02. Februar 2022
Er wurde wegen Volksverhetzung verurteilt und ist als rassistischer Provokateur berüchtigt: Der rechtsradikale Meinungsmacher Éric Zemmour wird dieses Jahr bei der französischen Präsidentschaftswahl antreten. Ohne die Förderung eines milliardenschweren Medienmoguls wäre sein Aufstieg kaum möglich gewesen.
Éric Zemmour bei einer Wahlkampfveranstaltung in Villepinte, 5. Dezember 2021.
Éric Zemmours Kandidatur zu den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr ist nun schon seit einigen Monaten der Schandfleck der französischen Politik. Sein großspuriges Auftreten bestimmt die politische und mediale Tagesordnung des Landes und beeinflusst die Strategie der anderen Kandidatinnen und Kandidaten. Zeitweise wirkt es, als würde er tatsächlich in die zweite Runde einziehen.
Wie schon Macron und Le Pen stellt sich auch Zemmour als Außenseiter dar. Aber genau wie diese beiden erfüllt auch er alle Voraussetzungen, um der Lieblingskandidat der herrschenden Klasse zu werden. Tatsächlich hat Zemmour den Cursus honorum der Fünften Republik fast vollständig durchlaufen und sowohl an der renommierten Sciences Po als auch an der École nationale d’administration studiert. Doch wie heutzutage üblich hat ihn seine Medienpräsenz auf die nationale politische Bühne katapultiert. Zemmour machte sich als Kommentator einen Namen und ist dem französischen Publikum durch seine Auftritte in der Samstagabend-Talkshow On n’est pas couché (dt. Wir sind nicht im Bett) auf CNews bekannt – einem rechtsgerichteten Fernsehsender, der vom konservativen Milliardär Vincent Bolloré finanziert wird.
Ähnlich wie andere Rechtspopulisten der letzten Jahre tritt Zemmour in der Öffentlichkeit als Polemiker auf. Sein Image baut darauf, dass er vermeintlich »die Dinge so sagt wie sie sind«. In Wirklichkeit trifft er einfach eine Reihe empörender Aussagen zu heiklen Themen – von der Rolle des Mannes in der modernen Gesellschaft über die Unabhängigkeit Algeriens (die er eine »schlecht verheilte Wunde« nennt) bis hin zur Todesstrafe, der Wahl der Vornamen von Kindern und dem vermeintlichen Konflikt zwischen Islam und französischen Werten. Zemmour regt nicht zu tiefergehenden Analyse und Diskussion an, er provoziert.
Jahrelang wurde debattiert, wie man mit Zemmours Polemik umgehen soll. Einige meinten, man solle ihn einfach ignorieren, um ihm keine noch größere Bühne zu bieten. Das Problem an dieser Strategie: Zemmour war im Fernsehen bereits so gut wie allgegenwärtig. Diejenigen, die sein Einfluß beunruhigte, hatten jedoch Recht behalten: Die Debatten, die er der politischen Tagesordnung aufgezwungen hat, haben in der Gesellschaft tiefe Wunden geschlagen und einen Diskurs des Hasses, der Spaltung und sogar des Bürgerkriegs geschürt.
Zemmour wurde in eine arabisch-jüdische Familie hineingeboren und wuchs im Pariser Vorort Drancy und im achtzehnten Arrondissement auf. Er studierte an der Sciences Po und arbeitete anschließend in der Werbebranche, bevor er bei der Zeitung Quotidien de Paris anfing. Den Großteil seiner Karriere als Autor verbrachte er bei der rechtsgerichteten Zeitung Le Figaro. Dort erlebte er auch seinen ersten großen Skandal. Nachdem er 2010 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, versetzte man ihn von der Zeitung zur Zeitschrift Le Figaro Magazine. (Später stellte sich heraus, dass die exorbitanten Kosten für Zemmours Kolumnen der eigentliche Grund für den Wechsel waren.)
