02. September 2022
In Zeiten geopolitischer Umbrüche nähert sich die Schweiz an die NATO an. Doch nur eine radikale Friedenspolitik kann Antworten auf die fortschreitende Blockbildung liefern.
Kunstflugstaffel der Schweizer Luftwaffe, Payerne, 30. September 2021, (Symbolbild)
Die Beschlüsse des NATO-Gipfels in Madrid waren eindeutig. Eine massive Erhöhung der Rüstungsausgaben und Aufstockung der Truppen soll stattfinden, in erster Linie an der Ostflanke. Russland wurde zur »bedeutendsten und direktesten Bedrohung« und China als »Herausforderung unserer Sicherheit, Interessen und Werte« erklärt. Ein Beitritt Finnlands und Schwedens stieß auf breite Zustimmung. Die Aufrüstung ist beschlossen, der Feind ist markiert.
Fast zeitgleich fand das Treffen der Staats- und Regierungschefs der fünf Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres statt. Mit seiner Teilnahme am Kaspischen Gipfel wandte sich Putin den zentralasiatischen Staaten zu, die nicht nur aufgrund ihrer Nähe zu Afghanistan und ihres Meereszugangs von strategischer Bedeutung sind: Putin sucht nach Regionen, in denen er seinen politischen Einfluss ausbauen und seine wirtschaftlichen Verluste kompensieren kann. Darüber hinaus nutzte Putin den Gipfel als Warnung: Er wolle innerhalb der nächsten Monate atomwaffenfähige Raketen im benachbarten Belarus stationieren.
Der russische Vizeaussenminister Sergej Rjabkow warnt vor einer weiteren Destabilisierung der geopolitischen Lage durch die NATO-Norderweiterung und Joe Bidens Absicht, Europa zu »NATO-isieren«. Die schwellende Blockkonfrontation, die am 24. Februar 2022 eine neue, schreckliche Realität angenommen hat, spitzt sich immer weiter zu.
Noch vor zweieinhalb Jahren hatte Emmanuel Macron die NATO als »hirntot« bezeichnet – jetzt ist sie von den Toten auferstanden. Angesichts der fortschreitenden Blockbildung auf globaler Ebene wird es auch für scheinbar unbeteiligte Staaten wie die Schweiz immer schwieriger, sich nicht dem einen oder anderen Block anzuschließen.
Der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis sprach in seiner Eröffnungsrede am Weltwirtschaftsforum von einem »kooperativen Neutralitätsverständnis«. Er erklärte, dass sich die Schweiz »für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann« und meint damit, dass sich die Schweiz weiter der NATO annähern sollte. In den letzten Jahrzehnten ging es aufwärts, »offene Weltmärkte und technologischer Fortschritt« hätten Wohlstand erzeugt und gleichzeitig auch Demokratie, Freiheit und Stabilität gefördert. »Aber plötzlich bricht das auf solche Hoffnungen gebaute Fundament auseinander. Kollidiert eine Krise mit der nächsten. Zuerst die Finanzkrise, dann die Erderwärmung, die Pandemie und am 24. Februar der Angriff Russlands auf die Ukraine.«
Cassis schlägt hier einen ähnlichen Ton an wie Volkswirtschaftlerinnen und Volkswirtschaftler, die Phänomene, die als zusammenhängende Krise begriffen werden sollten, als »exogene Schocks« bezeichnen. Doch in Wahrheit haben wir es nicht mit einer Reihe plötzlich einbrechender Katastrophen zu tun, sondern mit einer umfassenden Krise, die sich längst nicht mehr nur in der Peripherie bemerkbar macht. Das Handeln der einzelnen Akteure innerhalb einer instabilen Weltordnung wird erst vor diesem Hintergrund verständlich. Für einzelne Staaten wird es zunehmend schwieriger, ihre Rolle als ideeller Gesamtkapitalist zu erfüllen und die von der Krise verursachten Verwerfungen auszugleichen. In der Folge verspüren sie ein gesteigertes Bedürfnis, die Krisenfolgen auf andere abzuwälzen – notfalls auch mit militärischen Mitteln.
Davon will der Bundespräsident aber lieber schweigen. Man tut so, als wären die Gründe für den Krieg nicht im Frieden geschaffen worden und gibt sich überrascht. Und weil Putin nicht nur die Ukraine, sondern auch unsere »westlichen Werte« angreift, ist es vorbei mit der angeblichen Schweizer Neutralität: »Demokratie muss stärker sein als Gewaltherrschaft, Völkerrecht stärker als Unterwerfung, Recht stärker als Macht, Selbstbestimmung stärker als Unterdrückung«, meint Cassis mit viel Pathos. Man müsse näher an andere Staaten rücken, die für diese Werte kämpfen – also auch an die NATO. Der Fokus einer vertieften Kooperation liege heute klar auf der Abwehr eines machtpolitischen Angriffs gegen die westliche Wertegemeinschaft.
