25. Oktober 2021
Ohne die Arbeitenden im Dienstleistungssektor läuft nichts. Dennoch wird der Beitrag, den sie leisten, verkannt: Der Arbeitsalltag ist hart, die Bedingungen prekär. Über die Leistungsträgerinnen unserer Gesellschaft und die Rückkehr der Klassenfrage hat JACOBIN mit der Soziologin Nicole Mayer-Ahuja gesprochen.
Kleine Belegschaften und kaum betriebliche Eingliederung: Die Organisierung der Beschäftigten im Dienstleistungssektor ist schwer.
Das Funktionieren unserer Gesellschaft ist maßgeblich von Arbeiterinnen und Arbeitern des Dienstleistungssektors abhängig. Ein großer Teil ihrer Arbeit bleibt jedoch im Verborgenen. Verkannte Leistungsträger:innen – Berichte aus der Klassengesellschaft heißt das von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey herausgegebene Buch, das die Arbeitsrealitäten dieser Beschäftigten aufbereitet. 22 Beobachtungen, Analysen und Interviews aus unterschiedlichen Berufsgruppen eröffnen einen Einblick in den Alltag und die Beschäftigungsbedingungen dieser Arbeitenden. Es entsteht das Bild eines hochdifferenzierten Sektors, der doch Verbindendes aufweist.
JACOBIN-Redakteur Jonas Junack hat sich mit Nicole Mayer-Ahuja über den Strudel der Prekarisierung und das Comeback der Klasse unterhalten.
Die Berufsfelder und Anstellungsverhältnisse innerhalb des Sektors sind so unterschiedlich, dass es manchmal kaum eine Verbindung zwischen den verschiedenen Geschichten zu geben scheint – was verbindet die Portraitierten dennoch?
Wir haben die Beschäftigten ausgewählt, weil ihre Arbeit die Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen sicherstellt. Das ist die Verbindung zur Diskussion über »Systemrelevanz«. 2008/2009 wurden ja noch das Finanzwesen, die Banken und die großen Unternehmen mit diesem Titel bedacht. Das hat sich mittlerweile geändert, weil man festgestellt hat: Selbst wenn man mit »System« nur das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem meint, müssen dennoch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, damit dieses System überhaupt funktionieren kann.
Unsere Portraitierten sind allesamt mit dem Herstellen dieser Voraussetzungen befasst. Aber es gibt noch mehr Verbindendes. Alle sind in Bereichen beschäftigt, in denen sehr prekär gearbeitet wird. Unsichere Verträge, befristete Beschäftigung, Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge sind der Standard. Und wir sehen Arbeitsrealitäten, die mit wenig betrieblicher Einbindung und kaum sozialer Anerkennung einhergehen.
Trotzdem wollten wir die Menschen nicht nur als Opfer der Verhältnisse porträtieren, sondern auch klar machen: Man kann sich organisieren. Das ist zwar in vielen der Arbeitsbereiche ganz schön schwer, weil Beschäftigte nicht lange in einem Betrieb tätig sind, kein stabiler Teil einer stabilen Belegschaft werden oder weil sie bei der Arbeit kaum anderen Beschäftigten begegnen. Aber man kann die Verhältnisse ändern.
Könnte man die Arbeit dieser Leistungsträgerinnen als das genaue Gegenteil der vielzitierten »Bullshit Jobs« bezeichnen?
Ja, das könnte man sagen. Wobei ich finde, dass wir uns auch die »Bullshit Jobs« nochmal genauer angucken müssen. David Graeber sagt, dass es sich dabei um Arbeiten handelt, die völlig sinnlos sind. Das stimmt für manche vermutlich auch. Trotzdem werden wir dort viele Beschäftigte finden, die gute Arbeit zu leisten, auf die sie stolz sein können. Da gibt es durchaus auch Parallelen zu den Leistungsträgerinnen. Nur die gesellschaftliche Nützlichkeit wäre eben anders zu bewerten.
Viele der Beschäftigten üben viele verschiedene Jobs aus, bleiben aber immer in diesem prekären Dienstleistungssektor. Ist aus der liberalen Erzählung von sozialer Mobilität, die ja vertikal funktioniert, heute eine horizontale Mobilität geworden? Viel Bewegung, aber kein Aufstieg?
