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11. Juni 2025

Auch Energiekonzerne lassen sich vergesellschaften

Die Vergesellschaftung von Wohnraum ist längst in aller Munde. Ein neues Gutachten zeigt jetzt: Der aktuelle Rechtsrahmen erlaubt es auch, Energiekonzerne zu vergesellschaften und damit eine gerechte Energiewende voranzutreiben.

Ein Sonnenuntergang taucht diese Szenerie aus Strommasten und Windrädern in ein Spektrum von gelb bis lila – ganz zufällig die Farben von Deutsche Wohnen & Co. Enteignen.

Ein Sonnenuntergang taucht diese Szenerie aus Strommasten und Windrädern in ein Spektrum von gelb bis lila – ganz zufällig die Farben von Deutsche Wohnen & Co. Enteignen.

IMAGO / Andreas Franke

Die Energiepolitik steht vor immensen Herausforderungen: Einerseits steigen die Energiekosten für Verbraucherinnen und Verbraucher - also für uns alle, die täglich Strom aus der Steckdose beziehen oder ihre Wohnung beheizen müssen. Haushalte zahlen aktuell rund ein Drittel mehr für Energie als noch vor vier Jahren. Darüber hinaus waren steigende Energiepreise einer der zentralen Treiber der Inflation der vergangenen Jahre.

Andererseits stockt der klimaneutrale Umbau, obwohl er gerade erst begonnen hat. Der Energiesektor steht vor einem immensen Investitionsbedarf – man denke nur an den Stromsektor, der nur einen Teil des gesamten Energiesektors ausmacht, perspektivisch aber den gesamten Energieverbrauch abdecken muss. Denn eine Alternative zur Elektrifizierung (insbesondere auch des Wärme- und des Verkehrssektors) gibt es nicht.

In einer Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) wurde Ende 2024 errechnet, dass der Investitionsbedarf allein in die Stromnetze zum Erreichen der Klimaziele bis 2045 bei bis zu 650 Milliarden Euro liegt. Ein relevanter Teil dieser notwendigen Investitionen wird nach dem aktuellen Modell über die Netzentgelte auf die Nutzerinnen und Nutzer des Netzes umgelegt – also uns alle. Die Strompreise drohen also, noch weiter zu steigen.

»Die Vergesellschaftung mittels Artikel 15 des Grundgesetzes wurde explizit für Krisen im Energiesektor geschaffen.«

Die Energiepreise und deren Verteilungswirkungen beschäftigen die Politik seit Jahren. Irgendwie müssen die Preise runter – das hatten sich sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung vorgenommen. Doch neben Senkungen der Strompreissteuer und Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt fällt den Regierenden nicht viel ein. Sie scheuen davor zurück, weitreichende Eingriffe in den liberalisierten Energiemarkt vorzunehmen oder die Gewinne der Energieunternehmen anzutasten.

Dabei haben wir ein im Grundgesetz verankertes, von der historischen Arbeiterbewegung erkämpftes, scharfes politisches Instrument zur Verfügung, das explizit für Krisen im Energiesektor geschaffen wurde: Die Vergesellschaftung mittels Artikel 15 des Grundgesetzes. Ein neues Gutachten einer renommierten Hamburger Kanzlei im Auftrag von communia zeigt nun: Es ist rechtlich möglich, Energiekonzerne oder Netzgesellschaften zum Zweck einer sozialen und ambitionierten Energiewende zu vergesellschaften.

Von Deutsche Wohnen zu RWE und Co.

Doch eins nach dem anderen: Vergesellschaftung kennen wir heute vor allem aus der Debatte um die Mietenkrise in Berlin. Die Berliner Bewegung Deutsche Wohnen und Co. enteignen (DWE) weckte den Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes aus dem Dornröschenschlaf. Im Jahr 2021 überzeugte sie 59,1 Prozent der wahlbeteiligten Berlinerinnen und Berliner davon, private Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen zu vergesellschaften, das heißt in Gemeinwirtschaft zu überführen. Trotz dieses fulminanten Siegs lässt die historisch erstmalige Anwendung von Artikel 15 aufgrund der politischen Blockade der Landesregierung auf sich warten. Die Initiative arbeitet daher an einem eigenen Vergesellschaftungsgesetz, um die Blockade der regierenden Koalition aus SPD und CDU zu brechen.

Jedenfalls ist mit dem Erfolg von DWE die Eigentumsfrage mit Nachdruck auf die politische Agenda zurückgekehrt. In der Folge ist die Debatte um Vergesellschaftung – die historisch auch häufig unter dem Stichwort Sozialisierung verhandelt wurde - gegenwärtig eng mit dem Thema Mieten und dem Wohnsektor verknüpft. Dabei greift der Vergesellschaftungsartikel viel weiter.