In dieselbe Kerbe schlägt der Tagesanzeiger: Die Schweiz sei keine blockfreie Zone und nur im Verbund ließen sich »individuelle Freiheit, Menschenrechte und Demokratie verteidigen – im Notfall militärisch.« Verteidigungsministerin Viola Amherd meint, eine engere Zusammenarbeit sei selbstverständlich eine Option. Die Kooperation werde ohnehin schon seit längerem schrittweise ausgebaut, man sei »interoperabel« mit Nachbarländern und NATO-Mitgliedern. Die Schweiz brauche »angesichts der aktuellen Sicherheitslage eine moderne und leistungsstarke Armee.« Sie sieht im Ukraine-Krieg eine »sicherheitspolitische Zeitenwende« und verlangt »um den Schutz der Bevölkerung sicherzustellen« eine Aufstockung der finanziellen Mittel für das Militär, wobei die Erneuerung der Luftwaffe oberste Priorität genieße.
Gerhard Pfister, Präsident der Partei Die Mitte, vertritt eine ähnliche Position. Er fordert nicht nur lautstark Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern will mittels Beschaffung der amerikanischen F-35-Kampfjets auch einen Beitrag an die NATO-Annäherung leisten.
Die Forderungen nach einer engeren Bindung an die NATO ziehen sich durch die gesamte bürgerliche Politik- und Medienlandschaft. Laut den Grünliberalen könne die Schweiz nicht weiterhin nur vom Schutz des Militärbündnisses profitieren, sondern müsse auch einen Beitrag zur kollektiven Sicherheit Europas leisten. Und während die SVP zwar grundsätzlich eine Annäherung an den Nordatlantikpakt befürwortet, bei der Durchführung gemeinsamer Manöver aber noch zögert, träumt FDP-Präsident Thierry Burkhart bereits von gemeinsamer Luftverteidigung nach schwedischem oder finnischem Vorbild.
Das Schweizer Nachrichtenportal Watson geht noch einen Schritt weiter und behauptet rundheraus: »Eigentlich gehört die Schweiz in die NATO«. Leider sei die Zeit dazu noch nicht reif – aber bis dahin gelte es, wo immer möglich, die Zusammenarbeit zu vertiefen, aus dem »bequemen Windschatten« der NATO herauszutreten.
Markus Somm vertritt in seinem klar rechtsbürgerlich ausgerichteten Magazin Nebelspalter nur eine auf den ersten Blick abweichende Meinung: Bevor jetzt über einen NATO-Beitrag debattiert werde, müsse die Schweizer Armee erst einmal finanziell besser ausgestattet und aufgerüstet werden. Diese Position ergibt sich aus einem nationalistischen Reflex, ist aber auch nichts anderes als die Forderung nach einem Ausbau der militärischen Kapazitäten, die – und das weiß Somm wahrscheinlich, auch wenn er es aus politisch-strategischen Motiven nicht zugeben mag – längerfristig nicht ohne Kooperation mit dem die Schweiz umgebenden Militärbündnis auskommt.
Es stimmt, dass sich die Schweiz ihre Neutralität in gewissem Sinne »leisten kann«, weil sie mit der NATO bereits jetzt eine militärische Schutzmacht hinter sich hat und als internationaler Finanzplatz eine abnehmende, aber immer noch große Bedeutung genießt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Neutralität der Eidgenossenschaft ist keinem internationalistischen Ideal geschuldet, sondern dient den Interessen der herrschenden Klasse. Aus bürgerlicher Sicht bietet die Neutralität ein ausgeklügeltes Konzept, mit dem sich ein Kleinstaat im internationalen Wettbewerb behaupten kann. Es wird überspielt, dass es Neutralität als solche in einer kapitalistischen Welt von konkurrierenden Nationalstaaten nicht geben kann.
Das wurde bereits deutlich, als die Schweiz in der Frühphase kapitalistischer Entwicklung über Handel und Söldnerwesen große Vermögen anzuhäufen begann. Die Schweizer Neutralität hat sich in der Phase der ursprünglichen Akkumulation herausgebildet, als die Eidgenossenschaft einerseits als loses und konfessionell zerstrittenes Bündnis auf territoriale Expansion verzichten musste, andererseits an alle umliegenden Mächte gleichmäßig Söldner zu liefern begann. Über die Jahrhunderte wurde das Neutralitätskonzept laufend modifiziert und – immer im Sinne der herrschenden Klasse – den ökonomischen wie politischen Umständen angepasst. Nach einer Phase der kolonialen Politik, in der die Schweiz bis Ende des 19. Jahrhunderts enger Handels- und Forschungspartner großer kolonialer Mächte gewesen war, wird im Ersten Weltkrieg das Konzept der Neutralität wieder massiv gestärkt, um ihre spezifische Rolle im imperialistischen System zu finden.
Mit dem Ukraine-Konflikt wurde nun ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Schweizer Neutralität aufgeschlagen. Und der strategische Charakter des Konzepts erwies sich sogleich an der ersten Reaktion der Regierung und der bürgerlichen Parteien auf die russische Invasion der Ukraine. Im Namen der Neutralität wollte die Regierung Sanktionen gegen Russland nicht mittragen – während zugleich der Großteil des russischen Rohstoffhandels über Schweizer Finanzdienstleister erfolgt. Parallel dazu laufen die Geschäfte mit den USA, der EU und natürlich der Ukraine – wo die Schweiz vom Geschäftsklima der zutiefst neoliberalen Maidan-Regierung profitieren konnte und zum viertgrößten Investor überhaupt geworden ist – ungeachtet des Kriegs weiter.