Mein Kollege und Mit-Herausgeber Oliver Nachtwey spricht vom »Rolltreppen-Effekt«, also dem Versuch, auf einer Rolltreppe in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Ich glaube tatsächlich, dass es solche Verfestigungphänomene gibt. Es ist so, dass viele der Menschen, um die es in dem Buch geht, zwar nicht langfristig in einem bestimmten Job oder Betrieb verbleiben, aber im selben prekären Sektor.
Ihr beschreibt im Vorwort eine Prekarisierungsdynamik, die mit Steuersenkungen in den 1980er Jahren ihren Anfang nahm. Wie genau hängt beides miteinander zusammen?
Anfang der 1980er forderte Helmut Kohl: »Leistung muss sich wieder lohnen«. Man kann sagen, dass da in der bundesrepublikanischen Geschichte wirklich eine Wende stattgefunden hat. Die Jahre des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit waren vorüber, die Arbeitslosenzahlen stiegen. In Großbritannien und den USA schlugen Thatcher und Reagan einen neuen neoliberalen Kurs ein. Es folgten auch in Deutschland groß angelegte Steuererleichterungen. Im Grunde ging es darum, Unternehmen, Spitzenverdiener und Erben zu entlasten. Und das war ein Riesenproblem, weil der Staat dadurch massiv an Handlungsfähigkeit einbüßte. Der öffentliche Dienst schrumpfte. Dieser Trend setzte schon einige Jahre früher mit weitreichenden Privatisierungsprogrammen ein.
Gleichzeitig gingen mit dem Rückbau des öffentlichen Dienstes viele Jobs verloren. Das waren Stellen, die in der Nachkriegszeit so etwas wie eine Pionierstellung für gute Arbeit innehatten. Diese Jobs standen für Tarifbindung, steigende Löhne, Aufstiegsmöglichkeiten und eine starke kollektive Interessenvertretung. Auch diese Errungenschaften wurden mit dem Verlust dieser Stellen zurückgebaut. Durch den Ausbau von prekären Jobs, die Privatisierung und den Verzicht des Staates auf eine führende Rolle bei der Setzung und Verbreitung von Standards für sozial abgesicherte Lohnarbeit, hat sich für sehr viele Menschen ihre eigene Arbeitsleistung immer weniger gelohnt.
Wenn ich an die Plattformökonomie denke, frage ich mich, wie weit diese Dynamik noch gehen soll. Würdest Du sagen, das Ende der Fahnenstange ist in diesen Berufen erreicht?
Nein, leider lehrt die Erfahrung der letzten Jahrzehnte, dass man Prekarisierung immer weiter vorantreiben kann. Wir haben ja auch seit Jahrzehnten eine Politik, die sicherstellt, dass Jobs immer kleinteiliger werden. Wir dachten ja lange, dass mit Minijobs, die nicht in die Sozialversicherung einbezogen sind, der Tiefpunkt der Absicherung von Beschäftigten erreicht sei. Inzwischen boomen Bereiche der Ökonomie, in denen überhaupt keine Arbeitsverträge mehr abgeschlossen werden. Ich glaube, so lange man an dieser Politik nicht grundsätzlich etwas ändert, werden sich auch immer wieder neue Formen herausbilden, in denen prekäre Arbeit vorangetrieben werden kann.
Die klassische Industrie kommt im Buch nur am Rande vor. Welche Relevanz hat denn der Produktionssektor in der heutigen Klassengesellschaft noch und inwiefern unterscheiden sich die dortigen Verhältnisse von denen im Dienstleistungssektor?
Ich glaube, dass wir den industriellen Sektor in Deutschland in den letzten Jahrzehnten massiv unterschätzt haben. Wir haben ganz viel über den Trend zur Dienstleistungsgesellschaft geredet und dabei übersehen, dass es nach wie vor sehr viele Beschäftigte gibt, die in industriellen Bereichen arbeiten. Ich würde sagen, wir finden dort eine ganze Reihe von Beschäftigtengruppen, die unter Bedingungen arbeiten, die den Dienstleistungsbereichen sehr ähnlich sind.
Ein großer Unterschied zum Dienstleistungsbereich ist allerdings die längere Tradition von kollektiver Interessenvertretung. Wir haben teilweise doch relativ starke Industriegewerkschaften, die auch in den ausgelagerten Unternehmen noch eine Rolle spielen. Das ist im Dienstleistungsbereich oft anders. Außerdem haben die Beschäftigten dort weniger Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Organisierung. Und es macht einen großen Unterschied, in welchen betrieblichen Strukturen man sich bewegt. In vielen Industriebereichen gibt es vergleichsweise große Belegschaften, die sich im Arbeitsalltag begegnen. In Teilen des Dienstleistungsbereichs sieht die Situation schon anders aus.
