12. März 2021
Die neue Doppelspitze der LINKEN ist der Gipfel eines parteiinternen Strömungskampfs? Ein genauerer Blick entblößt, die Umwälzungen liegen tiefer.
Bernd Riexinger gratuliert Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler zum neuen Posten, 27. Februar 2021.
Viel radikaler als auf ihrem jüngsten Parteitag hätte DIE LINKE ihren Wandel der letzten Jahre kaum zeigen können. Die alten prägenden Traditionsströmungen der Vorgängerparteien der LINKEN wurden größtenteils abgewählt. Die neue Doppelspitze – Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow – ist bezeichnend für die neue, deutlich jüngere Generation von Gewerkschafterinnen, Kommunalpolitikern und Bewegungsaktivistinnen, die die Partei heute prägen. Der Parteitag war so letztlich eine vorläufige Richtungsentscheidung nach den harten Debatten um »Identitätspolitik« und die Bewegung Aufstehen, die in den letzten Jahren zu einem Konflikt um die Identität der LINKEN geworden sind.
Die Diskussionen auf dem letzten Parteitag kreisten vordergründig um Fridays for Future, die ausklingende Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel und das Verhältnis zur Klimafrage. Während sich linke Rednerinnen und Redner früher vor allem an der neoliberalen Politik der SPD abarbeiteten, stand nun das Verhältnis zu den Grünen im Vordergrund. Die große alte Sozialdemokratie war kein Thema. Stattdessen wurde vor allem debattiert, wie sich eine Politik der sozialen Gerechtigkeit mit der ökologischen Frage vereinen lässt. So verstärkte sich der Eindruck eines Wandels von der alten zur neuen Linken – der sich nicht ohne Reibung vollzieht.
Die prominenteste Kritikerin dieser Linie ist sicherlich Sahra Wagenknecht, die den Fokus auf Ökologie, Klimawandel, Feminismus und Antirassismus als nebensächlich bemängelt. Gegen diese Auffassung traten viele Kandidatinnen und Kandidaten der neuen Strömung Bewegungslinke an, die aus dem Stand fast die Hälfte der Sitze im neuen Vorstand holte. Eine reine Betrachtung der Strömungskämpfe greift jedoch zu kurz. Die Veränderungen in der LINKEN sind tiefgreifender und haben ihre Ursachen in den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte.
Oberflächlich betrachtet wurden die alten Strömungen der LINKEN abgewählt. Das betraf besonders die ehemals starke Sozialistische Linke (SL). Sie war im ersten Jahrzehnt eine der beiden mächtigsten Strömungen der LINKEN und sammelte Gewerkschafterinnen, reformkommunistische und sozialistische Traditionslinien aus dem Westen. Ihr gegenüber stand das Forum demokratischer Sozialismus (FDS) – ein Sammelspektrum der pragmatischen Reformer aus dem Osten. FDS und SL – mit ihren jeweiligen Spitzenfiguren Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht – hatten sich in den letzten Jahren nach einigen inneren Umwälzungen verbündet. Sie stellen bis heute die Führung der Bundestagsfraktion, einem der zentralen Machtzentren der Partei.
Politisch stehen diese traditionellen Teile der Partei für einen starken Fokus auf den Sozialstaat. Beide halten eine gewisse Distanz zu den ökologischen, antirassistischen und feministischen Bewegungen des letzten Jahrzehnts. Gegen dieses Bündnis in der Fraktion und die Bewegung Aufstehen von Sahra Wagenknecht gründete sich 2019 die neue Strömung »Bewegungslinke«, die innerhalb eines Jahres 650 Mitglieder gewann. Sie tritt für eine bewegungsorientierte Politik ein, die eng mit den Fridays for Future und gewerkschaftlichen Streikbündnissen kooperiert und sich mehrheitlich aus Mitgliedern zusammensetzt, die in den letzten zehn Jahren in die Partei eintraten.
