23. Januar 2022
Am 23. Januar 1897 wurde die Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky in Wien geboren. Die Moderne war für sie ein Projekt der Gleichheit und Emanzipation.
Margarete Schütte-Lihotzky als Rednerin, Frauen gegen Atomrüstung und Krieg, Wien, 1961 Foto: Oscar Horowitz.
Margarete Schütte-Lihotzky (1897-2000) ist der Öffentlichkeit vor allem durch die »Frankfurter Küche» bekannt, die sie in den 1920er Jahren entwarf und die als Vorläuferin der modernen Einbauküchen gilt. Doch das lange Leben der Wiener Architektin lässt sich keineswegs darauf reduzieren: Schütte-Lihotzky baute Siedlerhütten, Kindergärten und Verlagsgebäude. Sie wirkte im Roten Wien und im Neuen Frankfurt der 1920er Jahre, arbeitete anschließend sieben Jahre in der Sowjetunion und hielt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder in der DDR auf. Zugleich engagierte sie sich für Frieden und Frauenrechte. Sie gehörte mehr als sechs Jahrzehnte lang der Kommunistischen Partei Österreichs an und verbrachte die Jahre zwischen 1941 und 1945 wegen ihres Engagements im antifaschistischen Widerstand in Gefängnissen des NS-Regimes.
Anlässlich ihres 125. Geburtstages am 23. Januar sprachen der Architekturhistoriker und Publizist Thomas Flierl, die Architekturhistorikerin Bernadette Reinhold, der Zeithistoriker Marcel Bois und die Architektin Christine Zwingl über das Leben und Wirken Schütte-Lihotzkys. Das Gespräch führte der Historiker Uwe Sonnenberg von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Margarete Schütte-Lihotzky war eine bedeutende Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, trotzdem ist sie nicht jedem geläufig. Was macht ihr Leben so besonders?
Christine Zwingl: Margarete Schütte-Lihotzky war eine außergewöhnliche Architektin, eine der ersten Frauen in Österreich, die überhaupt Architektur studiert – sie besuchte von 1915 bis 1919 die Kunstgewerbeschule – und anschließend diesen Beruf ausgeübt haben. Hinzu kommt: Sie hat dies fast bis zu ihrem Lebensende getan und ihr soziales Engagement stand dabei stets im Mittelpunkt. Als Architektin, Widerstandskämpferin und Aktivistin war sie vor allem für andere Frauen von großer Bedeutung.
Thomas Flierl: Ich bin erstmals in den 1980er Jahren auf sie aufmerksam geworden – noch in der DDR. Sie eröffnete uns das Rote Wien, das Neue Frankfurt und den sozialistischen Städtebau in der UdSSR – und damit neue internationale Horizonte. Später habe ich über den Architekten Ernst May geforscht. Schütte-Lihotzky gehörte in den 1930er Jahren seiner Mitarbeitergruppe in der Sowjetunion an und war dort eine der wenigen ausländischen Expertinnen. Als Zeitzeugin hat sie mit ihren Projekten, Bauten und Texten meinen Horizont und mein historisches Verständnis stark erweitert.
Marcel Bois: Sie war zeitlebens ein sehr politischer Mensch. Von den Entwicklungen im Roten Wien der 1920er Jahre begeistert, wurde sie Mitglied der Sozialdemokratie. Später ist sie dann durch ihren Antifaschismus zur Kommunistischen Partei gekommen. Aufgrund ihres Widerstands gegen die Nazis saß sie im Gefängnis und blieb aber auch nach dem Krieg, bis zu ihrem Lebensende – also kurz vor ihrem 103. Geburtstag – Mitglied der KPÖ. Ihr Engagement für Frieden, gegen Faschismus und für Frauen sind wichtige Konstanten ihres Lebens.
Bernadette Reinhold: Margarete Schütte-Lihotzky ist durch die Frankfurter Küche, ihr feministisches Engagement und ihr emanzipatorisches Arbeiten und Denken zu einer Art feministischen Ikone geworden. Darüber hinaus ist ihre Arbeit von höchster Aktualität. Bis zuletzt hat sie über soziale und politische Fragen und auch über neue, partizipative Wohnformen nachgedacht. Sie war stets an neuen Materialien und Baustoffen interessiert und hat sich schon früh mit Problemen der Nachhaltigkeit beschäftigt. Und nicht zuletzt denke ich, dass ihr bis ins hohe Alter ungebrochenes politisches Engagement auch angesichts des wiedererstarkenden Nationalismus in vielen Ländern Europas und weltweit sehr aktuell ist.
