27. September 2021
In Berlin gewinnt der Volksentscheid von »Deutsche Wohnen & Co enteignen« – und die SPD unter Franziska Giffey. Die Konfrontation ist vorprogrammiert.
Giffey erklärt, den Entscheid respektieren zu wollen. Aber wie zeigt sich dieser Respekt?
In Berlin kam es gestern »faustdick«, wie Jörg Schönborn es in der ARD formulierte. Nach den ersten Prognosen sah es so aus, als könnte die grüne Kandidatin Bettina Jarasch das Rote Rathaus in Berlin übernehmen. Im Laufe des Abends schob sich die SPD allerdings wieder an den Grünen vorbei – und mit ihr Franziska Giffey, die sich in der Hauptstadt anschickt, von der rot-rot-grünen Koalition abzuweichen und sich Bündnisoptionen mit FDP und CDU offenhält.
Auch wenn sich die Auszählungen aufgrund diverser Pannen hinauszögerten, wurde in der Nacht deutlich, dass die Mehrheit für die Vergesellschaftung von 240.000 Wohnungen gestimmt hatte. Das amtliche Endergebnis bestätigte, dass satte 56,4 Prozent der Stimmen für einen Gesetzentwurf abgegeben wurden. Diesen Erfolg kann man durchaus als historisch bezeichnen: Noch nie zuvor wurde ein Volksentscheid zur Anwendung des Paragraphen 15 des Grundgesetzes tatsächlich gewonnen. Das Ergebnis ist auch deshalb bedeutsam, weil Berlin nach dem gekippten Mietendeckel als erste Stadt einen noch radikaleren Eingriff in den explodieren Mietmarkt vornehmen könnte – das könnte auch internationale Signalwirkung haben und ein Exempel statuieren.
Dass knapp 1 Million Berlinerinnen und Berliner für den Entscheid stimmten, zeigt einerseits, dass das Problem weitreichend genug ist, um linke Forderungen in der Breite der Gesellschaft populär zu machen. Andererseits konnten die beiden Parteien, die den Volksentscheid unterstützen – allen voran DIE LINKE –, von dieser Energie nicht profitieren. Sie liegt abgeschlagen bei 14 Prozent und steht damit sogar schlechter da als noch vor fünf Jahren. Mit diesem Wahlergebnis wird die Partei kaum Einfluss auf die Umsetzung der Entscheidung ausüben können. Das wiederum zeigt: Eine Kampagne kann noch so erfolgreich sein, ohne starke parlamentarische Vertretung stößt sie an Grenzen.
In der jetzigen Konstellation ist die Umsetzung des Volksentscheids ungewiss, denn rechtlich bindend ist das Ergebnis nicht. Wie es weitergeht, hängt von der künftigen Regierung ab – und die Regierungsbildung wiederum liegt maßgeblich in den Händen der Sozialdemokratie.
Giffeys Wahlerfolg beruht hauptsächlich auf der bundesweiten Stärke der SPD, aber auch auf dem selbstgemachten Image der Partei-Rechten, der der Ruf vorauseilt, in der Stadt für Ordnung zu sorgen. Damit fischte sie eindeutig im Becken der Konservativen. Im Wahlkampf gegen beliebte Grüne und eine mietenpolitisch stark aufgestellte Linkspartei war das für sich genommen eine sinnvolle Strategie. Giffey überlebte so nicht nur den Skandal um ihre Doktorarbeit, sie schien daraus gar eine Tugend machen zu wollen, indem sie sich als diejenige inszenierte, die nach bestem Wissen und Gewissen handele, der aber auch Fehler unterlaufen können. Sie gab sich menschlich, wo sie eigentlich in jeglicher Hinsicht versagt hatte.
Dass ihre politische Karriere diese Affäre so unbeschadet überdauerte, hat sie wohl im Wesentlichen der Unterstützung der Seeheimer als auch der zaghaften Parteibasis zu verdanken. Einer Kandidatin auf Erfolgskurs will man eben nicht im Weg stehen. Damit ebnet man jetzt allerdings einer möglichen Mitte-rechts-Regierung den Weg, obwohl eine Fortführung der rot-rot-grünen Regierung durchaus möglich wäre. Hier haben aber weder die Grünen noch die Linkspartei eine starke Verhandlungsposition – es sind schlicht zu viele Konstellationen denkbar und Giffey sitzt am längeren Hebel.
Zu Koalitionswünschen hat sie sich seit der Wahl nicht geäußert, doch die Signale weisen nach rechts. Giffey äußerte sich nun positiver zum Volksentscheid als vor wenigen Wochen: Damals hatte sie Enteignungen noch als »rote Linie« für Koalitionsverhandlungen bezeichnet, nun beteuerte sie, den Entscheid »respektieren« zu wollen, obwohl sie Enteignungen weiterhin nicht für das richtige Mittel hält. Was das bedeuten soll, ist völlig offen. »Respektieren« müsste eigentlich heißen, die Gesetzesvorlage bei dieser deutlichen Mehrheit auch zu erarbeiten. Realistischer ist allerdings, dass Giffey und die SPD die Verhandlungen verschleppen werden, womöglich über die gesamte Legislatur hinweg. Ähnlich lief es schon bei den ersten Stufen des Volksbegehrens.
Klar ist, dass eine Deutschland- oder Jamaika-Koalition in der linken Großstadt auf Gegenwind treffen wird. Denn eine nach rechts gerückte SPD in Koalition mit Marktliberalen und Konservativen liegt quer zur Stimmung in der Stadt, die sich im Volksentscheid spiegelt. Entscheidet sich Franziska Giffey für eine Mitte-rechts-Regierung, dann sind Konfrontationen mit der Mieterbewegung, aber auch mit den streikenden Pflegerinnen in den Krankenhäusern, mit den Lehrkräften und allen soziapolitisch Engagierten vorprogrammiert.
Den Volksentscheid juristisch und politisch zu verschleppen, wird das Ziel einer solchen Regierung sein, doch das drängende Problem der explodierenden Mieten wird sich durch »Respekt« oder die letztlich leere Formel des Bauens nicht lösen lassen. Allein deshalb wird es in der Hauptstadt keinen sozialen Frieden geben können, selbst wenn Franziska Giffey versuchen wird, ihn herbeizulächeln.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.