»Überraschenderweise kommen die Rechtsanwälte Günther zu dem Ergebnis, dass trotz liberalisiertem und privatisiertem EU-Energiemarkt mehr möglich ist, als gemeinhin angenommen wird.«

Er ist nämlich nicht auf einen spezifischen Sektor beschränkt, sondern markiert die grundsätzliche Offenheit des Grundgesetzes in Bezug auf die Wirtschaftsordnung Deutschlands und hält die Möglichkeit eines Übergangs offen. In Artikel 15 heißt es: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.«

Neben »Grund und Boden« – dem Ansatzpunkt der Berliner Initiative - sind explizit »Produktionsmittel« und auch »Naturschätze« als mögliche Vergesellschaftungsgegenstände aufgeführt. Das kommt nicht von ungefähr, hatten doch die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes konkret die Energiewirtschaft vor Augen, als sie die Möglichkeit zur legalen Vergesellschaftung ins Grundgesetz verhandelten. Bereits vor mehr als hundert Jahren war die Sozialisierung eine zentrale Forderung der historischen Arbeiterbewegung, die auf den industriellen Kern der Weimarer Republik, also insbesondere auch Bergbau und Elektrizität zielte. Auf den Schultern dieser Bewegung fand der Sozialisierungsartikel Eingang in die Weimarer Reichsverfassung und später auch ins Grundgesetz – und steht bis heute als politisches Instrument zur Verfügung.

Die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln - was nach vier Dekaden neoliberaler Verwüstungen und Niedergang der organisierten Arbeiterbewegung fast undenkbar scheint, war einst Kernbestandteil sozialistischer Strategien. Das neue Gutachten zeigt, dass sie das zukünftig auch wieder werden kann.

Mehr Spielraum als gedacht

Die renommierte Hamburger Kanzlei Rechtsanwälte Günther, bekannt durch wegweisende Klima-Klagen, skizziert in ihrem Gutachten einen »Basisfall Vergesellschaftung« und beleuchtet die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung von Artikel 15. Dies ist brisant, denn seit den 1990er Jahren wird der Energiesektor umfangreich durch das Recht der Europäischen Union reguliert, das den Geist von Wettbewerbsideologie und Kapitalorientierung atmet. Überraschenderweise kommen die Rechtsanwälte Günther zu dem Ergebnis, dass trotz liberalisiertem und privatisiertem EU-Energiemarkt mehr möglich ist, als gemeinhin angenommen wird. Die zentralen Ergebnisse der Analyse lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:

Erstens ist es möglich, Energiekonzerne und auch große Betreiber von Stromnetzen zu vergesellschaften – inklusive solcher, die international tätig sind. Auch nach heutiger Rechtsauffassung kann dabei das gesamte Unternehmen vergesellschaftet werden, nicht nur einzelne Infrastrukturen wie zum Beispiel ein Kraftwerk. Es ist also klar, dass mittels Artikel 15 Konzerne wie RWE, E.ON oder Uniper sowie Stromnetzbetreiber wie TenneT auch gegen Widerstände in Gemeineigentum überführt werden können.

Zweitens stellen die europäischen Verträge kein grundsätzliches Hindernis für eine Vergesellschaftung im Energiesektor dar, sondern setzen lediglich einen Rahmen. Trotz der weitreichenden Markt- und Wettbewerbsorientierung des europäischen Rechts enthalten die Verträge Öffnungsklauseln für die gemeinwirtschaftliche Versorgung, die sich nutzen lassen.

»Die Idee, der Staat könne durch clevere Regulierung, Subventionen und Bepreisungsmechanismen private Investitionen hebeln, gerät in immer tiefere Widersprüche und die Investitionen bleiben weit hinter dem Nötigen zurück.«

Drittens bestehen Spielräume einen sozialen und ökologischen Umbau, obwohl die vergesellschafteten Unternehmen nach wie vor dem liberalen EU-Recht unterliegen würden. So könnten für eine soziale Preisgestaltung von Energie für Verbraucherinnen und Verbraucher Ausnahmen vom grundlegenden Beihilfeverbot gemacht werden.

Viertens gibt es auch für die Zuführung von öffentlichem Kapital in ein vergesellschaftetes Energieunternehmen keine absoluten Hürden. Dies lässt Spielraum, um die öffentlichen Investitionen in den klimagerechten Umbau zu erhöhen. Vergesellschaftung könnte also die ökologische Transformation beschleunigen.