Margarete Schütte-Lihotzky war nicht glücklich darüber, auf die Frankfurter Küche reduziert zu werden – und gab es nicht auch Kritik am Konzept der Küche?
BR: Mitte der 1920er Jahre hat Ernst May sie nach Frankfurt eingeladen, um an der Typisierungsabteilung des Hochbauamts mitzuwirken. Im Neuen Frankfurt versuchte man damals, vereinfacht oder typisiert zu bauen, auch Küchen. Die Arbeitsabläufe in Schütte-Lihotzkys Küche entsprachen ganz dem tayloristischen System: kürzeste Wege, optimierte Arbeitsweisen auf engstem Raum. Gleichzeitig ist die Frankfurter Küche zum Designklassiker geworden.
Was stark kritisiert wurde, war die Isolation der Küche im Wohnungsverband und damit auch das Unsichtbarmachen von Hausarbeit. Aus ihren Erinnerungen wissen wir, dass Schütte-Lihotzky diese Kritik schwer getroffen hat. Bei der Planung wurde damals lange diskutiert, ob es eine Arbeits- oder eine Gemeinschaftsküche sein sollte. Auch später beschäftigte sie sich weiter intensiv mit dem Thema »Küche« – und sie hätte es in den 1970er, 80er oder 90er Jahren sicher anders umgesetzt als in der ikonisch gewordenen Frankfurter Küche.
CZ: Die Frankfurter Küche ist nicht isoliert zu betrachten. Sie war Teil des gesamten Wohnbauprogrammes und in allen Wohnungen eingebaut – in der Standardwohnung verbunden durch eine Schiebetür, in der Kleinwohnung eine Nische zum Wohnraum. Insofern finde ich diese Kritik, die zum Teil in der feministischen Literatur der 1980er Jahre geäußert wurde, auch nicht zutreffend. Schütte-Lihotzky hatte sich schon in Wien ausführlich mit Grundfragen der Rationalisierung der Hausarbeit beschäftigt und das Thema ausführlich analysiert und begründet. In den Wiener Siedlerhäusern gab es eine Wohnküche, weil noch der auch zum Heizen verwendete Herd die Verbindung zwischen Kochen und Wohnen bestimmt hat.
MB: Als Kind ihrer Zeit stellte Margarete Schütte-Lihotzky das Konzept »Küche als weiblicher Arbeitsort« nicht in Frage. Bei der Konzeption der Frankfurter Küche war sie zwar stark vom Taylorismus beeinflusst, zugleich kritisierte sie ihn aber auch als Methode, die darauf ausgerichtet war, die Arbeitskraft der Arbeiterinnen und Arbeiter über Rationalisierungsmaßnahmen noch besser auszubeuten. Sie wollte diesen Zusammenhang umkehren. Dabei war sie inspiriert von ihrem Freund Otto Neurath und dessen Aufsatz »Das umgekehrte Taylorsystem«. Mit der Frankfurter Küche und ihren kurzen Arbeitswegen sollte Frauen mehr Freizeit verschafft und ihre Situation verbessert werden.
BR: So wie Schütte-Lihotzky oft nur auf die Frankfurter Küche reduziert wird, wird sie übrigens auch als »erste Architektin Österreichs« kanonisiert. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit in Vergessenheit geraten war.
Moment bitte, warum wurde sie vergessen?
MB: Nach dem Krieg kam sie als international anerkannte Expertin für sozialen Wohnungsbau nach Österreich zurück. Sie bekam aber im antikommunistischen Klima der 1950er Jahre nahezu keine öffentlichen Bauaufträge. Dabei spielte aber nicht nur die Tatsache eine Rolle, dass sie eine exponierte Kommunistin war, sondern sie wurde auch als Frau ausgegrenzt. Nicht zuletzt waren ihre beruflichen Netzwerke zusammengebrochen. Denn die Personen, von denen Margarete Schütte-Lihotzky in den 1920er Jahren gefördert worden war, hatten das Land verlassen oder waren mittlerweile verstorben.
