01. Mai 2021
Am 1. Mai 1929 endeten die Anfeindungen zwischen SPD und KPD in Berlin in einem tragischen Blutbad. Die Spaltung, die darauf folgte, war angesichts des aufstrebenden Nationalsozialismus verheerend.
1. Mai 1929 in Berlin: Polizisten räumen die Barrikaden der Kommunisten.
Am 1. Mai gedenken wir alljährlich der Geschichte der sozialistischen Bewegung, feiern unsere Siege und betrauern unsere Niederlagen. Es lohnt sich, an diesem Tag auch an einen Rückschlag zurückzudenken, den die deutsche Linke selbst zu verantworten hat. Dieser zementierte die Spaltung zwischen Sozialdemokraten und Kommunistinnen und trug dazu bei, den Weg für die Machtübernahme der Nazis zu ebnen. Der Blutmai von 1929 erinnert daran, was auf dem Spiel steht, wenn die sozialistische Bewegung in entscheidenden Momenten die Orientierung verliert.
Der Zusammenstoß war Teil einer anhaltenden und immer gewaltsamer ausgetragenen Rivalität zwischen der SPD und KPD in Deutschland. Für sich war jede Partei eine mächtige Organisation mit Hunderttausenden von Mitgliedern und Millionen von Anhängerinnen und Anhängern. Der zentristische Gustav Böß wurde 1921 mit Stimmen der SPD zum Oberbürgermeister gewählt und während seiner gesamten Regierungszeit von der Partei gestützt. Aus Angst vor gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Nazi-Sturmtruppen und dem Roten Frontkämpferbund (RFB) verhängte die Regierung Anfang 1929 ein Verbot öffentlicher Demonstrationen.
Sozialdemokratische und bürgerliche Politikerinnen und Politiker fürchteten gleichermaßen, dass Berlin zu einem Schlachtfeld der extremen Rechten und der radikalen Linken werden könnte. Die Kommunisten wiederum begriffen das Verbot als Affront und weiteren Beweis für den Verrat der SPD und planten, ungeachtet dessen zu demonstrieren. Die Sturheit der Kommunisten, die Kompromisslosigkeit der SPD und die unverhältnismäßige Gewalt, die von der Polizei ausging, sollten schließlich 33 Menschen das Leben kosten. Schlimmer noch: Die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen den Parteien der arbeitenden Klasse sorgten dafür, dass die deutsche Demokratie dem Aufstieg des Nationalsozialismus schutzlos ausgeliefert war.
Bereits in den Tagen vor dem 1. Mai wurde die Feindseligkeit zwischen den beiden Parteien mehr als deutlich. Am 27. April 1929 druckte die KPD-Zeitung Die Rote Fahne eine Resolution des »Maikomitees von Groß-Berlin« zur Vorbereitung des Tages der Arbeiterbewegung, der in der folgenden Woche stattfinden würde:
»Die Berliner Arbeiter haben in allen Betrieben beschlossen, am 1. Mai die Arbeit ruhen zu lassen und unter allen Umständen zu demonstrieren. Die Berliner Arbeiter werden der Tradition des Kampfaufmarsches am 1. Mai auch in diesem Jahre trotz Zörgiebel treu bleiben … Das Berliner Maikomitee spricht im Namen der Berliner Arbeiterschaft aus, dass die Belegschaften der Betriebe mit dem politischen Massenstreik am 1. Mai antworten werden, wenn Zörgiebel es wagt, am 1. Mai Arbeiterblut zu vergießen! … Volle Arbeitsruhe am 1. Mai! Rote Fahnen heraus! Straße frei für die Massendemonstration!«
Bei dem betreffenden »Zörgiebel« handelt es sich um den damaligen Berliner Polizeipräsidenten Karl Friedrich Zörgiebel, der seit seinem Eintritt als Fassbinder-Lehrling 1901 treues Mitglied der SPD war. Zörgiebel hatte sich hochgearbeitet, wurde 1907 Parteifunktionär, gehörte während der Novemberrevolution 1918/19 dem sogenannten Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik an und vertrat die SPD im Parlament, bevor er 1924 zum Polizeipräsidenten von Köln und dann 1926 zum Polizeipräsidenten des neu gebildete Groß-Berlins ernannt wurde.
