich stehen.
Wer Bedenken über Klimaschutzmaßnahmen äußert, ist nicht automatisch ein Opfer von Desinformationskampagnen. Bessere Wissenschaftskommunikation hilft daher nur bedingt weiter.
In Kanada sind falsche Behauptungen zur Umweltbilanz jetzt illegal: Laut einem im Juni verabschiedeten Gesetz können Unternehmen bestraft werden, wenn sie Aussagen über die Klimaverträglichkeit ihrer Produkte machen, ohne dass diese auf einer »angemessenen und sachgerechten Bewertung« beruhen. Es ist ein Erfolg für Umweltgruppen, die anderthalb Jahre lang für dieses Anti-Greenwashing-Gesetz gekämpft haben.
Das Gesetz ist nur ein Baustein in einer deutlich breiteren »Anti-Desinformationswelle« in der Klimabewegung. Der US-Kongress hat mehrere hochrangige Anhörungen zu diesem Thema abgehalten. Forscherinnen und Forscher veranstalten Konferenzen zum Thema »Klima-Desinformation« oder zu »Kampagnen gegen Klimapolitik«. Diese Konferenzen erstrecken sich teils über mehrere Tage und werden von einem großen Netzwerk organisiert, das akribisch die Fehlinformationen von Unternehmen zum Thema Klima zusammenträgt und beobachtet. Umwelt-NGOs erstellen Datenbanken mit Listen von falschaussagenverbreitenden Einzelpersonen und Wissenschaftlern und entwickeln Programme gegen Klima-Desinformation. Im Gegenzug wenden sich Thinktanks, die sich ausdrücklich mit Desinformation befassen, ebenfalls verstärkt dem Bereich Klima zu. So hat beispielsweise das Center for Countering Digital Hate einen Bericht mit dem Titel The new climate denial (»Die neue Klimawandelleugnung«) verfasst.
Desinformation scheint für die Klimabewegung aktuell ein etwas merkwürdiger Schwerpunkt zu sein – zumindest aus US-amerikanischer Sicht. Schließlich wurden dort gewaltige Mittel für Klimaschutzmaßnahmen beschlossen. Mit der Bipartisan Infrastructure Bill von 2021 und dem Inflation Reduction Act (IRA) von 2022 wurde insgesamt 1 Billion Dollar für die Bewältigung der Klimakrise bereitgestellt. Das Problem: Ein Großteil der Öffentlichkeit weiß nichts von diesen massiven Investitionen – und lokale Behörden, Communities und Organisationen haben oft Schwierigkeiten, an die neuen Mittel heranzukommen.
Diese materiellen Siege wären der perfekte Zeitpunkt für die Klimabewegung, den Menschen verstärkt zu erklären, was Wärmepumpen sind, Kampagnen zu führen, um den Bau von Stromleitungen zu beschleunigen und den Kommunen zu helfen, das Gewirr der Bundesfinanzierung zu durchschauen. Fairerweise muss man dazu sagen: Viele regionale Organisationen, kommunale Planer und ehrenamtliche Gremien, die sich lokal für Klimaschutz einsetzen, tun dies und haben mit derartigen Aktivitäten alle Hände voll zu tun.
»Wenn man sich auf Desinformation im Bereich Klima konzentriert, geht dies oft auf Kosten konstruktiver Gegenmaßnahmen.«
Doch es fehlt ein landesweites Bindeglied und ein breiter gefasstes Narrativ. Wenn »Klima-Intellektuelle« – also das Online-Kommentariat, Journalistinnen und NGO-Führungen, die uns über Klimaschutz aufklären sollen – einen Fokus setzen müssten, dann wäre es derzeit sinnvoll, sich auf die neuen Möglichkeiten für Maßnahmen vor Ort zu konzentrieren. Man müsste die Menschen zusammenbringen, über Resilienz sprechen und die Klima-Thematik in ein breiteres Narrativ einbinden, das die Motivation der Gesamtbevölkerung weckt oder stärkt. Stattdessen hat der intellektuelle Flügel der Klimabewegung beschlossen, einen Informationskrieg zu führen, der sich auf Sprache und insbesondere darauf konzentriert, aufzudecken, was beispielsweise Big Oil schon vor Jahren wusste und bisher vertuschte.
