16. Juni 2021
Mit den aktuellen Lockerungen scheint ein Ende der Pandemie langsam näher zu rücken. Statt »Stay home« wird nun »Go out« der Slogan der Stunde. Von der Forderung, die Krise als Chance zu nutzen, ist nichts geblieben.
Tanzende Menschen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, 30. Mai 2021.
In Horrorfilmen ist der Moment, in dem eine Katastrophe ausbricht, der schlimmste: Die Menschen geraten in ihrer Unsicherheit so sehr außer Kontrolle, dass an einem gewissen Punkt alle gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt sind. Nach mehr als einem Jahr, in dem wir bereits in einer solchen Katastrophe leben, müssen wir diese Vorstellung als falsch zurückweisen. In den ersten Wochen der Pandemie griffen die Menschen nach jedem Strohhalm, der ihnen Sicherheit versprach. Und so gehorchten nicht nur die meisten der Aufforderung, zuhause zu bleiben (sofern sie es konnten), sondern verbreiteten sie auch in sozialen Netzwerken weiter: »Stay home« war der Schlachtruf, auf den sich vom Promi bis zum Cousin alle einigen konnten.
Als wir uns Ende letzten Jahres zum zweiten Mal in eine Art Lockdown begeben haben, ist die Stimmung in der Gesellschaft schnell gekippt. Die Maßnahmen wurden aus verschiedenen politischen Richtungen kritisiert. In einem waren sich die Kritikerinnen und Kritiker jedoch einig: Hinter den Maßnahmen lässt sich keine Strategie erkennen. Auch die neue bundesweite Notbremse änderte daran wenig, sondern zementierte eher den Zustand des Dauer-Lockdown-Light.
Die Trostlosigkeit des ewigen Lockdowns wurde zunächst ergänzt durch ein neues Gefühl: den Neid. Dieser wurde ausgelöst durch Nachrichten aus Ländern wie Großbritannien und den USA, die sich den Impfstoff durch den einen oder anderen Trick schneller unter den Nagel reißen konnten. Die Ausrede, dass eine aktive Pandemie-Politik nur auf Inseln oder in autoritären Staaten möglich sei, hatte damit ihre Gültigkeit verloren. Bilder aus prall gefüllten Bars und von strahlenden Menschen, die ihre Liebsten wieder in die Arme schließen konnten, hielten in uns die Hoffnung aufrecht, dass auch wir in Kürze in einer neuen Welt erwachen – in einer Welt, in der Lockdown, Angst vor einer Infektion mit schwerem Verlauf und ewiges Abwarten ein Ende haben und wir endlich wieder das Leben genießen können. Mit den aktuellen Lockerungen erscheint uns diese Welt nun zum Greifen nah.
Die erste Erleichterung, die nun eintritt, hilft uns aber nicht, in ein realistisches Verhältnis zu der Katastrophe der vergangenen Monate zu treten. Walter Benjamin schrieb 1940, dass »die Tradition der Unterdrückten […] uns darüber [belehrt], dass der ›Ausnahmezustand‹ in dem wir leben, die Regel ist.« Es geht darum, die Unterdrückung in unserer Normalität zu erkennen.
Das Vermögen der zehn reichsten Männer der Welt hat sich seit letztem Jahr um mehr als 500 Milliarden US-Dollar erhöht. Das Geld würde ausreichen, um die gesamte Welt mit Impfstoff zu versorgen. Allein in Deutschland stieg das Vermögen der Reichsten um mindestens 100 Milliarden Euro, während 15,5 Millionen Haushalte in Deutschland Einkommenseinbußen hinnehmen mussten. Das eine bedingt das andere. Es kann nach der Pandemie nicht genauso weitergehen wie bisher, denn die Ungerechtigkeiten dieses Systems sind in letzter Zeit zu deutlich zutage getreten. Stattdessen braucht es nun Veränderungen, die sie kaschieren, ohne sie zu verhindern. Der Befehl, zuhause zu bleiben, um Ansteckungen zu vermeiden, wird durch einen anderen Befehl abgelöst werden, den Herbert Grönemeyer schon vor 15 Jahren eingesungen und den Deutschen eingebläut hat: »Wer jetzt nicht lebt, wird nichts erleben / Bei wem jetzt nichts geht, bei dem geht was verkehrt.«
Aus »Stay home« wird »Go out«: Airlines, die uns auffordern, die Welt nun endlich zu entdecken oder Werbeplakate, die zu ausschweifenden Shopping-Touren einladen, werden uns befehlen, nun das Leben zu genießen. Das tun sie auch jetzt schon, doch während die werbende Dauerbeschallung zurzeit noch uninteressant bis zynisch wirkt, wird sie uns nach der Pandemie beinahe logisch erscheinen. Wer da nicht mitmachen will – oder nicht mitmachen kann – wird es umso schwerer haben.
»Die Politik wird in den kommenden Jahren also links blinken, damit sie nicht nach links abbiegen muss.«
Die Zeit der Katastrophe – unsere Gegenwart – soll durch den hoffnungsvollen Ausblick auf eine Welt nach der Pandemie erträglicher erscheinen. Von hoffnungsvollen Aufrufen, diese Krise als Chance zu nutzen, ist nichts mehr zu hören. Stattdessen feiert man nun schon das Ende des Lockdowns als Erfolg: Wir haben es geschafft, wir haben uns durch diese Zeit gekämpft, um nun siegreich unsere Freiheit zu genießen. Diese Erzählung wird sich als falsch herausstellen. Es wird sich zeigen, dass wir uns nicht für unsere künftige Freiheit und Sicherheit zurückgenommen haben, sondern für den reibungslosen Ablauf einer Wirtschaft, die nicht für unsere Bedürfnisse, sondern den Profit der Reichsten produziert.
Um das zu kaschieren, kann es jedoch nicht exakt so weitergehen wie vor der Pandemie. Nach Jahren der passiven Groko-Politik, in der lediglich das Nötigste getan wurde, um alles am Laufen zu halten, werden wir nun übergehen müssen in eine Phase der aktiven Politik, wie wir sie bereits unter Biden in den USA erleben. Die Grünen haben sich bereits für die Regierungsarbeit warmgelaufen und stehen bereit, eine ähnliche Politik in Deutschland zu verfolgen. Selbst bei den Christdemokraten wird darüber debattiert, die Schuldenbremse abzuschaffen. Doch diese aktive Politik wird nicht den großen Wandel einläuten, den viele zu Beginn der Pandemie forderten – es ist zu befürchten, dass sie vielmehr das Gegenteil bewirkt. Zurzeit braucht es diese Form der pseudo-aktiven Politik, um die realen Konflikte nicht aufkochen zu lassen. Die Politik wird in den kommenden Jahren also links blinken, damit sie nicht nach links abbiegen muss.
Wir befinden uns in einer besonderen Situation: Klassische linke Forderungen wie höhere Investitionen in Infrastruktur, die Aussetzung des Patentschutzes wichtiger Medikamente oder sogar die Vermögensabgabe werden immer weiter in das bürgerliche Lager vordringen. Auf die gesellschaftliche Linke wird daher in den nächsten Jahren ein schwieriger Kampf zukommen. Wie schwer er wird, hängt auch davon ab, ob das bürgerliche Lager eine neue Ideologie findet, die ihre Politik rechtfertigen kann. Solange sie diese nicht hat, muss sie jedoch mit Schein-Zugeständnissen den Status quo legitimieren.
Nils Legler betreibt den YouTube-Kanal »Feine Welt«, auf dem er Politische Theorie vorstellt und diskutiert.
Nils Schniederjann ist Journalist in Berlin.