Um in der wachsenden und gespaltenen Metropole den Frieden zu wahren, verhängte Zörgiebel im Dezember 1928 ein erstes Verbot von Demonstrationen unter freiem Himmel, um eine Kundgebung von Adolf Hitler zu verhindern. Die preußische Regierung weitete das Verbot im März 1929 auf das gesamte Land aus, was Zörgiebel zum Anlass nahm, öffentliche Mai-Kundgebungen komplett zu verbieten. Die SPD und die mit ihr verbündeten Gewerkschaften akzeptierten diese Entscheidung und planten, den Tag mit Massenkundgebungen in geschlossenen Räumen zu begehen.
Das Maikomitee hingegen war fest entschlossen, wie üblich zu demonstrieren und befahl seiner Anhängerschaft, am Sonntag, den 28. April, in den Berliner Arbeitervierteln für die Demonstration zu mobilisieren. Die Kundgebung am 1. Mai würde friedlich verlaufen, betonten sie. Doch sie würden nicht zulassen, dass eine bürgerliche Regierung sie daran hindere, an ihrem heiligsten Tag auf die Straße zu gehen.
Wie in der Fernsehserie Babylon Berlin dargestellt, beruhten die Pläne für den 1. Mai bestenfalls auf einem Wunschdenken und schlimmstenfalls auf rücksichtslosen Wahnvorstellungen. Denn tatsächlich akzeptierten die meisten Arbeitenden die Weisung der Gewerkschaften. Obwohl das Komitee zweifellos eine gewichtige Kraft in der Bewegung der Arbeitenden war, repräsentierte es eine radikale Minderheit, die der KPD und verschiedenen linken Splittergruppen, die um sie kreisten, treu war, allen voran dem »Leninbund«, den ehemalige KPD-Funktionäre gegründet hatten. Die radikale Linke verfügte in keinem der Berliner Großbetriebe über eine Mehrheit und hatte kaum Chancen, entgegen des Verbots einen Generalstreik zustande zu bringen. Viele SPD-Wählende unterstützen zwar prinzipiell das Demonstrationsrecht der Kommunistinnen und Kommunisten, waren aber nicht bereit, sich einem massenhaften Protest anzuschließen.
Wenn also die Erfolgsaussichten praktisch bei null lagen, warum waren die Kommunistinnen und Kommunisten dann so erpicht darauf, eine Abwehrreaktion zu provozieren? Die jüngsten Entwicklungen an der Spitze der Partei und im Herzstück der kommunistischen Bewegung in der Sowjetunion dürften dazu beigetragen haben. Die KPD hatte sich unter ihrem neuen Anführer Ernst Thälmann, der mit Moskaus Rückendeckung ins Amt gebracht worden war, nur wenige Monate zuvor den Begriff der »Dritten Periode» zu eigen gemacht. Dieser bezog sich auf die neue historische Epoche, die auf den revolutionären Nachkriegsaufschwung und die anschließende wirtschaftliche Stabilisierung folgen sollte. In dieser Dritten Periode, so argumentierte Moskau, seien Revolutionen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Gemeinsames Handeln mit konservativeren Teilen in der Bewegung der arbeitenden Klasse galt als überkommen – nun war revolutionäre Entschlossenheit gefragt.
