24. Januar 2022
Die letzten Tage des Neoliberalismus sind gezählt – so lautet zumindest eine weitverbreitete Diagnose der Corona-Krise. Doch der Neoliberalismus verschwindet nicht, er mutiert.
Neoliberale Politik verändert sich – etwa in Form einer immer weiter voranschreitenden Finanzialisierung.
Die akute Vielfachkrise des globalen Kapitalismus hat mit der Coronavirus-Pandemie eine neue Stufe erreicht. Ähnlich wie zu Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 verleiten die weitreichenden Maßnahmen vieler Staaten Beobachterinnen und Beobachter zur Vermutung, das Ende der neoliberalen Epoche sei gekommen. Tatsächlich erleben wir derzeit die Rückkehr des intervenierenden und regulierenden Staates in einem Umfang und einer Intensität, die vor der »organischen Krise« , wie der Politikwissenschaftler Stephen Gill sie nannte, undenkbar schien.
Wir erinnern uns: Selbst globale Finanzakteure sollten sich nach Meinung von Star-Ökonomen wie Lawrence Summers selbst regulieren; allenfalls »light-touch regulation«, also möglichst zurückhaltende Eingriffe durch den Staat, galten als legitim. Die international koordinierte expansive Geldpolitik der OECD-Zentralbanken unter Führung der US-amerikanischen Federal Reserve Bank zur Stabilisierung der Finanzwirtschaft sowie die Maßnahmen zur Sicherung der Gesundheitssysteme zeugen gleichzeitig davon, wie erschwert die Bedingungen zur Wahrnehmung essenzieller öffentlicher Aufgaben heute sind – eine direkte Konsequenz der vorherigen Strategien der Kommerzialisierung und Privatisierung.
Die Entwicklung und Verteilung der Impfstoffe gegen das Coronavirus veranschaulichen das Dilemma des neoliberalisierten »schlanken« Staates: Einerseits existiert nach wie vor die Verantwortung zur Stabilisierung und Sicherung der öffentlichen Ordnung, gefasst mit der euphemistischen Vokabel des »Gewährleistungsstaates«. Andererseits misslingen die verfolgten Strategien, weil die Austeritätspolitik vergangener Jahrzehnte die öffentlichen Gesundheitssysteme stark beschädigt hat und weil Profitinteressen die globale Produktion und Verteilung der Impfstoffe behindern. Nationalistische, bestenfalls zögerlich grenzüberschreitend koordinierte Strategien, wie beispielsweise die der EU, werden der globalen Herausforderung in Form von immer wieder neuen Varianten des Coronavirus nicht gerecht. Steuersenkungswettläufe – die mit dem Argument einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit ausgetragen werden – sind offenkundig nicht geeignet, eine ausreichende öffentliche Gesundheitsvorsorge oder Schutz vor den Folgen der globalen Erwärmung zu gewährleisten.
Das neoliberale Regierungsmodells steckt also in einer offenkundigen Krise – doch wird konsequent an Alternativen gearbeitet? Keineswegs. Die Interpretation der Krisen ist ebenso umstritten wie die Richtung, in welche in Zukunft gelenkt werden soll. So forderte etwa der Zwickauer Wirtschaftsprofessor Stefan Kolev in der Süddeutschen Zeitung: »Mit neoliberaler Ordnungspolitik aus der Krise«. Das klingt nicht sehr defensiv. Der finanzpolitische Bremsklotz FDP in der neuen Bundesregierung und die Vetoposition einzelner US-Senatoren vermögen offenbar auch nach der Corona-Krise eine sanft-progressive Wende in der Steuer- und Ausgabenpolitik zu verhindern.
In der wissenschaftlichen Forschung herrschen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, was unter Neoliberalismus eigentlich zu verstehen ist. Um die vielfältigen vom Neoliberalismus verursachten Krisen lösen zu können, muss also zunächst der Neoliberalismus selbst verstanden werden.
Insbesondere der marxistische Sozialgeograph David Harvey hat den Neoliberalismus Anfang der 2000er Jahre als kapitalistische (postmoderne) Produktions- und Regulationsweise analysiert. Die Krise des Fordismus und des sozialliberalen Wohlfahrtsstaates gelten als Ausgangspunkt. Die Regierungspolitik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan sowie einer langen Reihe von Nachfolgern, die sich auch aus den Reihen der vermeintlich oppositionellen »neuen Sozialdemokratie« rekrutierten, gestaltete die neoliberale Politik der Privatisierung, Deregulierung und Flexibilisierung.