BR: In Österreich gab es – vielleicht noch viel stärker als in Deutschland – unmittelbar nach dem Krieg eine kurze Phase eines antifaschistischen Konsenses, der sich aber spätestens ab 1947 wieder auflöste. Ab dieser Zeit wurden in den Opfer- und Wiedergutmachungsgesetzen politisch oder rassistisch Verfolgte ebenso wie Widerstandskämpferinnen und -kämpfer weitgehend hintangestellt. Der österreichische Widerstand gegen das NS-Regime war sehr gering und ging weitgehend von der Kommunistischen Partei und von Teilen der katholischen Kirche aus. Von fast 7 Millionen Österreichern und Österreicherinnen waren etwa eine halbe Million NSDAP-Mitglieder. Da herrschte also eine gewisse Grundhaltung in der Gesellschaft, die weit über 1945 hinausreichte. Und doch war erstaunlich, wie lange und massiv man sie überging.
Wie ist es dann zur Wiederentdeckung gekommen?
BR: Ab den 1970er Jahren begann eine intensive Auseinandersetzung mit dem Roten Wien, mit dem Neuen Frankfurt und mit der Gruppe um Ernst May in der Sowjetunion. Zudem suchte in dieser Zeit die zweite Frauenbewegung aktiv nach weiblichen Spuren in der Vergangenheit und nach eigenenVorbildern, also auch nach politisch starken Frauen. Und als es ab Ende der 1980er einen Rechtsruck gab, wurde Schütte-Lihotzky – als antifaschistische Widerstandskämpferin – zu einer Gallionsfigur.
CZ: Das ist sehr richtig. Zudem war ein weiterer wichtiger Aspekt, dass sie überhaupt nach Österreich zurückgekommen ist – im Gegensatz zu vielen anderen früheren Architektinnen, die in den 1930er Jahren emigriert waren.
MB: Ich glaube, fast noch entscheidender ist der Umstand, dass sie alt genug wurde, um wiederentdeckt zu werden – und weil sie zur lebenden Zeitzeugin der 1920er Jahre wurde. Sie kannte ja all die berühmten männlichen Architekten, hatte über sie geschrieben und wurde zu ihnen interviewt. Ich würde fast die These aufstellen, dass Margarete Schütte-Lihotzky nicht so bekannt geworden wäre, wenn sie Ende der 1950er Jahre gestorben wäre.
Ihre Popularität lag wohl auch in ihren Erinnerungen aus dem Widerstand begründet?
BR: Ja, als das Buch 1985 erschien, spielte es eine wichtige Rolle im österreichischen Erinnerungsdiskurs. Anders als in Deutschland fand in Österreich erst in den späten 1970er Jahren im akademischen Feld und erst Mitte der 80er Jahre allgemein ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die NS-Geschichte statt. Nun wurde anerkannt, dass Österreich nicht nur Opfer des Nationalsozialismus war, sondern dass es auch eine Mittäterschaft gab. Als im Präsidentschaftswahlkampf 1985/86 thematisiert wurde, dass der frühere UN-Generalsekretär Kurt Waldheim Mitglied der SA war, hat das erinnerungspolitisch sehr viel bewegt. Mit ihrem Buch richtete sich Schütte-Lihotzky sowohl an Historikerinnen und Historiker als auch ganz bewusst an Schüler und Schülerinnen sowie an Kunst- und Filmschaffende und so weiter. Es war wirklich als didaktisches Material, als Zeitzeugenschaft, gedacht.
CZ: Margarete Schütte-Lihotzky hatte schon in den 1960er Jahren mit antifaschistischen Filmvorführungen an der Wiener Urania, die von einem unabhängigen Frauenkomitee durchgeführt wurden, begonnen, die Jugend zu erreichen. Die Bedeutung, ihre eigenen Erlebnisse und Erfahrungen weiterzugeben, stellte sich in dieser Zeit heraus. Aber es stimmt, im größeren Rahmen eröffnete sich die Möglichkeit als Zeitzeugin zu wirken erst in den 1980er Jahren.
MB: Ja, sie wurde dann in dieser Zeit gedrängt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. In diesem Zusammenhang war es eine sehr bewusste Entscheidung, zuerst die Erinnerungen aus dem Widerstand zu verfassen, und erst danach über die restlichen Epochen ihres Lebens zu schreiben. Das zeigt nochmal, wie wichtig ihr die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit war.