Die von der Führungsriege der Kommunistischen Internationale vertretene Position lautete, die Sozialdemokraten seien »Sozialfaschisten«, die dem Kapital und dem Faschismus Vorschub leisteten, indem sie die arbeitende Klasse besänftigen. Ihrer Auffassung nach wäre Deutschland längst eine sozialistische Republik, wenn die Sozialdemokratie nicht so konservativ und unentschlossen wäre. SPD-Mitglieder waren willkommen und wurden sogar ermutigt, sich an KPD-Aktionen zu beteiligen, aber nur als »Einheitsfront von unten«, also ohne ihre Führungskräfte. Meistens schreckte die aggressive Rhetorik der KPD potenzielle Sympathisantinnen und Sympathisanten jedoch ab und erhielt so die Spaltung der beiden Flügel der Bewegung der Arbeitenden aufrecht.
Das Draufgängertum der KPD mag im Nachhinein absurd erscheinen. Aber es passte zu den Erfahrungen vieler Menschen in der arbeitenden Klasse, die verfolgt hatten, wie eine SPD-Regierung Hand in Hand mit dem Militär zusammenarbeitete, um in den frühen 1920er Jahren in Deutschland Volksaufstände zu zerschlagen. Obwohl vielleicht zu simpel, war die Argumentation geradlinig und plausibel: Je mehr Arbeitende erkennen würden, dass die Riege der sozialdemokratischen Funktionäre politisch bankrott war, desto näher käme die arbeitende Klasse dem Sozialismus. Das Demonstrationsverbot für den 1. Mai war nicht nur ein Verrat an der sozialistischen Tradition, sondern bot auch eine ausgezeichnete Gelegenheit, die »Revisionisten« zu entlarven und mehr Arbeitende für den Kommunismus zu gewinnen.
Die Regierungsbilanz der Sozialdemokratie gab den Kommunistinnen und Kommunisten mehr als genug Anlass, um das Bekenntnis der Partei zum Sozialismus in Zweifel zu ziehen. Nachdem Berlin 1920 die umliegenden Vorstädte eingemeindet hatte, seine Größe verdoppelte und zur drittgrößten Stadt der Welt nach London und New York wurde, war es tief gespalten zwischen den bürgerlichen Milieus im Westen und Süden und den proletarischen, von SPD und KPD dominierten Vierteln im Osten und Norden.
Die Parteien der arbeitenden Klasse hatten von 1921 bis zu den letzten freien Wahlen im März 1933 eine knappe Mehrheit im Stadtparlament, aber die SPD regierte lieber mit Kräften rechts von ihr als mit den unberechenbaren und streitlustigen Kommunistinnen und Kommunisten. Zörgiebels Polizei schikanierte und attackierte die radikale Linke regelmäßig in der vom Zentristen Gustav Böß mit Unterstützung der SPD regierten Stadt. Obwohl Berlins Mitte-links-Regierung weit von den herausragenden Errungenschaften des Roten Wiens im benachbarten Österreich entfernt war, erließ auch sie einige positive Reformen, baute eindrucksvolle neue Siedlungen mit Sozialwohnungen wie Bruno Tauts Hufeisensiedlung und erweiterte das Angebot an öffentlichen Parks in der Stadt beträchtlich. Vom Sozialismus war man weit entfernt, aber für viele Arbeitende entspannte sich das Leben im Allgemeinen und die erdrückende Verzweiflung, die 1919 die Revolution als so notwendig erscheinen ließ, verflog.
Um dieses Minimum an Fortschritt zu erreichen, schloss die SPD jedoch einen Pakt mit dem Teufel. Nachdem sie bereits mit der damaligen herrschenden Klasse zusammengearbeitet hatte, um die von der deutschen Revolution ausgehenden radikaldemokratischen und sozialistischen Impulse zu zähmen, sorgte sie mit Hilfe der alten Armee und der Polizei für Ordnung. Als Hauptgegnerinnen und -gegner galten ihr dabei meist nicht die Rechten, sondern die Linken. Schließlich wurde die Nazipartei erst nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Oktober 1929 zu einer wirklichen Massenbewegung. Die KPD hingegen verfügte in den 1920er Jahren über Hunderttausende Mitglieder und hatte bereits mehrfach versucht, die Regierung gewaltsam zu stürzen.
