14. Juli 2023
Der neue CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann steht wie kein anderer für Marktradikalismus und Kulturkampf. Mit seiner Ernennung spielen die Konservativen der AfD direkt in die Hände.
Mit Linnemann vollendet sich die Abkehr der Merz-CDU von der Merkel-Ära.
IMAGO / Chris Emil JanßenCarsten Linnemann steht im Garten der Villa La Collina am Lago di Como, dem beliebten oberitalienischen Urlaubsdomizil der Reichen und der Schönen. Hier, in dem pastellgelb gestrichenen Haus mit weitläufigem Garten und Seeblick, erholte sich schon Konrad Adenauer, Mitbegründer der CDU und erster Bundeskanzler, von den Turbulenzen der jungen Bundesrepublik. Linnemann ist Vorsitzender der Programm- und Grundsatzkommission der CDU, die sich an dem geschichtsträchtigen Ort trifft, um über die Neuausrichtung der Partei nach der Merkel-Ära zu beraten.
Im luxuriösen Idyll philosophiert Linnemann über den Sinn moderner konservativer Politik. Er kommt zu dem Schluss: Der Staat soll sich aus dem Leben der Einzelnen raushalten. Er soll lediglich Rahmenbedingungen setzen für die freie (wirtschaftliche) Entfaltung der Subjekte. Der Sozialstaat müsse fördern – aber auch fordern, sprich: sanktionieren. So weit, so ordoliberal. Aber noch ein zweiter Gedankenstrang verdichtet sich in der italienischen Abendsonne: Konservative Politik müsse den »Umerziehungsversuchen« der politischen Linken, der »Sprachpolizei« und der »Unordnung« an den Außengrenzen entschieden entgegentreten. Stattdessen bräuchte es mehr Polizei auf den Straßen, mehr Rechtsstaat, mehr Grenzsicherung und mehr Law and Order.
Dass sich die CDU als Verfechterin der sozialen Marktwirtschaft – ganz im Sinne des Ordoliberalismus – nie wirklich einen schwachen Staat wünschte, sondern vor allem eine vom Staat unbehelligte Wirtschaft bei gleichzeitiger Stärkung des Klassenkampfs von oben durch Law and Order und Sanktionierung der Armen, ist im Grunde nichts Neues. Linnemann formuliert diesen Anspruch nur in neuer Schärfe. Was sich aber in den letzten Jahren geändert hat und sich nun in der Ernennung Linnemanns zum Generalsekretär manifestiert, ist der Kursschwenk der CDU hin zu rechten Kulturkämpfen ums Gendern, um Migrationsfragen und um die vermeintliche Verbotspolitik der Grünen.
Aber der Reihe nach: Als größte Oppositionspartei sollte die CDU eigentlich vom gegenwärtigen Dauerstreit in der Ampel-Regierung profitieren. Stattdessen legt aber im Moment die AfD in alarmierendem Maße in den Umfragen zu. Mit dem nun in die Wege geleiteten Wechsel des Generalsekretärs will der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz gegensteuern und das Profil der schwächelnden Christdemokratie schärfen.
Linnemanns Vorgänger Mario Czaja galt als – für die Verhältnisse der Union – »sozialer« Gegenpol zum ohnehin marktradikal und rechtskonservativ orientierten Merz. Viele in der Union fanden ihn jedoch zu leise und zurückhaltend in der Öffentlichkeit. Nun muss er schon nach anderthalb Jahren als Generalsekretär den Posten räumen und Merz holt sich einen Gleichgesinnten an seine Seite, um die Rechtswende der CDU nach der Merkel-Ära und der »Politik der Mitte« zu vollenden. Dabei verzeichnete Czaja in seinem Wahlbezirk Berlin-Marzahn bei der letzten Bundestagswahl tatsächlich einen großen Erfolg gegen die AfD – mit einem Wahlkampf, der sich den Alltagsproblemen der Menschen vor Ort und nicht ideologischer Hetze widmete.