Angesichts der Tatsache, dass die finanziellen Mittel und die öffentliche Aufmerksamkeit begrenzt sind, ist diese Besessenheit vom Thema Klimawandelleugnung und Desinformation eine verpasste Chance und eine politisch-strategische Sackgasse. Sie spiegelt die Tendenz von Liberalen wider, Desinformation zu dem Feindbild zu machen, dem wir die Schuld für alle unserer großen politischen Probleme geben können.
Am 8. August 2024 veröffentlichte der Guardian einen Artikel über Desinformationskampagnen, die den globalen Wandel hin zu grüner Energie verlangsamen. In dem Artikel wird ein Beamter der Vereinten Nationen ausführlich zitiert, der vor einem globalem »Backlash« gegen Klimaschutz durch die Erdölkonzerne warnt.
Die Kosten für einen solchen Artikel belaufen sich auf die Energie für die Cloud-Dienste, die einen solchen Text auf unsere Geräte spülen, und die Kosten, ihn zu schreiben. Dies ist relativ billig. Und das ist genau das Problem: Es ist billig und einfach, solche Texte zu schreiben – und deutlich aufwändiger, über Klimamaßnahmen vor Ort zu berichten oder Recherchen zu unternehmen und sich mit lokalen Gemeinden auseinanderzusetzen. Allerdings hat diese Art des Anti-Desinformations-Diskurses einen weiteren Preis: einen Aufmerksamkeitspreis. Und das ist wichtig. Die über die Seite scrollende Person lenkt ihre Aufmerksamkeit auf »diese unverschämten Konzerne« anstatt auf das, was sie und ihre Kommune selbst in Sachen Klima und Klimapolitik tun könnten.
Wenn man sich auf Desinformation im Bereich Klima konzentriert, geht dies oft auf Kosten konstruktiver Gegenmaßnahmen. Es sind verpasste Gelegenheiten. Mehr noch: Damit können die Chancen für wirklich sinnvolle und effektive Klimaschutzmaßnahmen geschmälert werden.
Das liegt daran, dass der Fokus auf »Klima-Desinformation« eine negative Rückkopplungsschleife in Gang setzt. Niemand würde ernsthaft bezweifeln, dass Fehl- und Falschinformationen in der heutigen Politik gang und gäbe sind, insbesondere wenn es um den Klimawandel geht. Doch anstatt sich ausschließlich auf solche Fehlinformationen zu konzentrieren, sollten wir die Aufgabe, die Öffentlichkeit für das Klima zu begeistern, als ein Dreieck mit drei Punkten betrachten: Fehlinformationen, Wertekonflikte und Misstrauen gegenüber den Eliten. Aktuell reduziert das intellektuelle Klima-Kommentariat all diese Herausforderungen auf das Problem der Fehlinformation und versäumt es, Wertekonflikte und die Vertrauensfrage offen anzusprechen. Dies wiederum führt zu einer Polarisierung, heizt die besagten Wertekonflikte an und untergräbt das Vertrauen in die Wissenschaft, die Politik und die Medien weiter.
»Aber was, wenn jemand die Frage stellt, ob Wind- und Solarenergie tatsächlich ausreichen, um uns alle ausreichend mit Strom zu versorgen? Das sind keine Fake News, sondern reale Sorgen.«
Ich bin Sozialwissenschaftlerin und habe USA-weit Fokusgruppen ins Leben gerufen, in denen wir gemeinsam darüber sprechen, wie wir das Ziel Netto-Null erreichen können. Viele Menschen bezweifeln, dass Netto-Null bis 2050 ein realistisches Ziel ist. Sie hegen Bedenken darüber, ob erneuerbare Energien tatsächlich genug Energie liefern können und was mit Windturbinen oder Solarzellen am Ende ihrer Lebensdauer passiert. Sie machen sich Sorgen über unbeabsichtigte ökologische Folgen des Ausbaus des Netzes für erneuerbare Energien. Sie denken, dass sie sich Elektroautos schlichtweg nicht leisten können. Und: Nicht selten äußern sie die Vermutung, dass die Bekämpfung des Klimawandels irgendwie auch eine Möglichkeit ist, den Eliten mehr Geld zukommen zu lassen, während das eigene Portemonnaie geplündert wird.