Unfähig, die tödliche Bedrohung durch Hitlers Gefolgschaft zu erkennen, schienen beide Parteien der arbeitenden Klasse vor allem damit beschäftigt zu sein, sich gegenseitig daran zu hindern, den Aufbruch der arbeitenden Klasse zum Sozialismus zu sabotieren. Dieser wäre nach ihrem jeweiligen Verständnis nur unter der eigenen Führung möglich. Die strategischen Konsequenzen der ultralinken Dritten-Periode-Politik einerseits und der überaus zaghaften Politik der kleinen Schritte der SPD andererseits machten ein anderes Ergebnis praktisch unmöglich.
In den Monaten und Wochen vor dem 1. Mai 1929 kam es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen SPD und KPD. Die KPD schien zuversichtlich, dass die Geschehnisse des 1. Mai zu ihren Gunsten ausfallen würden. Sie druckte enthusiastische Meldungen über Solidaritätserklärungen aus Betrieben in der gesamten Stadt. Die SPD dagegen überschlug sich mit Warnungen vor kommunistischen Provokationen und forderte ihre Anhängerschaft auf, der Regierung zu gehorchen. Es mag der Selbstüberschätzung geschuldet gewesen sein oder einem Mangel an Selbstbewusstsein, jedenfalls gab die Kommunistische Partei Ende April die Falschmeldung bekannt, dass das Demonstrationsverbot aufgehoben worden sei. Am Tag selbst verkündete Die Rote Fahne ihrer Leserschaft:
»Die Kommunistische Partei, die den Reformismus in den mächtigsten Positionen geschlagen hat und in ihrem weiteren Vormarsch immer entscheidender schlagen wird, verwächst mit den breitesten proletarischen Massen zur unlösbaren, unbesiegbaren Einheit. Auf das Wellental zwischen zwei Wellen der Revolution, auf die Flaute, die sich den ersten stürmischen Kampfjahren der Nachkriegszeit anschloss, folgt ein neuer revolutionärer Aufstieg. Schon die ersten Signale verkünden den grollenden Donner des künftigen, revolutionären Orkans.«
Die am Vormittag abgehaltenen Gewerkschaftsversammlungen waren gut besucht. Die KPD plante ihre Veranstaltungen für den frühen Nachmittag. Eine Reihe kleinerer Demonstrationen formierte sich im Stadtzentrum, um dem Widerstand symbolisch Ausdruck zu verleihen. Wie groß diese waren, ist schwer zu benennen. KPD-Quellen meldeten eine »massenhafte Beteiligung«, während Berichten seitens der SPD zufolge einige Demonstrationszüge kaum fünfzig Teilnehmende verzeichnen konnten. Höchstwahrscheinlich zog die Partei wirklich nur in ihren traditionellen Hochburgen Wedding und Neukölln die Massen an, wo es später zu heftigen Kämpfen kam. Doch es scheint, als hätten sich durchaus auch sympathisierende Personen, die nicht Mitglied der Partei waren, wie auch linke Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten den Demonstrationen angeschlossen.
Was als friedliche Kundgebung hätte enden können, wurde zum Fiasko, als die Berliner Polizei – aufgehetzt durch die öffentliche Kontroverse und mit Erinnerungen an bewaffnete Aufstände der Arbeitenden im Hinterkopf – begann, auf Demonstrierende zu schießen. Etwa Tausend von ihnen jagte sie in andauernden Gefechten durch die Stadt. Die Polizei feuerte wild durch die Straßen und zielte dabei oft auf Fenster mit roten Fahnen. Dutzende wurden getötet und Hunderte weitere verletzt. Am frühen Abend hatten sich die meisten der Demonstrierenden in den Norden und Osten der Stadt zurückgezogen und begannen, improvisierte Barrikaden zu errichten – was in den Köpfen der Polizei und auf Seiten der Protestierenden gleichermaßen erneute Erinnerungen an die Revolution auslöste.