Der Wandel in diesem – für Außenstehende – oft unübersichtlichen Geflecht beschränkt sich aber nicht nur darauf. Auch im Reformerlager der Partei ist um die ehemalige Vorsitzende Katja Kipping eine jüngere Generation angetreten, für die Regieren und neue soziale Bewegungen keinen Widerspruch bilden. Zusammen mit der Bewegungslinken bilden diese beiden Lager nun die zwei wichtigsten Player hinter den neuen Vorsitzenden. Weder sind damit die alten Strömungen vollends verschwunden, noch wird sich die LINKE-Bundestagsfraktion vollkommen verändern. Doch die neuen Vorsitzenden und der neue Vorstand stehen exemplarisch für den Wandel der LINKEN durch die politischen Mobilisierungen des letzten Jahrzehnts und den Zustrom neuer Mitglieder.
Die neu gegründete Linkspartei war 2005 eine Sammelbewegung der Linken gegen den Neoliberalismus, die ihren Schwerpunkt in Ostdeutschland hatte. Die 60.000 Mitglieder der damals noch starken ostdeutschen PDS schlossen sich mit den 10.000 Mitgliedern der westdeutschen WASG zusammen, in der sich vor allem alte Linke der Sozialdemokratie, kleine linke Organisationen, Gewerkschafterinnen und Erwerbslose organisiert hatten. Was sie einte war weniger eine innere Verbundenheit als eine gemeinsame Ablehnung des Sozialabbaus, des Niedriglohnsektors und der aggressiven Privatisierungswelle.
Zum Zeitpunkt der Vereinigung zur LINKEN war die ostdeutsche PDS bereits massiv überaltert. 70 Prozent ihrer Mitglieder waren Rentnerinnen und Rentner aus der abgesetzten Dienstklasse der DDR. Dadurch ähnelte sie eher den alten Staatsparteien des Ostblocks und bestand zur Hälfte aus Akademikern der alten politischen Ost-Elite. Die PDS wäre 1991/92 wohl in der Bedeutungslosigkeit versunken, wenn die deutsche Einheit nicht zu massiven sozialen und wirtschaftlichen Verwüstungen im Osten geführt hätte. Im Zuge der Treuhand wurden viele Beschäftigte entlassen und ganze Regionen bewusst deindustrialisiert, um die wirtschaftliche Konkurrenz auszuschalten. Sämtliche Leitungsposten von der Wirtschaft bis in den Öffentlichen Dienst wurden mit Westdeutschen besetzt.
Gegen diese Übernahme durch westdeutsche Eliten entwickelte sich in den 1990ern eine gemeinsame »Ossi«-Mentalität. Dieser gab die PDS eine Stimme und wurde so zur Volkspartei des Ostens. Eine klassische Arbeiterpartei oder zumindest eine klassisch linke Partei der unteren Klassen war sie also nie. Ihre langjährige Ikone Gregor Gysi sagte einmal, sein großer Verdienst sei es gewesen, die politische Dienstklasse der DDR in die BRD geführt zu haben. Darin spiegelt sich das tiefe Bedürfnis nach Anerkennung im vereinten Deutschland.
Politisch nahm sie so eine Sonderstellung als Ostpartei in einem westlichen Land ein. Wie so viele andere ehemalige Staatsparteien im Osten Europas konnte sich die PDS den Verlockungen und dem Druck neoliberaler Reformen nicht entziehen. Sie wollte dazu gehören. In den ersten Regierungsbeteiligungen mit der Sozialdemokratie trug sie Ende der 1990er und Anfang der 2000er die Stellenkürzungen und Privatisierungen mit – was sie ihre Glaubwürdigkeit als ostdeutsche Protest- und Volkspartei kostete. Jahr für Jahr verlor sie um die 10.000 Mitglieder. Jüngere Menschen zog die PDS kaum an, bis auf vereinzelte Aktivistinnen und Aktivisten aus der Antifa-Bewegung und den reformorientierten Nachwuchs, der parlamentarische Mandate anstrebte.