Während in der Wissenschaft noch bis in die 1990er Jahre hinein überwiegend vom Postfordismus gesprochen wurde, konnte das mit dem Ende der 1970er Jahre beginnende Zeitalter, hin bis zur intensivierten Globalisierung in den 2000er Jahren, schließlich als neoliberale Epoche bezeichnet werden. Der autoritäre Liberalismus in Chile unter General Pinochet wird dabei als Vorläufer angesehen. Die Wirtschaftspolitik des »Washington-Konsenses«, also die des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und des US-Finanzministeriums beziehungsweise des »Dollar-Wall Street Regimes«, flankierte im Anschluss an die Schuldenkrise die Einführung neoliberaler Reformen im Globalen Süden. Das Binnenmarktprojekt, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und die sogenannten Schocktherapien in Mittel- und Osteuropa nach dem Ende der Sowjetunion gelten als Hochzeit der neoliberalen Ära. Diese endete dann aber im Zuge diverser Finanzkrisen, beispielsweise in Russland, Argentinien oder den vermeintlichen Tigerstaaten in Südostsasien und schließlich der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise.
Doch das vermeintliche Ende des Neoliberalismus leitete eine neue Phase radikalisierter Austerität ein, was sich beispielhaft an der Euro-Rettung in Europas Süden erkennen lässt. Das keynesianische Krisenmanagement war von kurzer Dauer und die Re-Regulierung des Finanzsektors diente eher der Stabilisierung als der Transformation der neoliberalen Verhältnisse. Auch die »Pink Tide« in Lateinamerika, mit ihrem Fokus auf nicht kommerzielle Lebensweisen, das sogenannte Buen Vivir, blieben dem neoliberalen Modell der exportorientierten Entwicklung, dem Extraktivismus und der Niedriglohnkonkurrenz verhaftet.
Angriffe auf den kosmopolitischen Wirtschaftsliberalismus gab es vonseiten sozialkonservativer, reaktionärer und neo-nationalistischer Machthaber – wie Orbán, Bolsonaro, Modi, Trump –, deren Wirtschaftspolitik neoliberale Ansätze etwa in der Arbeits- und Umweltpolitik eher radikalisierte als ablöste. Die Stabilität der neoliberalisierten Verhältnisse erfordert im neuen Jahrtausend offenbar noch autoritärere und ideologischere Elemente, die über einen radikalen Individualismus und die vermeintliche Herrschaft der Konsumentinnen und Konsumenten hinausgingen.
Gleichwohl gilt es dieser polit-ökonomischen Interpretation des neoliberalen Kapitalismus nach als ausgemacht, dass vom Postneoliberalismus zu sprechen ist, weil sich die Entwicklungsdynamik der neoliberalen Ära erschöpft hat. Mit China und seinem ökonomisch recht erfolgreichen Modell eines sehr viel stärker kontrollierten Kapitalismus gibt es eine neue Herausforderung für die globale Hegemonie der USA und des Westens. Weil der Neoliberalismus und der Kapitalismus in Nord und Süd nahezu gleichgesetzt werden, verschwimmen die Konturen des Neoliberalismus bisweilen erheblich.
Eine zweite Herangehensweise betrachtet den Neoliberalismus in dessen Entstehungskontext, also der Zwischenkriegszeit der 1930er Jahre. Nach dem Scheitern klassisch liberaler Wirtschaftspolitik in der großen Depression Ende der 1920er Jahre führte der Aufstieg von sozialliberalen, faschistischen und sozialistisch-planwirtschaftlichen Ansätzen in der Wirtschaftspolitik zur Revision rechtsliberalen Denkens. Auch im rechten Spektrum des Liberalismus mehrten sich die Stimmen, die nicht nur Schutz vor demokratischen Massenbewegungen und eingreifende staatliche Politik durch die »Herrschaft des Gesetzes« forderten, sondern auch die aktive Sicherung der Eigentumsrechte und der kapitalistischen Ordnung im Aufgabenspektrum des Staates sahen.
