23. September 2021
Frank Deppe ist einer der bedeutendsten marxistischen Denker Deutschlands und zentraler Akteur der Marburger Schule. Er blieb der Bewegung der Arbeitenden stets verbunden und vereinte kritische Wissenschaft mit politischer Praxis. Heute wird er 80 Jahre alt.
Frank Deppe auf einer Studierendenversammlung an der Universität Marburg, 1972.
Wer heute in Marburg an der Lahn spazieren geht, stößt mit etwas Glück auf ein bemerkenswertes zeitgeschichtliches Relikt. Geschützt vor Licht und Regen findet sich unter einer Brücke noch der Schriftzug, der zu Beginn der 1970er Jahre als Parole für eine bisher nie dagewesene Berufungskampagne diente: »Marx an die Uni! Deppe auf H4!«.
Mit Teach-Ins und anderen Protestformen demonstrierten zahlreiche Marburger Studierende gegen den langjährigen Widerstand der hessischen Landesregierung und der Universitätsleitung, Frank Deppe als Nachfolger von Ernst-Otto Czempiel auf eine H4-Professur für politische Wissenschaften zu berufen. Der Marburger Nachwuchswissenschaftler, der bei Wolfgang Abendroth mit einer Arbeit über Auguste Blanqui promoviert worden war, stand auf Platz 1 der Berufungsliste, die vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften einstimmig beschlossen wurde. Deppes Berufung war eigentlich nur noch eine Formalie. Doch das hessische Kultusministerium hatte 1971 erklärt, Deppes Berufung sei aus »politischen Gründen« ausgeschlossen. Der Kalte Krieg war in seiner Hochphase, ein Jahr später würde die SPD-geführte Bundesregierung den »Radikalen-Erlass« beschließen, der Linke systematisch von Anstellungen im Öffentlichen Dienst ausschloss.
»Die Unterstützung von Studierenden und Gewerkschaften verstand Frank Deppe als Auftrag, im Sinne Antonio Gramscis als ›organischer Intellektueller‹ für die Bewegung der Arbeitenden zu wirken.«
Zu diesem Zeitpunkt war Deppe schon längst kein Unbekannter mehr. In Marburg und darüberhinaus war er ein zentraler Akteur der Studentenbewegung, die 1966 mit der außerparlamentarischen Opposition entstanden und seit dem Tod von Benno Ohnesorg in Westberlin ein Jahr später zu einer Massenbewegung geworden war. Bereits 1964 war Deppe in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten und dort von 1966 bis 1967 Mitglied im Bundesvorstand.
Die Weigerung der hessischen SPD-Regierung Frank Deppe zu berufen, sorgte innerhalb der Marburger Studierendenschaft für einen Aufschrei. Sie startete eine Solidaritätskampagne, an der sich auch zahlreiche internationale Wissenschaftlerinnen und Gewerkschafter beteiligten. Als die Regierung dem Druck von unten nachgab und Deppe im Frühjahr 1972 tatsächlich berufen wurde, markierte dies den Erfolg einer seltenen Eintracht von Studierenden, universitärem Mittelbau und Gewerkschaften.
Die Unterstützung von Studierenden, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern verstand Frank Deppe als Auftrag, im Sinne Antonio Gramscis als »organischer Intellektueller« für die Bewegung der Arbeitenden zu wirken. Viele Protagonisten der Studierendenbewegung warfen ihre Überzeugungen aus Karrieregründen über Bord, nicht so Deppe. Anfang der 1970er Jahre etablierte sich um die Professur Frank Deppes die zweite Generation der sogenannten Marburger Schule. So folgten auf Deppes Berufung Georg Fülberth, Peter Römer und Dieter Boris. Der für die Marburger Schule charakteristische Ansatz, den allen voran Wolfgang Abendroth verkörperte und den er später mit den Soziologen Werner Hofmann und Heinz Maus weiterentwickelte, wurde so fortgetragen und strahlte in die Politikwissenschaft, Soziologie und historische Forschung aus. Zugleich führte er Theoriebildung, wissenschaftliche Analyse und politische Praxis zueinander und knüpfte damit thematisch, methodisch und politisch an das Werk von Karl Marx an.
Fraglos ist Frank Deppe einer der aktivsten Intellektuellen dieser facettenreichen Denkschule. Ein Blick auf sein wissenschaftliches Gesamtwerk offenbart eine enorme Produktivität, die sich nicht nur auf den Bereich der Politikwissenschaft beschränkt, sondern sowohl theoretisch als auch empirisch ein breites Forschungsfeld umfasst. Seine Dissertation über Blanqui, sein Buch über Niccoló Machiavelli und ebenso auch sein fünfbändiges Hauptwerk zum Politischen Denken im 20. und 21. Jahrhundert sind ohne Zweifel Standardliteratur. Frank Deppe entfaltet in diesen Schriften einen Zugang zur Theoriegeschichtsschreibung, der nicht bloße Begriffs- oder Ideengeschichte ist. Vielmehr arbeitet er durch eine breite historische Kontextualisierungen der Werke und ihrer Rezeption heraus, welche Aspekte der Argumentation exemplarisch für die sozialen Kämpfe und Kräfteverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft stehen.
Politikwissenschaftliche Erkenntnis gewinnt man nicht aus ahistorischen Modellspielen oder bloßen Beschreibungen politischer Systeme. Wie bereits Wolfgang Abendroth betonte, setzt sie vielmehr eine empirisch fundierte und politisch engagierte Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse voraus. Für Frank Deppe ist politisches Denken und politische Geschichtsschreibung immer »praxisbezogen«. Dies zeigt sich sowohl in seinen Arbeiten zu zentralen Konzepten politischer Theoriebildung, wie etwa seiner Einführung in die Staatstheorie unter dem Titel Der Staat, als auch in seinen zahlreichen anlassbezogenen historischen und zeitdiagnostischen Schriften, wie dem vielbeachteten demokratietheoretischen Werk Autoritärer Kapitalismus, der Publikation Imperialer Realismus über die deutsche Außenpolitik sowie auch seinem jüngsten Buch 1917|2017 – Revolution & Gegenrevolution.