Ihr habt Euch mit dem sehr umfassenden Nachlass von Margarete Schütte-Lihotzky befasst und daraus auch zu unterschiedlichen Aspekten und Lebensphasen der Architektin publiziert. Zuletzt wurden viele neue Fragen über das Leben von Schütte-Lihotzky gestellt. Welche sind das?
MB: Die Rezeption von Margarete Schütte-Lihotzky hat sich lange Zeit auf die Architektur und dort speziell auf die Frankfurter Küche konzentriert. Zudem ist noch ihre Widerstandszeit behandelt worden. Diese Schwerpunktsetzung hat natürlich auch mit ihren eigenen Veröffentlichungen zu tun, die vor allem die 1920er Jahre und die NS-Zeit abdecken. Auch in Interviews ist sie vor allem über diese Zeit befragt worden. Entsprechend hat sich die Forschung bislang vergleichsweise wenig mit der Nachkriegszeit beschäftigt – und zwar sowohl mit ihrem architektonischen Werk als auch mit ihren politischen Aktivitäten.
TF: Die neuere Forschung versucht zum Beispiel auch die politische Sozialisierung von Margarete Schütte-Lihotzky aus der österreichischen Gesellschaft heraus zu verstehen, aus dem Kontext einer konservativen Ständegesellschaft. Durch einzigartige Funde wie den Briefwechsel mit ihrer Schwester und ihrem Mann Wilhelm Schütte, aber auch aus russischen Beständen, können wir nun auch ihr Leben in der Sowjetunion (1930-1937) oder ihre Aktivitäten im antifaschistischen Widerstand viel besser rekonstruieren.
Habt Ihr angesichts der neuen historischen Quellenlage eigentlich auch verstanden, warum Schütte-Lihotzky der KPÖ ausgerechnet 1939 beitrat – im Jahr des Hitler-Stalin-Pakts? Damals haben mehr Menschen die kommunistischen Parteien verlassen, als diese hinzugewinnen konnten. Wie erklärt Ihr Euch ihren Eintritt?
MB: Ihr Weg erscheint aus deutscher Sicht tatsächlich ungewöhnlich. Aus der Alterskohorte der um 1900 Geborenen traten viele nämlich schon Anfang der 1920er Jahre in die kommunistischen Parteien ein. Dass Margarete Schütte-Lihotzky diesen Weg nicht ging, kann aus der spezifischen österreichischen Situation heraus erklärt werden. Hier gab es eine sehr schwache Kommunistische Partei und eine Sozialdemokratie, die deutlich links von ihrer deutschen Schwesterpartei stand. Sie war für das radikale Reformprojekt des Roten Wien verantwortlich. Davon begeistert trat Schütte-Lihotzky dann bei den Sozialdemokraten ein. Nach ihrem Umzug nach Frankfurt trennte sie sich wieder von der Partei.
In ihren Erinnerungen schrieb sie, dass sie bei diesem Schritt unter anderen von Carl Grünberg, dem Gründungsdirektor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, beeinflusst wurde. Bald begann sie, sich dem Kommunismus kulturell zu nähern. Sie beschäftigte sich mit kommunistischer Literatur, sah die Filme von Sergej Eisenstein und lebte dann ab 1930 in der Sowjetunion. Aber dass sie 1939 Mitglied der KPÖ wurde, hat tatsächlich sehr viel mit der Rolle zu tun, welche die Partei in der antifaschistischen Bewegung Österreichs spielte. Wir dürfen nicht vergessen: Ein Jahr zuvor war Österreich vom Deutschen Reich »angeschlossen« worden – und die KPÖ gehörte zu den wenigen politischen Kräften, die sich dagegen positioniert haben.
BR: Exakt. Die Sozialdemokratie hat bis 1943 eigentlich den Anschluss an ein revolutionäres Deutschland propagiert. Ansonsten waren nur noch die Monarchisten dagegen, aber natürlich aus ganz anderen Motiven als die Kommunisten.