Die neoliberale Reformpolitik wurde 1938 auf dem Colloque Walter Lippmann in Paris auf den Weg gebracht. Der Neoliberalismus galt fortan als »positiver Liberalismus« und damit als Alternative zu »Kollektivismus«, Sozialstaat und Sozialismus. Politische Freiheit und Demokratie standen in der sich entwickelnden neoliberalen politischen Theorie und Ideologie dabei nicht im Vordergrund. Vielmehr wurde das traditionelle liberale Verständnis von Freiheit in eine neue Rangordnung verwandelt, die politische und soziale Rechte den ökonomischen Freiheitsrechten bei- und im Zweifel unterordnete. Die feinsinnige Unterscheidung von autoritären und totalitären Regimen erlaubte so eine Verteidigung Pinochets: Der lateinamerikanische Diktator respektiere im Gegensatz zum totalitären Kommunismus die ökonomischen Freiheitsrechte.
Gleichzeitig blieben solche Positionen eines autoritären Rechtsliberalismus auch im neoliberalen Lager umstritten. Im Zentrum der Analyse des Neoliberalismus als Sozial- und Konzeptgeschichte steht der organisierte Neoliberalismus. Dieser wurde nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der von Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke und anderen gegründeten Mont Pèlerin Gesellschaft verankert. Neben dieser internationalen Organisation wurden in der Nachkriegszeit zahlreiche nationale Gesellschaften und Think Tanks gegründet, welche an der Entwicklung des Neoliberalismus maßgeblichen Anteil hatten: das Institute of Economic Affairs in England, die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in Deutschland und das American Enterprise Institute in den USA. Auch im Globalen Süden gab es zahlreiche Institute, Intellektuelle und Unternehmer der neoliberalen ersten Stunde. Einflussreiche neoliberale Kräfte, die schon lange vor der Fordismuskrise agierten, waren Ludwig Erhard in Deutschland und Luigi Einaudi in Italien. Bis zur Krise der 1970er Jahre kämpften Neoliberale häufig vergeblich gegen sozialliberale und sozialdemokratische Politik, bildeten aber gleichwohl vielerorts lange vor Thatcher und Reagan einen Teil des rechten Spektrums der Politik.
Im Zentrum neoliberaler Denkweisen stehen Eigentumsrechte, Vertragsfreiheit und das »Rule of Law« als Schutz vor eingreifender politischer Gestaltung durch Parlamente und Regierungen – also das Modell einer marktkonformen »Demokratie«. Gleichzeitig brachten neoliberale Intellektuelle alternative Modelle zur sozialen Sicherung ins Spiel, die vor allem auf privatwirtschaftliche Versicherungen setzten.
Aufgrund der 1980er Jahre Rhetorik der Deregulierung und Privatisierung gilt der Neoliberalismus vielerorts als Wiedergeburt des Marktradikalismus. Dabei wird jedoch übersehen, dass das ordoliberale Verständnis einer »interdependenten Ordnung« von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fortwährend nach Gestaltungsmöglichkeiten sucht, die starke regulierende Staatsaufgaben beinhalten. Wenn eine Rückkehr zum Laissez-faire gefordert und von Selbstregulierung geredet wird, sind das streng genommen keine neoliberalen Ansätze der Politik. Die Anforderungen neoliberaler Regulierung wandeln sich mitunter rasch. Galt es nach dem Ende des Sozialismus in Osteuropa die Wirtschaft möglichst schnell zu deregulieren (»Schocktherapie«), so verteidigen neoliberale Intellektuelle wie Leszek Balcerowicz in Polen derzeit die »Unabhängigkeit« der Judikative gegen die rechtspopulistische Regierung.
Der Fokus auf organisierten Neoliberalismus seit den 1930er Jahren und die Diskussion der neoliberalen Epoche im Anschluss an die Fordismuskrise muss nicht als Widerspruch gedacht werden. Die Perspektive ist komplementär, weil sich die Sozial -und Konzeptgeschichte auf die zentralen Normen und Prinzipien neoliberalen Denkens beruft, während der breite Durchbruch neoliberaler Ansätze in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik seit Ende der 1970er Jahre auf die veränderten Kräfteverhältnisse und neuen Rahmenbedingungen kapitalistischer Akkumulation gründet.
Wenngleich sich die ökonomischen Triebkräfte der beschleunigten Globalisierung erschöpft haben, erklärt der Mangel an sozialen Kräften für progressive Alternativen das Fortdauern von mehr oder weniger neoliberalen Allianzen und Koalitionen. Neoliberale Politik wird dabei stetig modifiziert und weiterentwickelt – etwa in Form einer stärkeren Finanzialisierung der Umwelt-, Klima- und Sozialpolitik.