Diese dünne Schicht prägt die Führung der Partei bis heute in weiten Teilen des Ostens. Das linke subkulturelle Milieu im Osten wandert ab in die Städte und wer bleibt, macht Sach- und Kommunalpolitik, in der sich DIE LINKE vielerorts zu wenig von den anderen Parteien unterscheidet. Diese Profillosigkeit droht die Partei zunehmend irrelevant zu machen. Lediglich die Basis aus alten Aktiven über 75 trägt noch die Identität der alten DDR-Staatspartei oder der alten »Ossi«-Regionalpartei. Anlaufpunkt dieser alten Garde war und ist die Kommunistische Plattform (KPF) in der PDS und später der LINKEN mit einstmals vielen Tausend Mitgliedern und ihrem damaligen Aushängeschild Sahra Wagenknecht. Doch ein Anziehungspunkt für Jüngere waren weder die KPF noch der pragmatische Reformerflügel. In weite Teile des Ostens wirkte die Partei eher kulturell als Anziehungspunkt mit Angeboten wie Konzerten gegen Nazis, Dorf- und Stadtteilfesten und ihrer Ikone Gregor Gysi.
Mittlerweile hat im Osten die AfD die Rolle der Protestpartei übernommen. In der mittleren und älteren Generation ist die Ostidentität noch vorhanden, ihren politischen Charakter hat sie jedoch verloren. Der Osten gleicht sich nach und nach dem Westen an.
Das zeigte sich auf dem jüngsten Parteitag besonders drastisch. Der Traditionsflügel des Ostens, der die Partei lange getragen hat, ist erstmals nicht mehr im Vorstand vertreten. Nur einige Ostreformerinnen und -reformer finden sich auf den Posten. In absehbarer Zeit wird DIE LINKE – Stand jetzt – wohl wegen Überalterung der Anhängerschaft und der Ausdünnung der Bevölkerungsdichte im Osten verschwinden. Realistisch wird sie weiterhin in den mittleren und größeren Städten ihre Bastionen im zweistelligen Prozentbereich behalten.
Die Jahre zwischen den späten 1980ern und den frühen 2000ern waren für die Linke eine Zeit der Niederlagen. Zwischen der Generation der 68er und den Millennials klafft eine riesige Lücke: die verlorene Generation der Linken. Nur wenige unter ihnen fanden über die Antifa, die globalisierungskritische Bewegung oder vereinzelt über Parteien und Gewerkschaften zur LINKEN. Entsprechend bestand auch DIE LINKE im Westen aus vormaligen Mitgliedern der SPD und DKP sowie linksradikalen und Bewegungsaktivisten, kämpferischen Gewerkschafterinnen und Teilen von Kleinparteien- und organisationen. Die politische Arbeiterklasse war bereits in den 1980ern und frühen 90ern aus der Politik gedrängt worden.
Mit der großen Finanzkrise 2008/09 erzielte die Partei unter Oskar Lafontaine ihr bestes Wahlergebnis im Westen. In nie dagewesener Weise konnte sie erstmals Arbeiterinnen und Arbeiter, abgehängte Stadtteile, Erwerbslose und Gewerkschaftermilieus links von der SPD ansprechen. In Zeiten der Krise ist das nicht untypisch. Schließlich sind die Gewerkschaften in Wirtschaftskrisen relativ machtlos und mobilisieren verstärkt auf politischer Ebene.
Die gesellschaftliche Umverteilung von unten nach oben verlangsamte sich. Für die Mehrheit gab es sogar wieder Reallohnsteigerungen. Die SPD stoppte ihren gescheiterten neoliberalen Anpassungskurs. Damit ging der LINKEN aber ihr zentraler Konkurrent abhanden. Zwar orientierte sich die SPD weiterhin stärker auf die Mitte als auf die Abgehängten und Erwerbslosen, doch als Feindbild taugte sie immer weniger. Pragmatische Gewerkschafter setzten daher ihre Hoffnung schnell wieder in die SPD, was DIE LINKE in eine tiefe Krise stürzte.
Mit dem Reaktorunglück von Fukushima 2011 erlebten die Umweltbewegung und mit ihr die Grünen einen enormen Aufschwung. Sie stellten im konservativen Autoland Baden-Württemberg sogar erstmals einen Ministerpräsidenten. Unter etwas veränderten Vorzeichen wiederholte sich dieser politische Vormarsch der Umweltbewegung am Ende des Jahrzehnts mit Fridays for Future.
Ebenso dominierend wurde das Erstarken rechter Bewegungen. Gegen die vermeintlichen Hilfen für die griechische Linksregierung Anfang des Jahrzehnts gründete sich mit der AfD die erste bundesweit erfolgreiche rechtsextreme Partei in Deutschland. Die Jahrzehnte des Neoliberalismus hatten – wie in vielen anderen westlichen – Ländern den Nährboden für radikalen Individualismus und Chauvinismus bereitet.