Das erste Opfer des Blutmai war Max Gemeinhardt, ein Bewohner des »roten« Weddings. Er war gerade von einer großen Kundgebung der SPD zurückgekehrt, als er sich aus dem Fenster lehnte, um zu sehen, was vor sich ging, und auf der Stelle durch den Kopfschuss eines Polizisten getötet wurde. Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, und die Kämpfe eskalierten auf beiden Seiten. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen im südöstlichen Stadtteil Neukölln, wo die Polizei mit Panzerwagen auffuhr.
Immer noch aufgewühlt von der Nacht zuvor, versuchte die KPD am 2. Mai erneut, einen Generalstreik gegen die staatliche Repression auszurufen. Er scheiterte. Selbst Die Rote Fahne gab zu, dass dem Aufruf nur 25.000 Menschen folgten. Tatsächlich dürften es noch weit weniger gewesen sein. Die ungeduldigen Straßenkämpfer des RFB beschlossen, zu drastischeren Mitteln zu greifen und begannen, spontane Überfälle auf die Polizei zu starten. Diese hielten noch einen Tag lang an, aber am 3. Mai flauten die Kämpfe ab. Die preußische Regierung verbot den RFB und die Polizei gewann die Kontrolle über die Stadt zurück.
Die KPD hatte allen Aussagen zufolge – mit Ausnahme ihrer eigenen – eindeutig verloren. Die Parteiführung bekundete öffentlich ihre Solidarität mit den spontanen Racheakten, betonte aber die eigenen friedlichen Absichten. Das Demonstrationsverbot wurde nicht aufgehoben, sondern verlängert. Insgesamt starben 33 Menschen, vor allem im Wedding, von denen nur eine Handvoll einer politischen Partei angehörte. Die meisten schienen lokale Sympathisierende oder unbeteiligte Zivilistinnen und Zivilisten gewesen zu sein, die ins Kreuzfeuer gerieten.
In den darauffolgenden Wochen stelle sich heraus, dass tatsächlich nie ein Aufstand geplant gewesen war. Die Polizei fand keine größeren Waffenverstecke und im Zuge der Unruhen verloren auch keine Polizeibeamten ihr Leben. Um die hohe Zahl der zivilen Opfer zu rechtfertigen, dramatisierte die Polizei die Gefahr, die von der KPD ausging, und stellte die Mai-Unruhen weiterhin als Kampf um Leben und Tod dar. Die Deutsche Liga für Menschenrechte untersuchte die Ereignisse und kam zu dem Schluss, die Polizei habe an einer kollektiven »Bürgerkriegspsychose« gelitten. Der SPD, die als politische Kraft zumindest formal für die Polizei zuständig war, kam diese Interpretation der Ereignisse mehr als entgegen und sie übernahm diese Erzählung. Der 1. Mai sei ein hässliches Geschehnis gewesen, aber notwendig, um das demokratische Berlin zu schützen.