Die Spaltung des organisierten Neoliberalismus in reaktionäre sozialkonservative Neoliberale – wie die deutsche Hayek-Gesellschaft um Gerd Habermann – und in kosmopolitisch-konstitutionelle Neoliberale – wie das Netzwerk für Ordnungsökonomik und Sozialphilosophie (NOUS) um Karen Horn und Lars Feld – zeigen, dass die Auseinandersetzungen im Spektrum des Neoliberalismus stärker werden.
Jedenfalls sollte klar sein, dass neoliberale Politik die Krisen des globalisierten Kapitalismus der Gegenwart durchaus überleben kann. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass in Teilen des neoliberalen Lagers grundsätzlich umgedacht werden muss: Können ökonomische Freiheitsrechte universell gelten und prioritär gesetzt werden, wenn dadurch die Eigentumsrechte von großen Teilen der Weltbevölkerung verletzt werden? Kann die Verteidigung sozialer Ungleichheit gegen die egalitäre Orientierung sozialistischer Politik noch überzeugen, wenn die soziale Ungleichheit extremistische Konsequenzen in Politik und Wirtschaft zeitigt? Muss der Gedanke des Schutzes vor diskretionärer Einflussnahme nicht auch für wirtschaftliche Machtzusammenhänge neu gedacht werden?
Zur Beurteilung von Stärke und Dauerhaftigkeit neoliberaler Denk- und Politikmuster ist es jedenfalls nicht nützlich, Anfang und Ende des Neoliberalismus in der großen kapitalistischen Krisendynamik der 1970er und der 2010er Jahre zu verorten. Ob und wie sich die hegemoniale Konstellation verändert, zeigt sich vielmehr in sozialen Auseinandersetzungen um und Kämpfen gegen Privatisierung und den Vorrang ökonomischer Freiheitsrechte vor politischen und sozialen Rechten sowie in der Bewältigung von Menschheitsaufgaben in der Klima- und neuerdings Gesundheitspolitik.
Denkbar sind drei Entwicklungsvarianten nach der Pandemie: Erstens eine erneute Verteidigung des Status quo ante crisis, also die Rückkehr zum weiterhin wenig eingeschränkten Austeritätskapitalismus der neoliberalen Vergangenheit; zweitens eine teilweise Abkehr von Paradigmen gesicherter privatwirtschaftlicher Ordnung durch den Ausbau öffentlicher Institutionen, etwa im Gesundheitsberereich und in Teilen der Klima- und Umweltpolitik, also eine sozial-ökologische Marktwirtschaft; drittens eine kumulative Entwicklung hin zu einer umfassenderen Abkehr von neoliberalen Formen der Vergesellschaftung auf nationaler und internationaler Ebene, also eine systematische Einschränkung von Kommodifizierung und Finanzialisierung.
Nur im Falle einer Entwicklung in Annäherung an den dritten Idealtyp wäre konsequent vom Post-Neoliberalismus zu sprechen. Aber ähnlich wie für die neoliberalen Kräfte in der Nachkriegszeit ein normativer Kompass in der Auseinandersetzung mit Sozialliberalen und Sozialistinnen nützlich war, um Schaden und Nutzen von Kompromisslinien der Realpolitik zu beurteilen, ließe sich viel mit einem neosozialistischen Kompass für die Beurteilung der Kompromisslinien der Gegenwart anfangen.
Ohne konkrete Orientierung führen die Beiträge zur vermeintlichen Überwindung des Neoliberalismus mitunter zur Entwicklung neuer Varianten wie der des Dritten Weges der neuen Sozialdemokratie. Coronaviren und Neoliberalismus geraten am Ende nicht nur in Widerspruch, sondern haben einiges gemeinsam: Sie mutieren ständig und lassen sich nicht in einem Land alleine besiegen.
Dr. Dieter Plehwe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Er forscht derzeit zu Think Tanks und globalen Auseinandersetzungen in der Klimapolitik, zu Variationen und Wandel der neoliberalen Opposition. Er ist Mitautor von »Nine Lives of Neoliberalism« (Verso, 2020). Im März 2022 erscheint der von ihm und Quinn Slobodian herausgegebene Band »Market Civilizations. Neoliberals in East and South« bei Zone Books.
Dr. Dieter Plehwe ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Er forscht derzeit zu Think Tanks und globalen Auseinandersetzungen in der Klimapolitik, zu Variationen und Wandel der neoliberalen Opposition. Er ist Mitautor von »Nine Lives of Neoliberalism« (Verso, 2020). Im März 2022 erscheint das von ihm und Quinn Slobodian herausgegebene Buch »Market Civilizations. Neoliberals in East and South« bei Zone Books.