Dass die Wahl nun auf Linnemann gefallen ist, verrät viel über Merz' Strategie gegenüber der AfD: Er will die verlorenen Stimmen zurückholen, indem er sich an die Rechten anbiedert. Die Springerpresse jubelt, aber von Erfolg wird dieses Unternehmen wohl kaum geprägt sein.
Im Anschluss an sein VWL-Studium begann der 1977 in Paderborn geborene Linnemann seine Karriere im Bankenwesen. Zuerst arbeitete er für die Deutsche Bank in Hong Kong und New York und dann für die als solide geltende Mittelstandsbank IKB. Damit war es im Juli 2007 aber vorbei, als die IKB infolge ihrer Immobilienspekulationen in den USA kollabierte.
Freilich kein Grund zur Sorge: Linnemanns Arbeitgeber wurde mit Milliardenzuschüssen gerettet. Das hinderte Linnemann nicht daran, sich in den folgenden Jahren, in denen er seine politische Karriere begann, als großer Kritiker der Euro-Rettung aufzuspielen. 2013 wurde der junge Neoliberale dann erstmals zum Vorsitzenden der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT) gewählt und ist somit dem Wirtschaftsflügel der Unionsfraktion im Bundestag zuzuordnen, der Linnemann seit 2009 angehört.
Die MIT ist bekannt für ihre kapitalfreundlichen und unternehmensnahen Positionen und kann als klassisch ordoliberal gelten: Der Staat soll lediglich den Rahmen für die individuelle Entfaltung im wirtschaftlichen Wettbewerb setzen. In diesem Sinne machte auch Linnemann unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden 2013 im Interview mit dem Deutschlandfunk klar, wo seine Prioritäten liegen: keine Steuererhöhungen und kein Mindestlohn.
Spätestens seit seiner Ernennung zum stellvertretenden Vorsitzenden der CDU-Bundestagsfraktion im März 2018 spielt Linnemann ganz oben in der Union mit und ist dafür bekannt, in öffentlichen Debatten reißerische Positionen zur Sozial- und Migrationspolitik einzunehmen. Seine Forderungen reichen von einer Jobpflicht für Arbeitslose bis hin zu »Migrationsquoten« in Schulklassen.
Vor seiner Ernennung zum Generalsekretär war sein Posten als Vorsitzender der Programm- und Grundsatzkommission der CDU im Januar 2022 der vorläufige Höhepunkt seiner Karriere. Damit war er in den letzten anderthalb Jahren für die Neuausrichtung der Post-Merkel-CDU verantwortlich. Wie die vielbeschworene Erneuerung des Programms der (vormaligen) Volkspartei aussieht, wird also von ihm maßgeblich mitbestimmt. Das sollte zu denken geben, denn Linnemann gehört nicht nur zum neoliberalen Wirtschaftsflügel seiner Partei, sondern geriert sich gern auch als rechter Scharfmacher.
»Seine ausufernden Law-and-Order-Fantasien machen auch nicht vor Vierjährigen Halt.«
Linnemann übte sich in den letzten Jahren mit Vorliebe in der Kunst des rechten Kulturkampfs und eiferte dabei schamlos der AfD nach. In der Debatte um Fachkräftemangel und Zuwanderung schlug er im Februar in dieselbe Kerbe wie die Rechten, als er im Bild-Interview der Ampelregierung vorwarf, »die Hürden für Einwanderung immer weiter absenken« und damit »ungesteuerte Zuwanderung« befeuern zu wollen. Ein völlig absurder Vorwurf – gerade angesichts der neuen EU-Asylrechtsreform, die auch unter Zustimmung der Ampel zustande kam und noch mehr Abschottung und Externalisierung der Migrationsabwehr als ohnehin schon bedeutet. Außerdem plädierte er 2019 schon für eine sogenannte »individuelle Integrationsvereinbarung« mit Geflüchteten – mit der Option, Verstöße sanktionieren zu können, ähnlich wie bei Hartz IV.
Der bevorzugte Ort des Kulturkampfs scheint für Linnemann aber die Schule zu sein. Schon 2019 forderte er, Kindern mit mangelnden Deutschkenntnissen die Einschulung zu verbieten. Dabei machen seine ausufernden Law-and-Order-Fantasien auch nicht vor Vierjährigen Halt: Für die fordert er einen verpflichtenden Sprachtest. Haben sie Defizite, sollen sie verpflichtet werden, eine Vorschule oder eine Kita zu besuchen.