2013 kehrte Zemmour zur Tageszeitung des Figaro zurück, wo seine kontroversen Ansichten sehr willkommen sind. Im September 2021 nahm er sich eine Auszeit, um sein neues Buch La France n’a pas dit son dernier mot (dt. Frankreich hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen) zu promoten. Es wurde ein Bestseller und verkaufte sich in den ersten zwei Monaten über 200.000 Mal. In dem Buch beschreibt Zemmour Gespräche, die er in den letzten zehn Jahren bei zahlreichen Meetings und Abendessen mit französischen Politikerinnen und Politikern geführt habe. Er stellt sich selbst als einen großen Denker dar und erzählt, wie er sie vor dem sogenannten »großen Austausch« (einer rechten Verschwörungstheorie über die Verdrängung nicht-weißer Europäer) und Frankreichs »Einwanderungsproblemen« gewarnt habe – nur um festzustellen, dass seine Weisheiten ignoriert wurden.
Rechtsextreme Rhetorik ist in der französischen Politik nichts Neues. Vor Zemmour fürchtete man, dass Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. Doch Zemmour hat die Grenzen des Diskurses noch weiter nach rechts verschoben als Le Pen. Bevor Zemmour auf der Bildfläche erschien, wurde rechten Ideologen, die behaupteten, dass »weiße europäische Einheimische« durch Immigranten aus Afrika und dem Nahen Osten »ausgetauscht« würden, nicht viel Glauben geschenkt. Le Pen war sogar gezwungen, sich mehrfach von solchen Ideen zu distanzieren und ihre offen rassistischen Positionen zugunsten einer reaktionär-nationalistischen Politik aufzugeben. Mit dem Auftauchen von Zemmour als einem ernstzunehmenden Präsidentschaftsanwärter hat sich das jedoch geändert. Seine Strategie besteht darin, auf die Theorie des »großen Austauschs« zu verweisen und anzumahnen, man müsse sie ernst nehmen und diskutieren, ohne dabei ihre Ursprünge im Faschismus offenzulegen.
Wenn man verstehen will, wie Zemmour zu einer so einflussreichen Figur in der französischen Politik werden konnte, kommt man an dem Namen Vincent Bolloré nicht vorbei. Bolloré ist ein traditionalistischer katholischer Industrieller und einer der reichsten Menschen Frankreichs. Das Vermögen seiner Familie stammt aus dem Seefrachtgeschäft – insbesondere dem Afrikahandel – sowie aus der Papierindustrie. Seit den 2000er Jahren hat er einen erheblichen Teil dieses Vermögens in den Aufbau eines Medienimperiums gesteckt, dessen berüchtigtster Zweig CNews ist.
Zemmours Verbindung zu Bolloré war von Anfang skandalumwittert. Zwei Wochen nachdem er in der Sendung Face à l’info seinen ersten Auftritt hatte, forderten die Gewerkschaftsvertreter der Belegschaft der Canal+-Gruppe (die sich seit 2015 in Bollorés Besitz befindet) Zemmours Abgang. Ihre Petition, die ethische Verstöße Zemmours und die Schädigung des Rufs des Senders als Gründe anführte, wurde seitens des Unternehmens abgelehnt. Den Rechtsruck legitimierte der Medienkonzern mit seiner Bemühung, »alle Ansichten« abbilden zu wollen.
Bolloré hält Zemmour für einen Star. Dessen hohe Einschaltquoten und bombastischer Stil schufen ein Medienprodukt, das der Magnat nur zu gern vermarktet. Seit geraumer Zeit bereitet Bolloré den Boden für Zemmours Analysen. So hat er Kolumnisten eingestellt, die Zemmour freundlich gesinnt sind, und sich wiederholt geweigert, selbst dessen abwegigste Äußerungen zu kritisieren.