TF: Margarete Schütte-Lihotzky betonte immer, dass sie in der Sowjetunion noch kein Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei und es dann erst in der Türkei wurde. Auch wenn sie und ihr Mann formal nicht der Partei angehörten, hatten sie natürlich Bindungen an die politischen Strukturen der Sowjetunion. Sie selbst berichtet ja, dass sie schon vor ihrem Wegzug aus der UdSSR den Kontakt zur KPD und KPÖ suchte. Auch gab sie an, dass das entscheidende Kriterium bei der Wahl des Exilorts war, Anschluss an den antifaschistischen Widerstand zu finden, um die Wiederherstellung der österreichischen Eigenstaatlichkeit zu befördern. Andere internationale Widerstandsstrukturen als die sowjetisch dominierten waren zu diesem Zeitpunkt ja gar nicht denkbar. Bei ihrer Abreise aus der Sowjetunion machten die Schüttes Halt in Istanbul und trafen dort ihren Kollegen Bruno Taut, der ihnen eine attraktive Stelle anbot. Trotzdem reisten sie weiter nach London und Paris, wo sie beruflich kaum Möglichkeiten hatten – beides waren jedoch wichtige Orte der antifaschistischen Widerstandsbewegung.
Aber sie landeten dann doch in der Türkei?
TF: Richtig, in Mitteleuropa konnten sie beruflich tatsächlich nicht Fuß fassen – und erhielten dann ein erneutes Angebot von Taut, nach Istanbul zu kommen. Dort lernten sie bald den Architekten Herbert Eichholzer kennen, mit dem sie dann die kommunistische Widerstandsgruppe aufbauten. Allerdings wollte Schütte-Lihotzky Ende 1940 keineswegs nur eine Kurierreise nach Wien unternehmen. Alle Dokumente, die ich kenne, deuten darauf hin, dass die soziale Existenz der Schüttes in Istanbul beendet war. Margarete Schütte-Lihotzky war bereits seit Juni 1939 arbeitslos. Beide wollten offenbar dauerhaft ins Deutsche Reich gehen, um dort Widerstand zu leisten. Die unerwartete Möglichkeit für Wilhelm, in Istanbul zu bleiben, und die Verhaftung Margaretes beendete für Jahre ihr gemeinsames Leben. Die »Berliner Option« bleibt eine Forschungsaufgabe.
Während ihres Aufenthalts in Wien wird sie 1941 auf jeden Fall verhaftet, entkommt nur knapp der Todesstrafe und wird zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt …
CZ: … von denen sie zum Glück nur vier Jahre absitzen musste. Im Gefängnis erfuhr sie eine große Solidarität von Frauen, die sie in dieser Form noch nicht kannte. Aber sie musste auch miterleben, wie viele ihrer Genossinnen und Genossen hingerichtet wurden. Das prägte sie sehr. Nach der Befreiung 1945 half die Kommunistische Partei bei ihrer Rückkehr nach Wien und stellte wohl so etwas wie eine Familie dar. Die Parteimitglieder waren in den 1950er Jahren ihre Bezugsmenschen. Dort hat sie Anschluss gefunden und Unterstützung erfahren.
BR: Zu diesen Frauennetzwerken besteht noch großer Forschungsbedarf. Margarete Schütte-Lihotzky war ja auch mehr als zwanzig Jahre lang Vorsitzende des Ende der 1940er Jahre gegründeten Bunds Demokratischer Frauen, einer KPÖ-nahen Organisation. Gegenwärtig scheint sich eine immer differenziertere Sicht auf die Geschichte der KPÖ in der Nachkriegsgesellschaft durchzusetzen. Teil davon ist auch das Wirken Schütte-Lihotzkys. Ich arbeite ja an der Universität für angewandte Kunst. In unserem Archiv befindet sich der Nachlass, den Christine mit ihrer Forschungsgruppe noch zu Margarete Schütte-Lihotzkys Lebzeiten sortiert und bearbeitet hat. Bis heute ist das der am meisten nachgefragte Bestand in unserer Sammlung. Interessant ist, dass an ihn ganz unterschiedliche Fragen gestellt werden, gerade von der jüngeren Generation. Das Planen fürs Wohnen am Existenzminimum spielt hier eine Rolle oder auch kindgerechtes Bauen. Schon in den 1920er Jahren hat Schütte-Lihotzky ja hierzu gearbeitet – zusammen mit fortschrittlichen Pädagoginnen.