Diese Forderung habe nichts mit der Realität zu tun, so die Bildungsgewerkschaft GEW: 94 Prozent aller Kinder über drei Jahren besuchten bereits eine Kita. Das Problem besteht viel eher in deren Unterfinanzierung. Linnemann will außerdem die Anzahl von Kindern mit »Migrationshintergrund« in Schulklassen beschränken. Dass all diese Forderungen weit vorbeigehen an den tatsächlichen Problemlagen im neoliberalen Bildungssystem – wie die strukturelle Benachteiligung von Kindern mit nicht-akademischen Eltern oder die Überlastung des Lehrpersonals – interessiert ihn wenig.
Mindestens ebenso brisantes Material bietet das Thema des (politischen) Islam. Dazu hat Linnemann sogar einen Sammelband herausgegeben. Welche Expertise er jenseits von rassistisch aufgeladenem Raunen vor der Bedrohung durch das Fremde vorzuweisen hat, ist allerdings fraglich. Fest steht, dass er auch mit diesem Thema schon Schlagzeilen gemacht hat, als er in der CDU-Debatte um ein Islamgesetz ein Moscheeregister und strengere Visumsprozesse forderte – inklusive Sprach- und Sicherheitstests für religiöse Prediger und Imame. Polternd verkündete er: »Es kann nicht sein, dass wir 2.000 Imame in Deutschland haben, die kein oder kaum Deutsch können.«
Wie es sich für den rechten Kulturkämpfer des 21. Jahrhunderts gehört, sieht auch Linnemann seinen politischen Hauptfeind links. Ähnlich wie sein Mitstreiter Merz, der ausgerechnet nach dem Wahlsieg der AfD in Sonneberg die Grünen zum hauptsächlichen Gegner der CDU erklärte, prangert Linnemann links-grüne Sprechverbote und vermeintliche Umerziehungspolitiken der Regierungspartei an.
Der sonst so interventionsskeptische Neoliberale ist sich außerdem nicht zu schade, nach dem Durchsetzungsvermögen des Rechtstaats zu rufen, wenn es um linke Gewalt und vermeintlich importierten Antisemitismus geht. Mit weit rechten und verschwörungsideologischen Positionen in der eigenen Partei hat Linnemann allerdings kein Problem und sieht hier auch nicht die größere Gefahr für die bürgerliche Demokratie: Im August 2019 ließ er in der Debatte um den früheren Chef des Inlandsgeheimdienstes Hans-Georg Maaßen verlauten, dieser sei ein geschätzter Fachmann, der die Durchsetzung des Rechtsstaats forcieren würde, nach der sich viele in Deutschland sehnten.
»Auch wirtschaftspolitisch gehört er zu den radikalen Kräften in der CDU – und der Sozialstaat zu seinen bevorzugten Angriffszielen.«
Ein Scharfmacher ist Linnemann aber nicht nur, wenn es gegen Migrantinnen und Migranten und die vermeintlich linken Regierungsparteien geht. Auch wirtschaftspolitisch gehört er zu den radikalen Kräften in der CDU – und der Sozialstaat zu seinen bevorzugten Angriffszielen. Am liebsten würde Linnemann nicht nur massiv an Sozialausgaben und an dem seiner Auffassung nach »aufgeblähten« Beamtenapparat kürzen, sondern die Ausgaben bei 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts deckeln. Aktuell liegen sie bei rund 35 Prozent. Die größten Posten sind dabei für die Rente und die Zuschüsse des Bundes für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vorgesehen.