Da reden wir über kleine betriebliche Strukturen, Friseurbetriebe zum Beispiel oder Reinigungsfirmen, die ihre Beschäftigten einzeln oder in Putzkolonnen in irgendwelche Objekte schicken.
Ein Kapitel, das mir sehr zu denken gegeben hat, ist das über die Ordensschwester Basilia. Sie ist Altenpflegerin und stützt sich bei ihrer Arbeit auf ein christliches Narrativ von Nächstenliebe und Religiosität. Als ich diesen Teil gelesen habe, fragte ich mich, wie wirkmächtig diese Moralisierung der Arbeit im Care-Sektor generell ist.
Ich weiß gar nicht, ob wir das christliche Motiv dafür brauchen, aber klar ist: Bei personenbezogenen Dienstleistungen finden wir immer diese Logik, dass Beschäftigte eben nicht nur für Geld arbeiten, sondern auch, um dem Gegenüber gerecht zu werden. Erzieherinnen fühlen sich für Kinder und deren Eltern verantwortlich, Beschäftigte im Gesundheitswesen für die Kranken oder Alten, die sie pflegen. Das gilt im Übrigen in allen Berufsfeldern. Wir haben sehr lange geglaubt, dass sich die Beschäftigten in diesen Bereichen deswegen nicht organisieren können.
Was wir aber in den letzten Jahren gesehen haben, ist, dass Beschäftigte ihren hohen professionellen Standards überhaupt nicht mehr gerecht werden können und daraufhin sagen: Wir müssen einen Arbeitskampf führen, um unsere Aufgaben überhaupt wieder angemessen erledigen zu können. Bessere Arbeitsbedingungen als Voraussetzung für eine angemessene Dienstleistung also, oder wie es an der Charité hieß: »Mehr von uns ist besser für alle«
Im Krankenhaus mag so eine Dynamik entstehen. Aber wie ist das in anderen Bereichen, wo die Beschäftigten noch viel isolierter sind? Die Friseurin Emine sagt beispielsweise im Buch, »sie sei traurig, weil kein Ende in Sicht sei«. Wie lässt sich so ein Organisierungsgrad auch in Berufsgruppen erreichen, in denen die Menschen in Kleinstbetrieben oder als Selbstständige arbeiten?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Wir sehen im Buch, dass viele Beschäftigte nach individuellen Auswegen suchen. Entweder wird sich da nach einem anderen Job umgesehen, wo die Arbeitsbedingungen besser sind, oder es wird versucht sich weiterzubilden, um bessere Konditionen zu bekommen. Es gibt da dieses sehr beeindruckende Interview mit einer jungen Frau, die eine duale Ausbildung im Sicherheitsgewerbe macht und daran die Hoffnung knüpft, dass sie dadurch bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld erhalten wird. Und beim Lesen weiß man schon: Das wird nicht passieren, weil es diese Jobs nicht gibt.
Doch dieser Punkt zeigt, dass viele der Portraitierten sich als Person in ganz schwierigen Lebensumständen überhaupt nicht aufgegeben haben. Vielleicht ist das die doppelte Botschaft des Buches: Die objektiven Bedingungen sprechen eindeutig dagegen, dass Verbesserungen eintreten, aber viele Beispiele belegen, dass es möglich ist, an bestimmten Sollbruchstellen in den Betrieben anzusetzen, um Bedingungen zu verbessern.
Im Buch geht es immer wieder auch um Anerkennung. Wie ist dieser Ruf nach Anerkennung im Verhältnis zum Wunsch nach mehr Lohn zu bewerten?
Ich würde sagen, das ist kein Gegensatz. Aber wir neigen in den letzten Jahren dazu, zu sagen: Anerkennung ist das, was nichts kostet.
Also Symbolpolitik.
Genau, Klatschen vom Balkon und so weiter. Was aber auch in der Coronapandemie nicht passierte, war eine substanzielle Aufwertung von Arbeit in Bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Ich glaube aber, genau das meinen die Beschäftigten, wenn sie von Anerkennung sprechen. Es geht darum, diesen Anerkennungsbegriff materiell zu unterfüttern.
Diese materielle Unterfütterung der Anerkennung passt gut zu Deiner Diagnose, dass die Klassenfrage zurückkehrt. Woran machst Du das fest?