CZ: Margarete Schütte-Lihotzky stand für eine sehr integrative demokratische Architekturauffassung. Es ging ihr also darum, eine Gesellschaft, die alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen berücksichtigt, in die Architektur zu übertragen. Das sieht man zum Beispiel anhand der Bedeutung, der sie der Aufgabe des Bauens für Kinder beimaß und natürlich auch bei der Alltags- und Frauengerechtigkeit in der Architektur. Auch die Themen Nachhaltigkeit und Ökologie waren ihr wichtig: die Verbindung zwischen Wohnbau und der Natur kam aus ihren Erfahrungen in der Wiener Siedlerbewegung.
Besonders wichtig scheinen mir auch die transnationalen Bezüge zu sein. Mehr als zwanzig Jahre lebte und arbeitete Margarete Schütte-Lihotzky außerhalb Österreichs; sie hat Spuren nicht nur in Europa, sondern auch in Japan, China und Kuba hinterlassen und auch in der Sowjetunion von Moskau bis nach Magnitogorsk Kindergarten- und Schulgebäude projektiert.
MB: Das gilt nicht nur für die Architektur, sondern auch für andere Bereiche ihres Lebens, vor allem die Politik. Eine wichtige Rolle spielten für sie auch ihre häufigen Aufenthalte in der DDR, wo sie Freunde und Bekannte hatte. Ingeborg und Samuel Rapoport waren wichtige Kontakte für sie, ebenso Walter und Violetta Hollitscher und nicht zuletzt Hans Wetzler, mit dem sie seit den 1960er Jahren liiert war. Sie alle waren auch KP-Mitglieder. Ihre Transnationalität hatte also auch eine sehr persönliche Dimension. Ebenso gilt dies für die Reisen, die sie selbst im hohen Alter noch unternahm.
BR: Sie wirkte zweifellos transnational, aber ganz wichtig ist mir auch der transkulturelle Aspekt. Das lässt sich anhand der Türkei gut zeigen. Für die Reformprojekte Kemal Atatürks hatte man sich Expertinnen und Experten ins Land geholt, aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und anderen westlichen Ländern. So fand ein Kulturtransfer auch in der Architektur statt. Im Zuge der Alphabetisierungskampagne sollten Dorfschulen errichtet werden. Margarete Schütte-Lihotzky plante diese in modularer Bauweise, wobei regionale Baustoffe verwendet werden sollten. Sie versuchte also ihre Konzepte an die lokalen Gegebenheiten anzupassen. Bei aller Rationalisierung und Typisierung ging es ihr vor allem immer um den Aspekt des menschengerechten Bauens – für Kinder und für ein anatolisches Dorf genauso wie für eine riesengroße Industriestadt, die als »Retortenstadt« in der Sowjetunion aus der Erde gestampft wurde.
TF: Ihre transkulturellen Übersetzungsleistungen sind ein ganz wichtiger Punkt. Margarete Schütte-Lihotzky hat leider nicht mehr die Zeit oder auch nicht die Partner und die Möglichkeit gehabt, diese Erfahrung näher zu reflektieren. Sie hat sich relativ schnell von einer abstrakten Modernismusvorstellung gelöst und sich den Herausforderungen in der Sowjetunion gestellt, mit einer kulturellen Situation umzugehen, in der es keine homogenen gesellschaftlichen Strukturen gab, sondern in der zivilisatorische und kulturelle Brüche dazugehörten. Margarete Schütte-Lihotzky würde sich wahrscheinlich ihr Leben lang geweigert haben, das Sozialismusprojekt in Zentralasien als eine Variante innerer Kolonialisierung zu verstehen. Für sie war das eine Art Zivilisationssprung.
In ihrer inhaltlichen Arbeit vertrat sie stets den Gedanken, dass alle Menschen gleichermaßen den Anspruch auf gesunde und lebenswerte, aber auch in ihren kulturellen Traditionen verankerte Gestaltung haben. Nicht ohne Grund haben sich beide, Wilhelm Schütte und Margarete Schütte-Lihotzky, nach dem Krieg im Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM, Internationaler Kongress Moderner Architektur) stark eingebracht. Der Internationalismus war ihr wichtig – und zwar als Anspruch moderner egalitärer Gesellschaften. Da gibt es bei ihr noch einiges zu entdecken.