Mit den fremdenfeindlichen Bewegungen Pegida und massiven Protesten gegen die Aufnahme syrischer Geflüchteter erstarkte die AfD. Anders als frühere rechtsradikale Parteien gelang es ihr neben kleinbürgerlichen, auch bürgerliche und proletarische Teile der Bevölkerung anzusprechen. Das gilt vor allem für die deindustrialisierten und strukturschwachen Teile Deutschlands im Osten und im Westen.
Während die liberalen Medien von 1990 bis 2010 vor allem gegen die PDS und DIE LINKE Stimmung machten, wandten sie sich nun gegen die AfD, der zunehmend auch eine breite antirassistische und antifaschistische Mobilisierung entgegenstand.
Die scheinbare Stagnation der LINKEN in den 2010er Jahren ist eng mit dem Fehlen sozialer Bewegungen aus der Zivilgesellschaft und den Betrieben verbunden. Zwar stoppte oder verlangsamte sich der lange Abwärtstrend der DGB-Gewerkschaften, mit einer erhöhten Konfliktbereitschaft ging dieser jedoch selten einher. Vor allem die größte deutsche Gewerkschaft, die IG Metall, hat sich mit aktiverer Betriebsarbeit und modernen Organizing-Methoden konsolidisiert, setzt allerdings weiterhin eher auf die Sozialpartnerschaft als auf politische Mobilisierungen. Die zweitgrößte Gewerkschaft Ver.di hingegen ist deutlich politischer geworden, weil sie viele von Kürzungen betroffene Beschäftigte im Öffentlichen Dienst vertritt. Trotz ihres relativ schwachen Organisierungsgrads und großer Strukturprobleme, sind die verstärkte Organisierung in klassischen »Frauenberufen« wie der Pflege, Erziehung und Lehre jedoch ein Hoffnungsschimmer.
Angesichts der wachsenden Popularität der Rechten und eines stabilen Wirtschaftsaufschwungs zogen die klassisch sozialen Forderungen der LINKEN kaum noch. Vor dem Hintergrund der wachsenden Gefahr von Rechts sowie der massiven Überalterung der Mitglieder entschied die Parteiführung der LINKEN um Katja Kipping und Bernd Riexinger offensiv um die junge, antirassistische, feministische und ökologisch motivierte Generation zu werben – mit einigem Erfolg.
Die Debatte um Identitätspolitik in der LINKEN geht auch auf diese Entwicklung zurück. Sahra Wagenknecht gründete ohne Absprache mit der Partei die Bewegung Aufstehen, die mit starkem Fokus auf klassische soziale Anliegen antrat, um insbesondere die verlorene SPD-Wählerschaft zu gewinnen. Doch die strukturellen Probleme der LINKEN traten bei Aufstehen noch stärker zutage: Die Bewegung war überaltert und es fehlte zudem an organisierenden Mitgliedern. Nach dem Scheitern von Aufstehen verlegte sich Sahra Wagenknecht auf die Kritik an ihrer Partei und beanstandete vor allem die Vernachlässigung sozialer Anliegen zugunsten von Identitätspolitik. DIE LINKE sei akademisiert und ohne Bindung an die Arbeiterklasse und die ländlichen Räume.
Tatsächlich ist die Lage etwas komplizierter. Die eigentliche Akademisierung der Linken und der Parteien insgesamt verlief ab den 1980ern und erreichte Ende der 90er seinen Höhepunkt. In der LINKEN sind heute sogar weniger Akademikerinnen und Akademiker als in der PDS, obwohl gleichzeitig der Anteil von Menschen mit akademischem Bildungsabschluss deutlich gestiegen ist.