Es stimmt, dass die europäischen Staaten aufgrund ihrer Kooperation mit den USA an ökonomischem Gewicht und militärischer Stärke gewinnen. Daher und durch ihren gemeinsamen Zusammenschluss kann ihnen die Behauptung ihrer Interessen gegenüber den imperialen Ansprüchen Russlands gelingen – aber freilich nur um den Preis, sich der imperialen Macht der USA zu unterstellen beziehungsweise die Interessen der USA mitzubefördern. Das zeigt sich exemplarisch an Deutschlands Energieversorgungsproblem, das aus der erzwungenen Übernahme der Sanktionen resultiert.
Joe Biden hat die NATO als verlängerten Arm der US-amerikanischen Weltmacht wiederbelebt und die europäischen Verbündeten auf eine Linie gebracht. Die Bündnistreue, zu der sich die Mitgliedstaaten verpflichten, beinhaltet neben militärischen Beiträgen (Rüstung, Waffen, finanzielle Unterstützung) auch die Übernahme wirtschaftlicher Sanktionen – beides dient dazu, Russland zur Anerkennung der neuen geopolitischen Lage zu zwingen.
Auch die Schweiz steht unter dem verstärktem Druck, den die fortschreitende Blockbildung auslöst. Krieg, Inflation, Lieferkettenprobleme – die Schweiz wird von alledem nicht unberührt bleiben. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich hat die Entwicklungen modelliert, die aus einem Stopp aller russischen Energie- und Rohstofflieferungen in die EU resultieren: Ölpreisschock, Nachfrageschock und Aufwertungsdruck auf den Franken wären die Folgen. Noch knapp 1 Prozent könnte die Schweizer Wirtschaft unter diesen Bedingungen wachsen.
Die Position der Schweiz im globalen Kapitalismus ist zunehmend geschwächt. Das zeigt sich auch in den langwierigen Verhandlungen mit der EU, den Angriffen auf den Schweizer Finanzplatz seitens der USA oder der vollumfänglichen Übernahme der gegen Russland gerichteten Sanktionen unter dem Druck der westlichen Staaten.
Inmitten der chaotischen Weltlage wird es für die Schweiz zunehmend schwieriger, zwischen den Machtblöcken zu lavieren, weshalb sie zu einer Neubestimmung auf dem geopolitischen Parkett gezwungen ist. Und so vollzieht sich die Annäherung an die NATO aus bürgerlicher Sicht fast schon zwangsweise – was bleibt denn anderes übrig?
Bedenklich ist, dass auch die Linke in der Schweiz sich dem Zwang, sich einer der Kriegsparteien anzuschließen, kaum entziehen kann. Etablierte Parteien und auch außerparlamentarische Linke fordern ineffektive Sanktionen, Waffenlieferungen und schaffen es nicht, eine antikapitalistische Friedenspolitik mit der Thematisierung der Krise zu verbinden. Die multiplen Krisen der Gegenwart bedeuten, dass das Kapital mit erschwerten Bedingungen der Akkumulation konfrontiert ist. Der Ukraine-Konflikt ist auch ein geopolitischer Ausdruck davon. Auf der linken Seite braucht es deswegen weder Putin-Apologeten noch NATO-Propagandistinnen, sondern eine radikale Friedensbewegung.
Kurzfristig bedeutet dies: Unbegrenzte Solidarität mit ukrainischen Geflüchteten, Unterstützung linker Strukturen in der Ukraine, die mit der zunehmend arbeiterinnenfeindlichen Selenskyj-Regierung in Konflikt stehen, Unterstützung der antimilitaristischen Linken in Russland sowie eine klare antimilitaristische Haltung in der Schweiz und im Westen insgesamt.
Im Kapitalismus ist Frieden immer eine fragile Errungenschaft. Und letztlich wird erst der Aufbau einer sozialistischen Alternative den imperialistischen Kriegen die Mittel entziehen können. Ein erster Schritt wäre die effektive Unterbindung sämtlicher Kriegsfinanzierung durch Rohstoffimporte, Waffen- und Finanzmarktgeschäfte. Die Schweiz, mit ihrer herausragenden Rolle als internationaler Finanzplatz, könnte sich etwa am Vorschlag des französischen Ökonomen Thomas Piketty für ein internationales Finanzregister orientieren, das effektive, nicht nur auf Russland beschränkte Sanktionen ermöglicht. Auch wäre die Schweizer Linke gut positioniert, Forderungen ukrainischer Genossinnen und Genossen Nachdruck zu verleihen, die sich für einen Schuldenschnitt für ihr Land einsetzen und vor den Gefahren eines neoliberalen Wiederaufbaus der Ukraine warnen.
Dominic Iten ist Redakteur beim Widerspruch und beim Schweizer Vorwärts.