Bollorés Mediensystem bietet Zemmour nicht einfach nur eine Plattform, sondern sorgt auch dafür, dass seine Argumente Tag für Tag in den Feuilletons weiterverwertet werden. Es stellt seine rechtsextremen Meinungen als gesunden Menschenverstand dar und versucht aktiv, sie auch einer skeptischen Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Dank dieses Systems bestimmen Zemmours politische Vorschläge, so abscheulich oder unsinnig sie auch sein mögen, nun die Tagesordnung des Präsidentschaftswahlkampfs.
Seit Charles De Gaulle in den 1950er Jahren Frankreichs quasi-präsidentielle Fünfte Republik begründete, hat der Mainstream der Rechten in der Regel ihren republikanischen Charakter betont und faschistische Randgruppen zu isolieren versucht. Auf diese Weise konnte in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein gewisser antifaschistischer Konsens aufrechterhalten werden, der noch bei den Präsidentschaftswahlen von 2002 wie ein Bollwerk gegen Jean-Marie Le Pen wirkte. Heute wird oft vergessen, wie weit dieser Durchbruch des Vaters hinter den jüngsten Erfolgen seiner Tochter zurückblieb: Damals erhielt Jean-Marie Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 17,8 Prozent der Stimmen – 2017 erzielte Marine Le Pen 33,9 Prozent.
Letztere hat versucht, die Marke Le Pen zu »entgiften«, indem sie ihre Vorhaben von der offen faschistischen Vergangenheit ihres Vaters abzusetzen versucht. 2018 ging sie sogar so weit, den Namen »Front National« (dt. Nationale Front) zugunsten des offeneren »Rassemblement National« (dt. Nationale Versammlung) aufzugeben. Während ihr Vater die demokratische Tradition Frankreichs offen verachtete, pflegt Marine Le Pen heute ein republikanisches Vokabular und versucht, die radikalsten und rassistischen Elemente ihrer Partei zu verbergen.
Während sich Marine Le Pen also bemüht, einen Platz innerhalb der Grenzen des Cordon sanitaire zu finden, der in der Nachkriegszeit zwischen Mainstream-Politik und Faschismus eingerichtet wurde, rüttelt Zemmour bewusst an dessen Grundfesten. Eine seiner erschreckenderen geschichtsrevisionistischen Behauptungen war, Philippe Pétain und das nazifreundliche Vichy-Regime hätten während des Holocausts versucht, die französischen Jüdinnen und Juden zu retten. In Wirklichkeit wurden mehr als 70.000 von ihnen getötet.
Ironischerweise behauptet Zemmour, der Erbe der konservativen gaullistischen Partei Rassemblement pour la République (RPR) zu sein. Tatsächlich will er die gaullistische Tradition begraben – welche die Fünfte Republik begründete, um den Algerienkrieg hinter sich zu lassen – und sie durch etwas weitaus Unheilvolleres ersetzen. Ideologisch steht er eher in einer Ahnenreihe mit der Organisation Armée Secrète (OAS), einer rechtsextremen paramilitärischen Vereinigung, die 1961 im franquistischen Spanien gegründet wurde. Diese putschistische Organisation versuchte, die Abspaltung Algeriens, die von der französischen und algerischen Bevölkerung in einem 1961 von De Gaulle angeregten Referendum unterstützt wurde, durch eine Serie von Terroranschlägen zu verhindern. In der Tat hatte Zemmour 2019 in Anlehnung an die OAS erklärt, er stehe »auf der Seite von General Bugeaud«, einem brutalen Gouverneur Algeriens im 19. Jahrhundert, der, wie Zemmour behauptet, »Muslime und sogar einige Juden massakrierte«, um die Nation zu verteidigen.
Indem er sich auf das Erbe der RPR beruft, hat Zemmour eine Fantasiepartei und -tradition geschaffen, die es ihm ermöglicht, ein historisches Kontinuum zwischen ihm und der französischen Rechten zu konstruieren, obwohl er tatsächlich einen bedeutenden Bruch mit deren Geschichte vollzieht. In seiner Ignoranz und seinem Geschichtsrevisionismus ist er erstaunlich dreist und scheint sich dabei von der Widerlegung seiner Aussagen nicht beirren zu lassen. Darin liegt seine vielleicht größte Ähnlichkeit zu Donald Trump.