Wir müssen uns diese Bedenken anhören und dann etwas dagegen tun, anstatt sie einfach als ein »Produkt der Desinformation« abzutun. Wenn mir eine Teilnehmerin einer Fokusgruppe in West Virginia erzählt, dass Solarpaneele Strahlung abgeben, die mit einem Geigerzähler gemessen werden könne, dann sind das Falschinformationen, keine Frage. Aber was, wenn jemand die Frage stellt, ob Wind- und Solarenergie tatsächlich ausreichen, um uns alle ausreichend mit Strom zu versorgen? Das sind keine Fake News, sondern reale Sorgen. Solche Fragen bieten aber auch eine Gelegenheit, über Batteriespeicher zu sprechen oder darüber, was nötig wäre, um bessere Übertragungsnetze für erneuerbaren Strom zu bauen.
Wenn die Anti-Desinformations-Bewegung jegliches Widerstreben gegen grüne Maßnahmen als »Klimaleugnung« umdefiniert, führt dies auch dazu, dass berechtigte Meinungsverschiedenheiten über die besten Maßnahmen als »Streit über die Wahrheit« dargestellt werden.
»Klimaleugnung sollte vielmehr ein flexibler Begriff sein, der ein breites Spektrum bezeichnet«, argumentiert Tad DeLay in seinem neuen Buch Future of Denial (»Die Zukunft der Verleugnung«). Der Bericht The New Climate Denial kommt zum ähnlichen Schluss, es gebe eine Verlagerung von der »alten [Klimawandel-] Leugnung« – also der Vorstellung, dass die Erderwärmung schlicht nicht existiere und/oder der Mensch nicht der Verursacher sei – zur »neuen Leugnung«. Diese neue Leugnung beinhaltet Aussagen wie: »Klimamaßnahmen funktionieren nicht« oder »Die Klimawissenschaft und die Klimabewegung sind unseriös«. Gegner solcher Narrative fordern im Gegenzug, Online-Plattformen sollten Inhalte mit solcher »neuer Leugnung« entschärfen, sprich: löschen.
Ein Beispiel aus demselben Bericht zeigt aber, wie schwierig das in der Praxis sein kann. So wird auf ein Gespräch auf Youtube zwischen dem kontroversen rechten Publizisten Jordan Peterson und der konservativen Ministerpräsidentin der kanadischen Provinz Alberta, Danielle Smith, hingewiesen. Smith spricht darin über die Probleme und Ängste von Menschen im hohen Norden Kanadas mit Blick auf zuverlässiges Heizen in den Wintermonaten. Darüber hinaus seien die Kosten für die Energiewende für Menschen mit niedrigen Einkommen ein Reizthema. Diese Bedenken habe auch ich schon von diversen Menschen in kälteren Regionen Nordamerikas gehört: Sie sind einfach nicht sicher, ob das Stromnetz und die Batteriespeicher (heute schon) der Aufgabe gewachsen sind, Gas beim Heizen zu ersetzen. Darüber hinaus mangelt es ihrer Ansicht nach auch an politischen Konzepten, die diese Energiewende für sie erschwinglich gestalten würden.
Nun zu fordern, dass eine gewählte Ministerpräsidentin, die Bedenken äußert, die viele Menschen haben, per Algorithmus »gecancelt« wird, ist einfach keine sonderlich gute Idee. Denn das würde offensichtlich dazu führen, dass viele Menschen das Gefühl haben, nicht gehört zu werden. Darüber hinaus würden ihre realen Bedenken und Sorgen als »Klimaleugnung« abgetan. Viele würden eine solche Umdeutung ihrer Bedenken (wohl zurecht) als Ausdruck von elitärer Arroganz verstehen.