Es stimmt zwar, dass in der LINKEN, wie auch in anderen Linksparteien Westeuropas, prekäre Akademiker und Beschäftigte aus sozialen Berufen stärker vertreten sind als die Industriearbeiterklasse, nur ist die Strategie der Bewegung Aufstehen diesbezüglich mehr als widersprüchlich. Einerseits will sie in Anlehnung an Vordenker wie Wolfgang Streeck einen stärker souveränistischen Kurs Deutschlands mit starkem Wohlfahrtsstaat. Andererseits betont dieser Flügel die alte antiimperialistische Strategie »der Feind meines Feindes ist mein Freund« und fordert daher eine stärkere Anlehnung an etwa die russische Regierung. Als Führungsmacht der EU kann die Stärkung eines souveränistischen Kurs in Deutschland leicht ins Reaktionäre umschlagen. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade ein Teil der deutschen Industriearbeiterklasse nach wie vor in das Exportmodell Deutschland eingebunden ist. Ein solcher Kurs dürfte gerade in den Industriegewerkschaften wenig Zuspruch finden.
Was die Debatten um Identitätspolitik außerdem unterschlagen ist die veränderte Bedeutung von Frauen und Migrantinnen und Migranten, die im Vergleich zu den 1960er und 70er Jahren heute stärker in das Arbeitsleben, die Gewerkschaften und die Politik eingebunden sind. Sie haben gesellschaftlich und politisch mehr Gewicht. Das wird sich auch nicht mehr ändern. Zwar ist DIE LINKE die Partei mit dem höchsten Anteil von Migrantinnen und Migranten im Bundestag, die migrantisch geprägten Industriearbeitergewerkschaften IG Metall und IG BCE erreicht sie aber zu wenig. Gleichzeitig verlassen mehr und mehr Frauen die Partei – vor allem aufgrund des Backlashs im Osten, wo Frauen deutlich gleichberechtigter als im Westen waren.
Und dennoch: DIE LINKE ist die einzige der linken Parteien die substanziell Mitglieder aus der Arbeiterklasse, den Unterschichten und Erwerbslosen organisiert. Vergegenwärtigt man sich die Mitgliederzahl von 60.000 ist das trotzdem überschaubar – zumal diese seit Anfang der 2010er stagniert. Hinter der scheinbaren Stagnation vollzieht sich aber ein gewaltiger Umbruch. Die Mitglieder im Osten sterben buchstäblich weg oder treten aus. Dafür sind in den letzten neun Jahren fast 25.000 Mitglieder unter 35 eingetreten. Wäre der Zustrom dieser jüngeren Generation ausgeblieben, hätte das schlicht das Ende der Linkspartei bedeutet. Doch die fehlende Verankerung bei den Erwerbstätigen der verlorenen Generation bleibt eine Herausforderung.
Jede linke Partei seit dem 19. Jahrhundert muss sich der Aufgabe stellen, die aufstrebenden qualifizierten Teile der Klasse mit den Abgehängten zusammen zu bringen. In den erfolgreichsten Phasen der Linken vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch in den 1960 und 70ern ist das gelungen. Doch durch die Fragmentierung der postindustriellen Ära sind die Milieus der Lohnabhängigen heute stärker zersplittert als zuvor: Die Studierten haben zwar zunehmend unsichere Jobaussichten, aber immer noch deutlich höhere Verdienste als die Beschäftigten in den Krankenhäusern, der Logistik und dem neuen Dienstleistungsprekariat. Die Interessen dieser Gruppen führen nicht automatisch zu einer verbindenden Klassenpolitik, die so oft als Ausweg beschworen wird.
Die Wahl der neuen Parteispitze wie auch der neue Parteivorstand spiegeln die gesellschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrzehnts wider. Der Aufbruch ist der Neubeginn der Millennials, eines veränderten Reformerlagers und einer erneuerten Linken, die sich stärker aus den Bewegungen rekrutiert – mit all ihren Stärken und Schwächen. Eine Rechts-links-Verschiebung in der Partei bedeutet das bislang nicht. Der nun stärker westlich geprägte Realo- und Reformerflügel der Partei stellt nach wie vorher die eine Hälfte des Vorstands und der linke Flügel die andere.
Die neuen Vorsitzenden der LINKEN bilden diese beiden Teile der Partei exemplarisch ab. Susanne Hennig-Wellsow steht als Reformerin für den Regierungskurs der Partei. Sie war die Macherin hinter Bodo Ramelow im einzigen linksgeführten Bundesland Deutschlands. Der Fokus von Janine Wissler hingegen geht über die Parlamente hinaus und zielt auf die Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ab, die jeder wirklichen Veränderung vorausgehen. Damit steht sie für den alten und neuen sozialistischen Flügel der Partei.