Zemmour nimmt zwar Bezug auf den französischen Befreiungskampf unter De Gaulle, die Wurzeln seines politischen Denkens liegen aber in konterrevolutionären Bewegungen. So lobte er in letzter Zeit immer wieder Charles Maurras, einen prominenten rechtsextremen Intellektuellen des frühen 20. Jahrhunderts. Maurras explizit konterrevolutionäre Partei Action Française war in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg die Speerspitze des französischen Faschismus, und er selbst galt als ideologische Inspiration für das Vichy-Regime, das er später auch unterstützen sollte. Als Zemmour darauf angesprochen wurde, entgegnete er unverfroren, dass er Maurras lediglich »gedenken« würde, »und Gedenken ist nicht dasselbe wie Feiern«.
Lobende Worte über die republikanische Geschichte Frankreichs vernimmt man von Zemmour nur selten. Seine nationale Nostalgie reicht weiter zurück: zu den Eroberungen Napoleons, den royalistischen Regimen und dem Zweiten Kaiserreich. Dadurch ist es ihm gelungen, Marine Le Pen zu überflügeln und Kontroversen loszutreten, die sie versuchte zu vermeiden. In den Umfragen liegt Zemmour in der Regel etwa gleichauf mit Le Pen. Daten von IPSOS deuten darauf hin, dass etwa 34 Prozent seiner Anhängerschaft früher Le Pen wählten, rund ein Viertel seiner Unterstützer sind ehemalige Anhänger der Mitte-rechts-Partei Les Républicains. Zemmour gewinnt nicht einfach nur eine traditionell konservative und fremdenfeindliche Wählerschaft für sich, er radikalisiert sie.
Eine Studie der Fondation Jean Jaurès hat aufgezeigt, wie homogen Zemmours potenzielle Wählerbasis ist. Sie setzt sich fast ausschließlich aus Menschen im Ruhestand und aus der Oberschicht zusammen. Ein Viertel von ihnen unterstützte 2017 den Mitte-rechts-Kandidaten François Fillon. Außerdem ist seine Basis besonders männlich, mehr noch als die aller anderen Kandidatinnen und Kandidaten. Während Le Pen einigermaßen glaubhaft behaupten kann, auf einen Teil der Ängste zu reagieren, die Menschen aus den unteren Einkommensschichten angesichts der tiefen wirtschaftlichen Krise empfinden, ist Zemmours Unterstützung viel offensichtlicher eine Revolte der Privilegierten.
Das macht ihn für viele in der herrschenden Klasse weniger beängstigend. Sie vertrauen auf sein Verhältnis zu Bolloré und seine liberale Wirtschaftspolitik, wie zum Beispiel die Anhebung des Rentenalters. Und auch an einigen seiner kontroverseren Positionen finden sie Gefallen. In Zemmours Vorstellung ist der Klimawandel nicht das Ergebnis des Kapitalismus oder des übermäßigen Konsums der Reichen, sondern eine Folge der »demografischen Explosion in Asien und Afrika«. »Das Grün der Grünen passt gut zum Grün des Islam«, sagte er bei einer anderen Gelegenheit. In einer Zeit, in der die Eliten zunehmend in die Kritik geraten, bietet Zemmour eine geschickte Ablenkung.
Zemmours Erfolg ist eine Warnung vor dem enormen Einfluss, den Medienunternehmen heute auf die Politik ausüben. Das gilt besonders für die vertikale wirtschaftliche Integration von Medienkonzernen. Bollorés Konglomerat Vivendi umfasst nicht nur Fernsehsender, sondern alles von audiovisuellen Dienstleistungen über Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Buchverlagen und Filmproduktionen. Auf diese Weise kann ein einzelner rechtsgerichteter Milliardär die Meinungsbildung und Verbreitung von Ideen beträchtlich beeinflussen. Da die Aktivitäten solcher Konzerne, die die Rädchen dieser mächtigen politischen Maschinerie bedienen, kaum reguliert werden, stellt dieses System eine große Bedrohung für die demokratische Politik weltweit dar.