»Wenn Menschen Fragen zur Machbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen stellen, dann oft, weil sie in der Logistik, der Landwirtschaft oder der Produktion arbeiten. Sie verstehen – anders als Büroarbeiterinnen wie ich – die Komplexitäten beim Aufbau neuer Systeme.«
Die Vorstellung, Menschen, die die grüne Wende mit Sorge betrachten, seien lediglich Opfer von Desinformationen, ist zutiefst herablassend. Zum einen lassen sich die meisten Menschen nicht von den Werbeversprechen der Konzerne blenden oder beeinflussen. In meinen Interviews und Fokusgruppen in den Vereinigten Staaten hat wortwörtlich niemand Vertrauen in irgendeine Behauptung der Fossil-Unternehmen geäußert oder sich von deren Werbe-Claims beruhigt gefühlt. Ob jung oder alt, Republikanerin oder Demokrat, die Menschen sind nicht nur gegenüber den Öl- und Gaskonzernen, sondern gegenüber allen Großunternehmen zutiefst skeptisch. Sie zeigen sich regelrecht angewidert von Agrarkonzernen, Big Pharma, den jeweiligen Wasser- und anderen Versorgungsunternehmen, dem Finanzsektor und insgesamt mit praktisch jedem Konzern in jeder Branche, die man sich vorstellen kann.
Zweitens: Wenn Menschen Fragen zur Machbarkeit von Klimaschutzmaßnahmen stellen, dann oft, weil sie in der Logistik, der Landwirtschaft oder der Produktion arbeiten. Sie verstehen – anders als Büroarbeiterinnen wie ich – die Komplexitäten beim Aufbau neuer Systeme. Ihre Skepsis gegenüber einigen der vorgeschlagenen klimapolitischen Maßnahmen stammt aus ihrer Erfahrung mit Systemen und Infrastruktur. Sie wissen auch, wie sich die Industrie in der Vergangenheit diesbezüglich angestellt hat. Das bedeutet aber nicht, dass sie mit Verschwörungserzählungen von Big Oil »umprogrammiert« worden sind.
Die Pandemie hat uns gezeigt, wie gefährlich es ist, alles zu einem Kampf um die »wirklich richtigen« Informationen und Wahrheitsansprüche zu machen. Anstatt ernsthafte Debatten über Wissenschaft, Ungewissheit und Kompromisse zu führen, wurde die Diskussion darüber, wie man am besten reagieren sollte, nicht selten mit der Behauptung beendet, der Gegenüber sei nun einmal Opfer von Desinformation. Tatsächlich hat die Polarisierung im Zusammenhang mit den Anti-Corona-Maßnahmen die Vorbereitung auf die nächste Pandemie erschwert. Es ist nicht grundlegend falsch, über die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Schulschließungen oder bisherige Sicherheitsprotokolle zu reden. Unter der Polarisierung dürfte auch die zukünftige Finanzierung von Gain-of-Function-Forschung gelitten haben.
Daraus lässt sich eine wichtige Lehre für den Bereich Klima ziehen. Wenn Wertekonflikte und Misstrauen gegenüber Eliten aufkommen, sollten wir diese ansprechen und aufarbeiten (und ausräumen), anstatt sie schlichtweg als Fehlinformationen abzutun und Menschen mit solchen Bedenken als »Desinformationsopfer« abzustempeln.