Und fünftens wäre es möglich, nach der Vergesellschaftung die Geschäftsmodelle der Unternehmen umfassend zu verändern – inklusive der Geschäftspraktiken internationaler Tochtergesellschaften. Fragwürdige Investitionen im Ausland von Konzernen wie RWE, die neokoloniale Abhängigkeiten verstärken können, könnten demnach gestoppt werden.

Die Überführung von Energieinfrastrukturen in Gemeinwirtschaft durch Vergesellschaftung kann also einen bedeutenden Beitrag zu einer sozial gerechten und kostengünstigen Energieversorgung leisten. Angesichts der Energiekrise sowie industriepolitischer Herausforderungen - etwa in der Automobil- oder Stahlbranche - lohnt es sich, das Potenzial von Vergesellschaftung wiederzuentdecken und mutig zu nutzen. Artikel 15 des Grundgesetzes bietet uns einen Kompass für eine sozialistische Energie- und Industriepolitik. Die aktuellen Erkenntnisse könnten zudem schneller realpolitische Relevanz gewinnen, als es auf den ersten Blick scheint.

Der »grüne Kapitalismus« am Ende seiner Möglichkeiten

Das Scheitern von Regierungen und dem bestehenden Marktmodell an den großen energiepolitischen Herausforderungen wird immer offensichtlicher. Auch den Herrschenden ist in gewissem Maße klar, dass eine über den Markt vermittelte Energiewende, die die Kosten des Umbaus an uns alle weitergibt und weitere Reallohnverluste in der breiten Masse herbeiführt, kaum mehrheitsfähig ist.

Auch beim weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien oder der Wärmewende zeigt sich, dass die derzeitigen politischen Instrumente eines »grünen Kapitalismus« nicht ausreichen. Die Idee, der Staat könne durch clevere Regulierung, Subventionen und Bepreisungsmechanismen private Investitionen hebeln, gerät in immer tiefere Widersprüche und die Investitionen bleiben weit hinter dem Nötigen zurück.

»DWE hat es geschafft, die Hoffnung der Menschen für eine Entmarktlichung der Wohnungsversorgung zu mobilisieren. Dieses transformative Potenzial lässt sich auch auf den Energiesektor übertragen.«

Dies hatte in Teilen selbst Robert Habeck in seiner damaligen Rolle als Minister für Wirtschaft und Energie erkannt. 2022 forderte er die Verstaatlichung des großen Netzbetreibers TenneT und ließ eine Staatsbeteiligung verhandeln. Auch wenn der Staatseinstieg im vergangenen Jahr an der Haushaltskrise scheiterte, zeigt sich eine politische Tendenz hin zu mehr öffentlicher Verantwortung im Energiesektor. Selbst die aktuelle Bundesregierung verfolgt trotz der Manager-Energieministerin Katherina Reiche das Ziel, strategische Beteiligungen des Bundes in der Energiewirtschaft zu halten.

Mit der Vergesellschaftung verfügen wir über ein besseres Instrument. Anstatt privaten Investoren aus dem fossilen und neoliberalen Zeitalter den Ausstieg aus der Energieversorgung durch Steuerzuschüsse oder Rückkäufe zu vergolden, sollten und könnten wir relevante, strategische Teile der Energiewirtschaft direkt in demokratisiertes Gemeineigentum überführen. Angesichts der Sackgasse, in die das Versprechen eines grünen Kapitalismus geraten ist, werden sich vermutlich bald Möglichkeitsfenster für Vergesellschaftungen als Teil ambitionierter linker Energie- und Transformationspolitik öffnen.

Das vorgelegte Gutachten schafft eine fundierte Grundlage, auf der verschiedene Akteure in Bewegungen und Parteien nun weiterführende Ideen und Ambitionen entwickeln können. Vergesellschaftung stellt im Kontext der Energiewende einen doppelten Hebel dar: Sie adressiert einerseits die politökonomischen Blockaden der Energietransformation und demonstriert zugleich andererseits, dass eine Klimapolitik im Interesse der Arbeitenden und Konsumierenden möglich ist.

DWE hat es geschafft, diese Hoffnung für eine Entmarktlichung der Wohnungsversorgung zu mobilisieren. Dieses transformative Potenzial lässt sich auch auf den Energiesektor übertragen - hin zu einer klimagerechten, demokratisch kontrollierten und bedürfnisorientierten Energieversorgung. Mit Vergesellschaftung können wir den Widersprüchen der Energietransformation unter kapitalistischen Vorzeichen konkrete Alternativen entgegenstellen und dabei an das historische Erbe der Arbeiterbewegung anknüpfen. Das bürgerliche Recht ist kein Gegenargument mehr.

Justus Henze ist politischer Ökonom und arbeitet bei communia zu Vergesellschaftung und der Demokratisierung von Wirtschaft.