In anderen europäischen Ländern ist die Erkenntnis, dass es Klassen gibt, deutlich weiter verbreitet als in Deutschland, wo es sehr unüblich ist, über Klasse zu sprechen. Das hat etwas mit einer sehr langen politischen Tradition zu tun. Mit dem Nationalsozialismus wurde ja die Losung ausgegeben, dass es keine Klassen gäbe, sondern die Volksgemeinschaft das »große gemeinsame Interesse« verfolgen muss. Das wurde dann in der Nachkriegszeit aufgenommen von Schelsky und anderen, die von der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« redeten. Im Grunde hieß die Diagnose: Die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft.
Das war natürlich damals schon Quatsch. Es gab eine enorme sozioökonomische Ungleichheit. Das wurde aber in den Jahren des wirtschaftlichen Booms dadurch in den Hintergrund gedrängt, dass die Löhne und Gehälter schnell stiegen und es in Bezug auf Karrieren, Bildung oder Konsum eine ziemlich weit verbreitete Aufstiegsdynamik gab. Doch diese Dynamik ist zum Halten gekommen. Die sozioökonomische Ungleichheit tritt plötzlich wieder in den Vordergrund.
Du hast gesagt, die Arbeiterinnen und Arbeiter würden oft innerhalb ihrer Betriebe und Arbeitsverhältnisse nach »Sollbruchstellen« suchen, um ihre Position zu verbessern und Arbeitskampf »im Kleinen« zu betreiben. Wenn Du nun von einer Rückkehr der Klassenfrage sprichst, frage ich mich, wie in so einem ausdifferenzierten Dienstleistungssektor ein Klassenbewusstsein entstehen kann, das die Friseurin mit der Arbeiterin in der Landwirtschaft oder der Fleischindustrie teilt.
Natürlich ist so ein übergreifendes Klassenbewusstsein alles andere als selbstverständlich. Die Unterschiede und auch die Konkurrenz untereinander sind ja real. Aber wenn wir uns anschauen, wie Klassenbildung in der Vergangenheit funktioniert hat, dann können wir einige Muster erkennen. Zum einen finden wir das Phänomen, dass die arbeitende Klasse wächst und gleichzeitig ihre Fragmentierung immer weiter voranschreitet. Differenz und Konkurrenz prägen die Klassengesellschaft.
Und dem wird etwas entgegengesetzt: Solidarität, also ein gemeinsames Eintreten für Interessen oder wie auch immer man es nennen mag. Heute sind wir in einer Situation, wo die arbeitende Klasse so groß ist wie noch nie. Innerhalb dieser Klasse gibt es enorme Unterschiede in den Arbeits- und Lebensbedingungen. Daraus folgt eine Polarisierung: Teile der arbeitenden Klasse werden dadurch abgesichert, dass andere Teile der arbeitenden Klasse immer prekärer arbeiten. Die Stammbelegschaften werden stabilisiert, indem man die Leiharbeiter bei der ersten Krise abmeldet. Diese Polarisierungstendenzen werfen natürlich die Frage auf, an welcher Stelle es nun Ansatzpunkte für ein übergreifendes Klassenbewusstsein gibt.
Paradoxerweise entsteht dieses Bewusstsein teilweise sogar durch die Fragmentierung: Im Krankenhaus begegnen sich Pflegerinnen, Reinigungs- und Logistikkräfte und sogar Menschen aus dem Sicherheitsdienst von völlig unterschiedlichen Unternehmen, aber mit ähnlichen Problemen, und sie kooperieren im Arbeitsprozess. Dann haben wir Menschen, die arbeiten in der Landwirtschaft als Saisonarbeiter, dann in der Fleischindustrie und anschließend im Amazon-Logistikzentrum. Die begegnen sich nicht unbedingt am einzelnen Arbeitsplatz, aber die Erfahrungen mit einem Teil des Arbeitsmarktes, der nach ähnlichen Regeln funktioniert, sind relativ weit verbreitet. Die schwierige Frage ist natürlich, ob das reicht. Ich glaube: Wenn Beschäftigte anfangen, sich für die eigenen Interessen einzusetzen, kann tatsächlich ein Klassenbewusstsein entstehen, was auch über die eigene Gruppe hinausgeht.
Nicole Mayer-Ahuja ist Arbeitssoziologin und lehrt an der Universität Göttingen.
Professorin für Arbeitssoziologie an der Universität Göttingen