Die KPD-Führung erklärte demgegenüber den Blutmai aus eigennützigen Motiven zu einem legendären Aufstand. Anstatt ihn als Folge ihrer dilettantischen Fehleinschätzung zu sehen, wurde das Ereignis als ein erstes Aufbegehren dargestellt, welches eine revolutionäre Welle lostreten würde. In den folgenden Monaten bäumte sich die Partei weiter auf und sagte weitere Aufstände voraus. Der 1. Mai sei nur ein »Teilerfolg« gewesen, räumte Thälmann ein, aber er habe die Grundstein für den nächsten explosiven gesellschaftlichen Ausbruch gelegt. Der Berliner Parteisekretär und spätere DDR-Chef Walter Ulbricht erklärte sechs Wochen nach der Konfrontation bei einem KPD-Kongress:
»Als Ergebnis dieser Kämpfe sehen wir gegenwärtig im Allgemeinen eine Steigerung der Kampfkraft der Arbeiter, selbst in den Fällen, wo keine unmittelbaren Erfolge für die kämpfenden Arbeiter erreicht wurden … Die Maikämpfe zeigen eine höhere Form des Kampfes als der Ruhrkampf. Das findet seinen Ausdruck darin, dass die Arbeiter das Demonstrationsverbot durchbrachen, dass sie, zum ersten Mal seit 1923, zur Anwendung der Waffe des politischen Massenstreiks übergingen, zur Abwehr des Polizeiterrors spontan Barrikade 11 bauten und eine Solidaritätsbewegung im Reiche durchführten.«
Der wirtschaftliche Zusammenbruch im Herbst desselben Jahres schien die kommunistische Überzeugung zu bekräftigen, dass kapitalistische Krisen und revolutionäre Aufstände bevorstanden. Die Partei brauchte eine Erzählung, mit der sie ihre Anhängerschaft motivieren konnte, und der 1. Mai 1929 wurde so zu einem zentralen Element im Narrativ der KPD vom Verrat der Sozialdemokratie und einem bevorstehenden kommunistischen Triumph.
Der Roman des populären Autors Klaus Neukrantz, Barrikaden am Wedding von 1931, der »dem unauslöschlichen revolutionären Andenken der 33 von der Polizei in den Maitagen 1929 Erschossenen« gewidmet ist, war ein beliebtes Werk unter den Berliner Kommunistinnen und Kommunisten und porträtierte den blutigen Mai als einen heroischen Aufstand, der direkt von der klugen leninistischen Führung der Partei inspiriert wurde.
Die SPD dienten Ereignisse wie die Mai-Unruhen als Rechtfertigung dafür, die KPD zu ächten und sogar mit dem Staatsapparat gegen sie zu arbeiten, bis in die 1930er Jahre hinein. Die Bedrohung durch die Nazis wuchs mit jedem Monat, aber keine der beiden Parteien zeigte sich bereit, die andere in gemeinsamen antifaschistischen Kämpfen zu unterstützen – bis es zu spät war. Die enttäuschten Hoffnungen der 1920er Jahre führten in vielerlei Hinsicht für beide Seiten in eine strategische Sackgasse. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten konnten sich keine sozialistische Ordnung vorstellen, die über allmähliche Veränderungen der bestehenden Staatsordnung hinausging. Und die Kommunistinnen und Kommunisten konnten sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass der Sozialismus durch etwas anderes als ihre eigene revolutionäre Machtergreifung entstehen könnte. Der Blutmai bestärkte die Überzeugungen auf beiden Seiten.
Zörgiebel verbrachte die Nazi-Zeit unter Überwachung der Gestapo, sein Pass wurde ihm entzogen. Er überlebte aber und verbrachte seine letzten Lebensjahre als prominenter und geachteter Bürger in Westdeutschland. Neukrantz wurde gegen seinen Willen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen und starb dort vermutlich 1941. Viele der Arbeitenden, die am 1. Mai 1929 auf die Straße gingen, erlitten sicherlich deutlich Schlimmeres.
Angesichts dessen, was folgte, war der Blutmai kein heroischer Kampf für den Sozialismus oder eine unerschrockene Verteidigung der Demokratie. Er war eine sinnlose und tragische Verschwendung von Leben und politischem Potenzial. Sie konnten es damals nicht wissen, aber die Kämpfenden auf Seiten der SPD und KPD waren 1929 wahrscheinlich näher an der Verwirklichung des Sozialismus in einem modernen kapitalistischen Land gewesen als jede andere sozialistische Bewegung davor und danach. Der schiere Schrecken, der darauf folgte, sollte uns eindringlich daran erinnern, worum es in unserer Bewegung geht, und warum es wichtig ist, dass wir gewinnen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Beitrags hieß es, die SPD sei seit 1921 in Berlin in einer zentristischen Koalition an der Regierung gewesen.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.