Im Falle von Zemmour kommt die Warnung zu spät, er ist bereits im Wahlkampf. Aber man sollte sich noch nicht geschlagen geben: Seine Umfragewerte sind zwar beeindruckend, aber nicht überragend. Es ist durchaus möglich, dass Frankreichs neuester rechtsextremer Demagoge in den kommenden Wochen und Monaten Zustimmung verliert oder dass er letztendlich zwar 15 oder 16 Prozent erhält, was aber nicht reichen wird. Ob Zemmour bei dieser Wahl eine Chance hat, hängt davon ab, wie die Alternative zu Macrons autoritärem Zentrismus aussieht. Werden andere Kandidatinnen und Kandidaten die Desillusionierung der Menschen über Politik und Wirtschaft adressieren? Oder werden sich alle anderen aufgrund der rechtsextremen Kandidaturen gezwungen sehen, sich hinter dem bürgerlichen Block zu vereinen?
Auf der Linken gibt es unterschiedliche Antworten auf diese Fragen. Die Mitte-links-Kandidatin Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei forderte die Medien auf, »aufzuwachen« und der Realität von Zemmours rechtsextremer Politik ins Auge zu sehen. Sie weigerte sich, mit ihm zu diskutieren, da er ein »Negationist und ein rassistischer Clown« sei. Die Kommunistische Partei hat entschieden, sich bei dieser Wahl nicht einer breiteren linken Front anzuschließen. Sie versucht, in Bereichen zu punkten, die bisher von den Rechten besetzt wurden – vor allem in Sicherheitsfragen. Ihr Kandidat Fabien Roussel nahm kürzlich an einer Demonstration teil, die härtere Strafen für Angriffe auf die Polizei forderte. Auch die Sozialisten und die Grünen waren auf dieser Kundgebung vertreten, ebenso Zemmour – nicht aber Jean-Luc Mélenchon, der führende linke Kandidat von 2017 und heute.
Es ist aber nicht so, dass Mélenchon Zemmour aus dem Weg gehen würde. Ganz im Gegenteil. Im September 2021 diskutierte Mélenchon im Fernsehen mit Zemmour. Von einem großen Teil der Linken wurde Mélenchon dafür zwar kritisiert, doch die Debatte bot eine seltene Gelegenheit, die Antworten der Linken auf die Missstände in Frankreich mit denjenigen der Rechten zu kontrastieren. Im Gegensatz zu Zemmours ethno-nationalistischem Frankreich-Bild, lobte Mélenchon den Prozess der »Créolisierung«, durch den »die Menschen zusammenkommen und etwas Gemeinsames schaffen«. Außerdem sprach sich Mélenchon für eine Erhöhung der Sozialleistungen und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates (auch für migrantische Familien) aus, während Zemmour deutlich machte, dass er das berühmte französische Sozialversicherungssystem abbauen würde. Die Debatte hat Zemmours Kampagne zwar nicht ausgebremst, aber sie hat die Fronten für den kommenden Wahlkampf geklärt.
Die Einschätzung von Mélenchons Partei La France Insoumise ist, dass das gesamte politische Spektrum die Ideen Zemmours und Le Pens nach und nach übernimmt. Die Linke im Allgemeinen und La France Insoumise im Besonderen wurden in den letzten Jahren vermehrt zur Zielscheibe unerbittlicher politischer Angriffe seitens der Medien und der Regierung. In diesen Hetzkampagnen wurden traditionelle Elemente des McCarthyismus (auch Zemmour verwies in der Fernsehdebatte auf Stalin und Mao) mit neueren islamfeindlichen Themen und dem Krieg gegen den Terror kombiniert. So entstand die Bezeichnung »Islamo-Gauchisme« (dt. Islam-Linke), die nicht nur Rechtsextreme, sondern auch Anhänger Macrons und des politischen Zentrums im Munde führen. Dieser Versuch, Solidarität mit der muslimischen Bevölkerung als »antinational« oder »antirepublikanisch« darzustellen, ist ein zynischer Trick – aber einer, den die Linke bekämpfen muss, wenn sie bei den Präsidentschaftswahlen eine Chance haben will.