Die alten linken Strömungen der Partei geraten hingegen in den Hintergrund und das ist eine historische Zäsur. Die Kritik an vermeintlicher oder tatsächlicher Identitätspolitik allein ist jedenfalls keine Strategie. Inwiefern diese Teile der Partei sich erneuern oder ob sie Geschichte werden, bleibt abzuwarten. Abschreiben sollte man sie nicht. Ihre Erfahrungen und ihr Wissen sind wertvoll – gerade für die relativ junge neue Bewegungslinke im Angesicht einer der tiefsten Wirtschaftskrisen seit 1945.
Die Nachfolge von Angela Merkel wird wahrscheinlich eine schwarz-grüne Regierung unter einem CDU/CSU-Kanzler antreten. Deutschland ist ein Konsensland. Die CDU wählte mit der Wahl von Armin Laschet als CDU-Vorsitzenden die politische Kontinuität zu Merkel. Merkel mag abtreten, ihr Modell wird sich fortsetzen: Die neue Regierung wird offene politische Auseinandersetzungen eher vermeiden und Deutschland entsprechend der Stärke seiner politischen Player und Klassen zu verwalten versuchen. Doch die gesellschaftliche Spaltung nimmt seit der Coronakrise wieder zu.
Erstmals seit über einem Jahrzehnt gibt es Reallohnverluste. Der Verteilungsspielraum wird enger. Corona zeigt, wie sehr Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Leih- und Zeitarbeiter und die Minijobberinnen wurden schon am Anfang der Krise entlassen. Die Gewerkschaften sind zurückhaltend, viele Unternehmen nutzen die Corona-Krise, um Stellen abzubauen und Standorte zu verlagern. Damit steht der erneuerten LINKEN wahrscheinlich eine Zeit bevor, in der die Kämpfe um Klimawandel und Antirassismus tatsächlich mit dem Schutz der Arbeitsplätze und der sozialen Errungenschaften verbunden werden müssen.
Durch die Krise ist der finanzielle Spielraum künftiger Regierungen stark eingeschränkt, wenn sie nicht auf ein Ende der Schuldenbremse und radikale Umverteilungsprogramme pocht. Doch wird die Frage »Wer zahlt die Krise?« erst nach der Bundestagswahl aufgerufen werden. Keine der Parteien wird sich vorher unbeliebt machen wollen. Die Grünen stehen in dieser Situation einer CDU gegenüber, die die Wirtschaft und weite Teile des Staatsapparats hinter sich hat. Sie werden sich aussuchen müssen, welche ihrer Forderungen sie durchsetzen wollen und können. Gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern müssen sie klimapolitisch etwas liefern. Mit der CDU wird diese Klimapolitik aber auf die Mehrheit über Massensteuern und Gebühren abgewälzt werden.
DIE LINKE hingegen kann sich berechtigte Hoffnungen auf soziale Mobilisierungen gegen Massenentlassungen und unsoziale Klimapolitik machen. Dieses Potenzial muss die Partei aufnehmen und sich besonders in der kriselnden Automobilindustrie und den zunehmend gewerkschaftlich organisierten »Frauenberufen« auf die Seite der Beschäftigten stellen. Ob das gelingt oder nicht, wird von entscheidender Bedeutung sein.
Gegen die Bedrohung von Rechts hilft die bloße liberale Anrufung der Demokratie nicht, da sie letztlich nur den Status quo verteidigt. Gegen Rechts hilft nur eine Stärkung der sozialen Demokratie, früher sagte man Sozialismus. Ohne eine breite Beteiligung am Wohlstand wird die Demokratie brüchig. Mit den Rechten hat sich der Neoliberalismus den eigenen Totengräber herangezogen. Für DIE LINKE kommt es nun darauf an jenseits des starken Liberalen Blocks und der rückwärtsgewandten Rechten auf eine bessere Zukunft zu bestehen. Sie ist und bleibt möglich.
Janis Ehling interessiert sich für linke Geschichte und Parteien und ist Mitglied des Parteivorstands von DIE LINKE. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Bernd Riexinger.