Die Orte, an denen solche Gespräche stattfinden müssen, sind Institutionen wie Schulen, Bibliotheken und Rathäuser – und in der Regel nicht die sozialen Medien. Regierungsstellen und Behörden können die Gespräche anstoßen und ausweiten. In den USA ergab sich beispielsweise mit dem Climate Pollution Reduction Grants Programm der Umweltbehörde EPA eine großartige Gelegenheit: Über dieses Programm werden 5 Milliarden Dollar aus dem Inflation Reduction Act für die Dekarbonisierung in Bundesstaaten, lokalen Behörden, ethnischen Communities und Territorien bereitgestellt. Im Juli 2024 wurden 25 Zuschüsse vergeben. Allerdings hatte es 299 Anträge mit Maßnahmen im Gesamtwert von 33 Milliarden Dollar gegeben. Das bedeutet: Die potenzielle Finanzierung hat viele Planungsarbeiten in Gang gesetzt, und die Konsortien, die sich um diese Zuschüsse bewarben, haben Communities und Interessengruppen einbezogen, um herauszufinden, welche Klimaschutzmaßnahmen vorgeschlagen werden sollten.
Die Zuschüsse werden die Klimabelastung vermutlich nur um weniger als 1 Prozent reduzieren. Doch der wahre Wert liegt in der Partizipation – der Möglichkeit, eine soziale Infrastruktur für Kooperation bei Klimaschutzmaßnahmen zu schaffen. Eine erste Schätzung besagt, dass 16.000 Stakeholder über den Vergabeprozess erreicht wurden, meist durch die Workshops, Fokusgruppen, Fragebögen und Diskussionsrunden, die durchgeführt wurden, um die Allgemeinheit über die Zuschüsse zu informieren.
Dies ist eine großartige Gelegenheit, Menschen zu vernetzen, die sich womöglich nicht mit »der Klimabewegung« identifizieren. Vieles hängt davon ab, wer dieses Engagement fördert und leitet, und wie dies umgesetzt wird. Wenn lediglich mit einzelnen Interessenvertretern gesprochen wird, um Bundeszuschüsse zu erhalten, und gleichzeitig davon ausgegangen wird, dass ein Großteil der Öffentlichkeit Desinformationsopfer ist, wird es nicht gelingen, Menschen für den Klimaschutz zu gewinnen. Wenn aber an derartigen Treffen teilgenommen wird und dabei die Bedenken angehört werden (und den Betroffenen nachprüfbare Informationen gegen diese Bedenken zur Verfügung gestellt werden), aber auch anspruchsvollere Gespräche darüber geführt werden, wer von der Energiewende profitiert und wie mit den lokalen Auswirkungen umgegangen wird, dann haben wir eine Chance auf echte Fortschritte beim Klimaschutz.
Im Allgemeinen wissen die Menschen, die mit solchen Aufgaben in der Praxis beauftragt sind, wie man eine solche Arbeit macht: Sie leben in den betreffenden Kommunen und Communities; sie kennen die Wählerinnen und Wähler vor Ort. Die Diskrepanz zeigt sich eher auf nationaler und globaler Ebene, bei den Eliten und dem Klima-Kommentariat.
Ein angemessener Umgang mit den klimapolitischen Sorgen der Menschen beginnt damit, die grundlegenden Fehler im Denkmodell zu »Desinformation« zu erkennen. Die zugrundeliegende Idee einer geradezu »ansteckenden« Desinformation ist im Grunde eine Abwandlung des schon lange diskreditierten Defizitmodells aus der Wissenschaftskommunikation. Laut Defizitmodell sind Menschen unbeschriebene Blätter, die beschrieben werden können und denen es schlicht an Informationen fehlt. Übertragen bedeutet das: Damit der Klimawandel bekämpft werden kann, müssen die Leute die richtigen Informationen konsumieren.
Jahrzehntelange sozialwissenschaftliche Forschung hat das Defizitmodell im Wesentlichen widerlegt. Wie in einem Bericht der National Academies of Sciences aus dem Jahr 2017 lapidar festgehalten wird: Das Modell ist falsch. Die Menschen verstehen demnach meist, was Forscherinnen und Forscher kommunizieren, handeln aber nicht unbedingt im Einklang mit der Wissenschaft, weil sie auch ihre eigenen Ziele, Bedürfnisse, Fähigkeiten, Werte und Überzeugungen berücksichtigen.
Warum sollten also Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Klima befassen, nun plötzlich wieder ein Denkmodell übernehmen, das einer der wichtigsten Erkenntnisse der Wissenschaftskommunikationsforschung widerspricht? Keine Frage, der Fokus auf Desinformationen ist für Wissenschaftlerinnen und Kommunikatoren verführerisch, denn er stellt diejenigen Personen in den Vordergrund, die sich auf Kommunikation spezialisiert haben – und nicht auf die Arbeiter und Planerinnen, die tatsächlich die physische Energieinfrastruktur, die Industrie und das Bauwesen verändern müssen. Andersherum ausgedrückt: Wenn Desinformation wirklich das Hauptproblem im Kampf für mehr Klimaschutz wäre, dann wäre die sprechende, schreibende und publizierende Klasse tatsächlich der wichtigste Akteur in diesem Kampf.
»Der Kampf gegen Desinformation wird somit zu einem billigen Ersatz für die anstrengende Arbeit, den Menschen zuzuhören und von ihnen zu lernen.«
Es gibt auch ganz banale ökonomische Gründe, sich auf das Kampfgebiet Desinformation zu konzentrieren. Es ist verhältnismäßig teuer und ressourcenintensiv, mit der Bevölkerung irgendwo auf dem Land über Wärmepumpen zu debattieren. Unsere Universitäten lehren allzu oft nicht, wie man mit Menschen arbeitet, die einen anderen Hintergrund haben als man selbst. Das Geschäftsmodell der Universitäten mit ihren großen Vorlesungen vermittelt nicht die benötigten Soft Skills. Und: Die Philanthropen, die den Klimaschutz mitfinanzieren, kommen oft aus dem Software- oder Finanzbereich und kennen sich bereits gut mit Desinformation (und dem Defizitmodell) aus. Diese Geldgeber haben nicht viel Erfahrung mit der lokalen Arbeit mit echten Menschen, die Fragen und Bedenken zur Klimapolitik haben.
Der Kampf gegen Desinformation wird somit zu einem billigen Ersatz für die anstrengende Arbeit, den Menschen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Wir müssen Ressourcen für eine andere Art der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel bereitstellen. Eine solche Auseinandersetzung muss die allgemeine Öffentlichkeit als kompetent und nuanciert betrachten – und nicht lediglich als empfängliche Zielgruppe für klimaleugnerische Memes.
Was sollten also die sinnvollen nächsten Schritte für diejenigen unter uns sein, denen der Kampf gegen den Klimawandel am Herzen liegt? Es ist gut, dass es Aktivisten und Forscherinnen gibt, die die Finanzströme und die Lobbyarbeit für fossile Brennstoffe nachverfolgen und öffentlich machen. Wir brauchen diese Transparenz. Es ist ebenfalls wichtig zu verstehen, wie Online-Plattformen funktionieren und dass hinter dem Verbreiten von Falschinformationen auf Social Media durchaus finanzielle Anreize stecken. Diese verhältnismäßig billigen diskursiven Kämpfe dürfen wir aber nicht mit der eigentlichen Klimaschutzarbeit verwechseln, bei der es letztlich darum geht, die Systeme umzugestalten und die 80 Prozent fossiler Energie, die wir heute zum Leben nutzen, durch saubere Energie zu ersetzen.
Es gibt offensichtlich eine Wechselbeziehung zwischen den Vorstellungen und eigenen Narrativen der Menschen und der gebauten Umwelt um sie herum. Deshalb ist es so wichtig, Taktiken zur Veränderung dieser Narrative zu entwickeln. Die große Masse lediglich als Opfer von Desinformation zu behandeln, ist herablassend und bestärkt das Gefühl, die Eliten wollten den »normalen« Menschen vorschreiben, was sie zu denken und wie sie zu leben haben. Die Klimabewegung muss Menschen mit klimapolitischen Bedenken als kompetente Individuen mit eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen verstehen. Dann können echte Gespräche auf Augenhöhe geführt werden.
Holly Buck ist die Autorin von After Geoengineering: Climate Tragedy, Repair, and Restoration. Ihr neues Buch Ending Fossil Fuels: Why Net Zero is Not Enough erscheint im November 2024.