»Die Verbindung zur Bewegung der Arbeitenden und die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die praktische Politik von Parteien und Gewerkschaften sind eine wesentliche Triebkraft seines Schaffens.«
Neben diesen Beiträgen zur marxistischen Theorie und zur Historiographie des politischen Denkens sind vor allem seine Arbeiten zum europäischen Einigungsprozess hervorzuheben. Bereits seit dem Integrationsschub der 1970er Jahre begleitete er diesen Prozess kritisch mit einer Vielzahl an Publikationen. Bis heute versteht er die europäische Integration als ein primäres Internationalisierungsprojekt des europäischen Kapitals, weshalb die Europäische Union primär den Interessen großer europäischer Unternehmen dient. Insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre fand auf Initiative von Frank Deppe in Marburg eine intensive Auseinandersetzung mit der Europäischen Gemeinschaft und dem dynamischen wirtschaftspolitischen Europäisierungsprozess statt. Bereits Ende der 1980er Jahre gründete Frank Deppe mit Promovierenden und Studierenden die Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaft, aus der zahlreiche Publikationen und Ende der 1990er Jahre zwei DFG-geförderte Forschungsprojekte hervorgingen. Im Zentrum stand die These, dass sich mit der Europäischen Union ein Regulationsraum herausbildet, der den zunehmend internationalisierten und krisenhaften Eurokapitalismus stabilisiert.
Damit verbunden war die Erarbeitung eines theoretischen Ansatzes, der an die Arbeiten von Antonio Gramsci und die französische Regulationstheorie anschloss. Dadurch etablierte sich Marburg neben Toronto und Amsterdam als Standort für eine kritische, neogramscianische Europaforschung. Bis heute bildet die Auseinandersetzung mit der EU einen Schwerpunkt am Marburger Institut für Politikwissenschaft.
Frank Deppe hat sich dabei nie als klassischer Ordinarius verstanden. Ganz in der Tradition seines Lehrers und Förderers Wolfgang Abendroth lebt er bis heute den Spagat zwischen Wissenschaft und politischer Praxis. Der praktische Bezug und Nutzen der eigenen Arbeit, die Verbindung zur Bewegung der Arbeitenden und die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die praktische Politik von Parteien, vor allem aber von Gewerkschaften sind – seit seiner 1971 erschienen Studie zum Bewußtsein der Arbeiter – eine wesentliche Triebkraft seines Schaffens. Trotz zahlreicher Konflikte – wie etwa der Auseinandersetzung um die 1977 veröffentlichte Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung – blieb Deppe den Gewerkschaften und ihren Aktiven immer solidarisch und praktisch verbunden.
Bis heute sind die Gewerkschaften für ihn die wichtigste Organisation der Bewegung der Arbeitenden geblieben. So betonte er zuletzt wieder in seinem Band Gewerkschaften in der Großen Transformation, dass nur mit den Gewerkschaften und aus ihnen heraus, eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft denkbar werden kann.
Die Orientierung auf die Bewegung der Arbeitenden und die Frage, welchen gesellschaftlichen Nutzen die eigene Forschung hat, vermittelte er auch seinen Studierenden und Promovierenden. Das klassische Professorengehabe war ihm fremd. Seinen Schülerinnen und Schülern begegnete er auf Augenhöhe, nahm sie als künftige »Intellektuelle« ernst und begeisterte damit Generationen von Studierenden für die kritische Wissenschaft. In seiner Lehrtätigkeit ermutigte er seine Studierenden zum eigenen Denken anstatt zu einer dogmatischen und unkritischen Auseinandersetzung mit der marxistischen Theorie.
Zwischen den 1980er und 2010er Jahren organisierte er den Marxistischen Arbeitskreis (MAK) an der Universität Marburg, wo er mit Studierenden und Promovierenden neuere marxistische Literatur diskutierte und aktuelle Entwicklungen theoretisch reflektierte. Damit ermöglichte er den Studierenden frühzeitig wissenschaftliche Forschungs- und Publikationserfahrungen zu sammeln und sich interdisziplinär auszutauschen. Diese Förderung wirkt bis heute nach. Seine ehemaligen Studierenden bekleiden Professuren von Jena über Tübingen und Erfurt bis ins ferne Südkorea, sind in der Wissenschaft aktiv oder wirken als Funktionäre und Aktivisten in Gewerkschaften, linken Parteien und sozialen Bewegungen.
Als Studenten von Frank Deppe haben wir von seinem politischen Selbstverständnis und seinem unkonventionellen wissenschaftlichen Denken profitiert – es prägt uns bis heute. Frank hat uns schon früh zum kritischen Hinterfragen und vor allem auch zum eigenständigen Schreiben ermutigt. Zum 80. Geburtstag gratulieren wir herzlich und hoffen auf viele weitere Jahre des politischen und wissenschaftlichen Austauschs.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dr. David Salomon, Politikwissenschaftler, ist Ko-Projektleiter des Projekts »Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie« an der TU-Darmstadt und Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung.
Dr. des. Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Koordinator des Promotionskollegs »Gerechtigkeit durch Tarifvertrag« an der Freien Universität Berlin.
Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und Redakteur der »PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften«.
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dr. David Salomon, Politikwissenschaftler, ist Ko-Projektleiter des Projekts »Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie« an der TU-Darmstadt und Forschungsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung.