12. Januar 2023
Der antidemokratische Sturm auf das brasilianische Regierungsviertel hat den Autoritarismus von Bolsonaros Anhängerschaft offenbart. Dagegen braucht es entschlossenes Vorgehen.
Bolsonaro-Anhänger stürmen das Regierungsviertel, Brasilia, 08. Januar 2022.
IMAGO / FotoarenaAm vergangenen Sonntag durchbrachen Tausende Anhängerinnen und Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro die Polizeiabsperrungen in der Hauptstadt Brasília und stürmten in den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz Palácio do Planalto.
Mehrere Stunden vergingen, bis die Menschenmenge, die sich gegen die Amtseinführung von Bolsonaros Gegner Luiz Inácio Lula da Silva stellte, zurückgedrängt werden konnte. Hunderte wurden verhaftet. Bolsonaros Anhängerschaft verwüstete Regierungsgebäude und zerstörte unzählige Dokumente, historische Artefakte und Kunstwerke.
Die Besetzung aller drei Regierungsgebäude veranschaulicht auf dramatische Weise, wie fragil die brasilianische Demokratie geworden ist. Die Reaktion der neuen Regierung wird entscheidend dafür sein, wie es um die Zukunft der demokratischen Institutionen des Landes steht.
Der Vergleich mit dem Sturm auf das Kapitol, der sich in den USA am 6. Januar 2021 ereignete, liegt auf der Hand: Angefangen bei der Koordination über soziale Medien bis hin zu der laschen Reaktion der Strafverfolgungsbehörden und dem planlosen Agieren, das die Menschenmenge an den Tag legte, sobald sie sich im Gebäude befand. Ähnlich wie in den USA verfolgten die Brasilianerinnen und Brasilianer im Fernsehen, wie eine Masse von Reaktionären, angestachelt von einem unterlegenen rechtsextremen Präsidenten, in die Räume demokratischer Macht eindrang und ihre Taten livesteamte, offenbar unbesorgt, Ziel von Strafverfolgung zu werden.
Was also werden die brasilianischen Behörden tun? Lula reagierte wie folgt:
»Diese Leute, diese Randalierer, die wir Nazi- oder Faschismus-Fanatiker nennen können, haben etwas getan, was es in der Geschichte dieses Landes noch nie gegeben hat. Ich möchte alle daran erinnern, dass Linke in der Vergangenheit gefoltert und getötet wurden oder verschwunden sind. Und dennoch hat man noch nie davon gehört, dass eine linke Partei, eine linke Bewegung in den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Palácio do Planalto gestürmt ist.«
Der neue Präsident war gerade auf einem Besuch in einer Gemeinde in Araraquara, im Bundesstaat São Paulo, die von den schweren Regenfällen in der Region hart getroffen wurde. Er verordnete eine Intervention auf Bundesebene, die den Bundesdistrikt bis zum 31. Januar unter die direkte Kontrolle seiner Regierung stellt.
Lula hat versprochen, dass diejenigen, die für die Stürmung des Regierungsviertels verantwortlich sind, mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt und bestraft werden. Selbiges gilt für diejenigen, die sie finanziert haben. Bei seinem Amtsantritt Anfang Januar machte Lula unmissverständlich klar, dass politische Gewalt nicht akzeptabel ist. Er betonte die Themen Inklusion und Großzügigkeit und stellte sich zugleich kompromisslos gegen das undemokratische Vorgehen der extremen Rechten.
Lula verurteilte das Verhalten der Militärpolizei, die für die Sicherheit des Distrito Federal zuständig ist, und verwies auf Videoaufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie Polizeikräfte den Angreifern helfen und mit ihnen kooperieren. Als sich in den vergangenen Wochen Bolsonaro-Fans in der Hauptstadt versammelten und um den Praça dos Três Poderes (Platz der drei Gewalten) Camps errichteten, war bereits eine mangelnde Polizeipräsenz zu beobachten.
Der Gouverneur des Distrito Federal, Ibaneis Rocha, und sein Minister für öffentliche Sicherheit, Anderson Torres, sind beide als glühende Bolsonaro-Verehrer bekannt. Torres befindet sich derzeit in Orlando, Florida, wo sich Bolsonaro seit seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt aufhält. Viele Linke zweifeln daher an Rochas und Torres’ Bereitschaft, angesichts der bolsonaristischen Aggression die öffentliche Sicherheit zu bewahren.
Jetzt, wo es umfangreiche Videobeweise gibt, die zeigen, wie Polizeikräfte den gewalttätigen Mob passiv filmen und sogar durch die Sicherheitsabsperrungen führen, hat Lulas Regierung gehandelt. Auf Druck des Justizministeriums hat Rocha Torres aus seinem Amt entlassen. Und wenige Stunden später setzte der Richter des Obersten Gerichtshofs, Alexandre de Moraes, Rocha für neunzig Tage als Gouverneur des Distrito Federal ab.
Justizminister Flavio Dino, eine führende Figur der brasilianischen Linken, hat zusätzlich zu den rund vierhundert Verhaftungen, die bereits erfolgt sind, noch weitere angekündigt. In einer gemeinsamen Aktion von Militärpolizei und Armee wurden die in Brasília errichteten Lager aufgelöst. Mehr als vierzig Busse, mit denen Bolsonaristas in die Hauptstadt angereist waren, wurden für die Ermittlungen beschlagnahmt.
Eine Herausforderung für die Demokratie
Die Regierung hat bei der Beschreibung der Täterinnen und Täter nichts rhetorisch beschönigt – sie bezeichnete die Randalierenden als faschistisch, kriminell und terroristisch. Die brasilianische Exekutive, Legislative und Judikative haben einhellig strafrechtliche Maßnahmen angekündigt.
Lula berief eine Dringlichkeitssitzung mit den Gouverneuren der Bundesstaaten ein, um eine Antwort auf die aktuelle Krise zu finden und als demokratische Front nach außen zu treten. Viele darunter sind jedoch kürzlich gewählte Gegner der Lula-Regierung und unterstützen Bolsonaro. Ob bezüglich der Verteidigung der Demokratie Einigkeit erzielt werden kann, bleibt also abzuwarten.
Was auch immer als nächstes geschieht – der Schaden ist bereits angerichtet. Mit den Ausschreitungen in der Hauptstadt ist die Fassade der demokratischen Erneuerung und des friedlichen Übergangs, die mit Lulas Amtsantritt verbunden war, gefallen. Zum Vorschein gekommen ist ein zerrüttetes Land. Ob die Versprechen einer umfassenden Bestrafung der Verantwortlichen auch eingelöst werden, wird sich zeigen müssen. Die entschlossene Reaktion der neuen Regierung zeigt jedoch bereits, dass Lula und sein Kabinett nicht gewillt sind, einfach hinzunehmen, dass die Anhängerinnen und Anhänger eines in Ungnade gefallenen Politikers, der aus dem Land geflohen ist, um einer Verhaftung zu entgehen, die Demokratie mit Mitteln der Gewalt herausfordern.
Olavo Passos de Souza ist Historiker und promoviert an der Universität Stanford.