CZ: Diese Übersetzungsleistungen von Margarete Schütte-Lihotzky müssen tatsächlich stärker Berücksichtigung finden. Was sie mit sich nach Österreich brachte, ist im Prinzip die Welt, wie sie sie gesehen hat. Die Nachkriegszeit in Wien war eine ziemlich begrenzte und sehr, sehr enge Welt – ich sage das, weil ich in ihr aufgewachsen bin. Margarete Schütte-Lihotzky war beeindruckend in ihrer Art, zurückzuschauen und gleichzeitig eine Zukunftsperspektive aufzuzeigen. Zudem fasziniert mich, wie sie als Architektin zu ihrem Leben und Werk stand.
Margarete Schütte-Lihotzky hat ein Jahrhundertleben geführt. Ich glaube, diese Bezeichnung ist in diesem Fall wirklich zutreffend, nicht nur, weil sie buchstäblich jedes Jahr des 20. Jahrhunderts auch erlebt hat. Thomas, Du hast das letzte Wort: Was sagt uns das Leben, das sie führte, eigentlich über das 20. Jahrhundert?
TF: Ihr Leben machen die Erfahrung und die Ideale einer sozialen Moderne aus, einer gestalteten Umwelt, in der soziale Gleichheit und Selbstbestimmung möglich sind. Insofern ist diese sozialrevolutionäre Utopie der Reformbewegungen und des Sozialismus eine uneingelöste Jahrhunderterfahrung. Gleichzeitig ist ein solches Projekt immer mit politischen Widersprüchen, Abgründen und Herausforderungen verbunden. Man wird das eine vom anderen nicht trennen können. Auch das Architektin-Sein von Margarete Schütte-Lihotzky und ihr politisches Engagement müssen auf diese Art zusammen betrachtet werden. Insofern ist es auch Zeit, die Kulturgeschichte des europäischen Kommunismus neu aufzurollen.
Marcel Bois ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Zusammen mit Bernadette Reinhold hat er das Buch Margarete Schütte-Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk (Birkhäuser Verlag) herausgegeben.
Thomas Flierl ist freiberuflicher Bauhistoriker, Kulturwissenschaftler und Publizist. Kürzlich erschien der von ihm herausgegebene Band Wilhelm Schütte/Margarete Schütte-Lihotzky: »Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!« Der Gefängnis-Briefwechsel 1941–1945 (Lukas Verlag).
Bernadette Reinhold ist Kunst- und Architekturhistorikerin und arbeitet als Senior Scientist am Institut Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst, wo sich der Nachlass Schütte-Lihotzkys befindet.
Christine Zwingl ist Architektin und gehörte in den 1980er und 1990er Jahren der Forschungsgruppe Margarete Schütte-Lihotzky an, die das Archiv der Architektin aufbereitete. Seit 2014 leitet sie den Margarete-Schütte-Lihotzky-Raum in Wien. Sie hat kürzlich das Buch Margarete Schütte-Lihotzky. Spuren in Wien (Promedia Verlag) herausgegeben.
Das Gespräch führte Uwe Sonnenberg. Er arbeitet als Historiker bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dieser Beitrag wurde durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Anlässlich des 125. Geburtstages von Margarete Schütte-Lihotzky hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung ein Symposium zu ihrer Würdigung geplant, welches pandemiebedingt ausfallen musste. Anstelle dessen fand das hier vorliegende Gespräch digital statt.
Thomas Flierl ist freiberuflicher Bauhistoriker, Kulturwissenschaftler und Publizist. Kürzlich erschien der von ihm herausgegebene Band Wilhelm Schütte/Margarete Schütte-Lihotzky: »Mach den Weg um Prinkipo, meine Gedanken werden Dich dabei begleiten!« Der Gefängnis-Briefwechsel 1941–1945 (Lukas Verlag).
Bernadette Reinhold ist Kunst- und Architekturhistorikerin und arbeitet als Senior Scientist am Institut Kunstsammlung und Archiv, Universität für angewandte Kunst, wo sich der Nachlass Schütte-Lihotzkys befindet.
Christine Zwingl ist Architektin und gehörte in den 1980er und 1990er Jahren der Forschungsgruppe Margarete Schütte-Lihotzky an, die das Archiv der Architektin aufbereitete. Seit 2014 leitet sie den Margarete-Schütte-Lihotzky-Raum in Wien. Sie hat kürzlich das Buch Margarete Schütte-Lihotzky. Spuren in Wien (Promedia Verlag) herausgegeben.