Ein weiteres Lieblingsthema Linnemanns ist die Flexibilisierung und Privatisierung der Altersvorsorge. Er plädiert dafür, zu Lohnarbeit über das Rentenalter hinaus zu ermutigen. Wer also nicht genug Rente zum Leben bekommt, soll dann gerne noch weiterackern. Bis zu einem gewissen Betrag soll man steuerfrei hinzuverdienen dürfen. Außerdem will er das Renteneintrittsalter an die durchschnittliche Lebenserwartung koppeln: Wenn die Lebenserwartung um ein Jahr steigt, soll das Renteneintrittsalter um vier Monate angehoben werden. Auf den Einwand des Fernsehmoderators Markus Lanz, dass das Renteneintrittsalter dann »ruck zuck« auf 70 oder 72 Jahre ansteigen könnte, hatte Linnemann nur ein leichtfüßiges »Natürlich kommen Sie dann irgendwann dahin« übrig. Ohnehin plädiert Linnemann auch für eine Neuauflage der privaten Altersvorsorge nach dem Vorbild der Riesterrente.
Der frischgebackene Generalsekretär will Eigenverantwortung und Leistung in den Mittelpunkt seiner Sozialpolitik stellen – eine neoliberale Rhetorik, die mitnichten darauf abzielt, tatsächliche Leistungen zu belohnen (man denke beispielsweise an unterbezahlte Pflegekräfte), sondern darauf, den Wohlfahrtsstaat zu beschneiden. Für Aufsehen sorgte Linnemann zuletzt mit seiner Forderung nach einer Jobpflicht für Arbeitslose. Menschen, die spätestens nach sechs Monaten keine neue Lohnarbeit gefunden haben, sollen durch die Kommunen angebotene Arbeit annehmen müssen. Wer sich dem widersetzt, soll die Härte der Sanktionierung zu spüren bekommen: etwa die Kürzung der staatlichen Unterstützung um bis zu 30 Prozent oder die Ausgabe von Sach- statt Geldleistungen.
Auch in der Klimapolitik bleibt Linnemann dem ordoliberalen Kurs treu: bloß keine staatlichen Eingriffe und Regulierungen, lieber »Innovation« und Wettbewerb fördern durch eine Ausweitung des Emissionshandels. Die Nichtregierungsorganisation Lobby Control kritisierte schon vor zwei Jahren, dass die MIT bei klimapolitischen Vorhaben auf die Bremse tritt. Zurückzuführen sei die Blockadehaltung auf die engen Verbindungen, die die Vereinigung zu dem aus Unternehmern zusammengesetzten parteinahen Wirtschaftsrat der CDU unterhalte.
Laut Greenpeace war Linnemann im Bundestag schon zu Zeiten der Großen Koalition als Teil des »Bermudadreiecks der Energiewende« bekannt. Als der »einflussreichste Klima-Hardliner der Union« stellte Linnemann die Speerspitze dieses Trios und verhinderte gemeinsam mit Staatssekretär Thomas Bareiß und dem energiepolitischen Sprecher Joachim Pfeiffer jeden klimapolitischen Fortschritt.
Die Ernennung Linnemanns markiert also einen Wendepunkt in der Strategie der CDU. Die Konservativen nähern sich in Sachen rechter Rhetorik der AfD an und schwenken auf wirtschaftspolitischer Ebene auf einen radikal-neoliberalen Kurs ein – damit manifestiert sich die Abkehr der Merz-CDU von der Merkel-Ära und die sozial-liberalen Teile der Partei erleiden eine herbe Niederlage.
Die CDU wird sich also umso mehr der AfD anbiedern, ihr in den rassistischen und menschenfeindlichen Kulturkämpfen nacheifern und damit zu ihrer Normalisierung und der weiteren Verschiebung des politischen Rahmens nach rechts beitragen – wahrscheinlich ohne dabei selbst Gewinne zu verzeichnen. Denn die CDU spielt damit ihre vorgesehene Rolle in der Strategie der AfD. Die Konservativen werden bei allen noch so verzweifelten Nachahmungsversuchen das Original nicht rechts überholen können. Viel eher wird die CDU auf lange Sicht erodieren und der AfD vollends den politischen Raum rechts der FDP überlassen. Die völkische Höcke-Partei kann dabei getrost die Hände in den Schoß legen. Die CDU zerstört sich ganz von selbst.
Raul Rosenfelder hat in Frankfurt am Main Politikwissenschaften und Geschichte studiert und ist Praktikant beim JACOBIN.