La France Insoumise hat versucht, den in den Medien vorherrschenden Kulturkampf über den Islam, die innere Sicherheit, die Polizei und die Banlieues zu durchbrechen. Mélenchon hat seine Präsidentschaftskampagne mit einer Betonung auf soziale und ökologische Themen angestoßen, von denen er hofft, dass sie eine breitere Wählerbasis ansprechen können. Seine Strategie gegen die Rechte hat sich seit 1992 nicht geändert. Er argumentierte, die Linke müsse:
»Die sozialen Bedingungen trockenlegen, die den Aufstieg der Rechtsextremen begünstigen; den Front National wie eine reale Partei und nicht wie ein Hirngespinst behandeln; ihr Programm thematisieren, ohne sich in Fragen der Einwanderung zu verheddern oder in die metaphysische Falle der französischen Identität zu tappen. Wir können wieder an Boden gewinnen, wenn wir ideologisch handeln. Jede ›republikanische Front‹ (eine Taktik, bei der sich alle anderen politischen Kräfte gegen die Rechtsextremen zusammenschließen) ist nur ein unheilvolles Durcheinander: Sie führt uns in das Fantasie-Universum, das Le Pen so gründlich dämonisiert hat.«
Dies ist das Universum, in dem die Rechten am leichtesten Erfolg haben – ein Universum, in dem sie mit dem Finger auf den Rest der politischen Klasse zeigen und sagen können: »Sie sind alle gleich.« Diese Karikatur trifft nur allzu oft auf Zustimmung in einer Bevölkerung, die sich zunehmend von der offiziellen Politik entfremdet fühlt und sich von den Massenorganisationen verabschiedet hat: Hollande, Sarkozy, Macron – wo ist da der Unterschied? Wenn die Linke sich nicht energisch von jenen Politikern abgrenzt, die für mehr als ein Jahrzehnt sinkender Lebensstandards verantwortlich sind, dann wird sie in den Augen der Bevölkerung auch selbst Teil dieses Blocks. Dann ist die einzige Alternative zur etablierten Politik jene, die alle Schuld an den Missständen der Gesellschaft den Minderheiten in die Schuhe schiebt.
Im gesamten Westen sieht das politische Terrain zunehmend genau so aus: die Rechtsextremen gegen das Establishment und eine Linke, die in dieser Auseinandersetzung nicht wahrnehmbar ist. In Frankreich ist diese Konstellation günstig für Macron, der damit rechnet, dass er Le Pen oder Zemmour in der zweiten Runde schlagen könnte. Und auch für die extreme Rechte ist dies vorteilhaft, da sie erwartet, im Schatten eines unpopulären Status quo noch stärker zu werden. Mit jedem Jahr, das vergeht, zieht diese Dynamik die Politik tiefer in den Abgrund – und die Monster, die aus dieser Dunkelheit hervorgehen, stellen eine immer größere Bedrohungen für unsere Gesellschaft dar.
Marion Beauvalet ist Doktorandin in Organisationstheorie und beschäftigt sich mit digitaler Langeweile am Arbeitsplatz. Außerdem ist die Mitglied von La France Insoumise.
Tomek Skomski ist Student der politischen Kommunikation und Mitglied der Parti de Gauche sowie von La France Insoumise.
Tomek Skomski ist Student der politischen Kommunikation und Mitglied der Parti de Gauche sowie von La France Insoumise.
Marion Beauvalet ist Doktorandin in Organisationstheorie und beschäftigt sich mit digitaler Langeweile am Arbeitsplatz. Außerdem ist die Mitglied von La France Insoumise.