08. September 2022
Das Phantasma einer Querfront spielt rechten Kräften in die Hände. Ob es ihnen gelingen wird, die Sozialproteste im Herbst für sich zu vereinnahmen, hängt auch davon ab, ob wir ihre Strategie durchkreuzen.
Linke Demonstration in Leipzig, 05. September 2022.
IMAGO / EibnerEs gibt keine Solidarität von rechts«, steht auf dem meterlangen Transparent, das Demonstrierende hochhalten. Sie stehen in Leipzig auf dem Augustusplatz, kurz vor dem Metallgitter, das die Kundgebung der LINKEN von der Kundgebung der rechten Splitterpartei »Freie Sachsen« trennt. Auf der einen Seite ertönen Appelle für solidarische Krisenlösungen, auf der anderen Rufe nach einer »Querfront«. Später versperren Sitzblockaden von Antifaschistinnen und Antifaschisten den »Freien Sachsen« den Demonstrationszug durch die Leipziger Innenstadt. Zornig müssen sie umkehren. Diese Szene vom vergangenen Montagabend ist nur eine erste Momentaufnahme. Sie sieht nicht schlecht aus, besagt aber noch wenig über das, was im Herbst und Winter andernorts folgen wird.
Ersichtlich wurde jedoch, dass sich die öffentlich herbeigeredete Querfront zwischen rechts und links auf der Straße nicht bildete. Im Gegenteil: das Bestreben des rechtsextremen Verlegers des Compact-Magazins, Jürgen Elsässer, und dessen Umfeld, einen Spaltkeil in die linke Protestbewegung zu treiben und die »soziale Frage« von rechts zu besetzen, entpuppte sich als erfolglos.
Im Ringen um die öffentliche Deutung des Protestgeschehens wird man Versuchen einer Gleichsetzung von links und rechts dennoch weiterhin beharrlich entgegentreten müssen.
In der aktuellen öffentlichen Bewertung von Sozialprotest lässt sich eine Entpolitisierung erkennen, die im Begriff des »Wutbürgers« ihren prominenten Ausdruck gefunden zu haben scheint. In Medien und Politik wird von einem »Wutwinter« gesprochen, die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hatte gar vor »Volksaufständen« gewarnt. Mit dieser Rhetorik werden Mobilisierungen zu Sozialprotesten schon stigmatisiert, bevor sie überhaupt richtig stattgefunden haben. Berechtigte Proteste gegen ungerechte Kostenverteilung werden in der öffentlichen Debatte mit der reaktionären Inanspruchnahme der sozialen Frage in einen Topf geworfen.
Politisch und medial wird wiederholt suggeriert, jeglicher Protest gegen die Krisenpolitik der Regierung sei »extremistisch«. »Linke und AfD machen sich bei ›heißem Herbst‹ Konkurrenz«, meldete etwa die Deutsche Presse-Agentur – ein Framing, das daraufhin von diversen regionalen und überregionalen Zeitungen direkt übernommen wurde.
Es stimmt zwar, dass sowohl Linke als auch extreme Rechte die soziale Notlage zum Anlass für Protestmobilisierungen nehmen – jedoch aus völlig unterschiedlichen Motiven. Der Begriff des »Wutbürgers« verunmöglicht diese Differenzierung jedoch.
Dabei hatte der Begriff ursprünglich eine ganz andere Stoßrichtung: Im Jahr 2008 war es die Tageszeitung taz, die in karikierender Absicht erstmals den Begriff des »Wutbürgers« journalistisch aufnahm, um damit die rechtspopulistische Partei »Bürger in Wut« auf die Schippe zu nehmen. »Wutbürger« meinte dort den rechten Hetzer im Gewand des bürgerlichen Spießers. Es ging keineswegs darum, Empörung über soziale Verwerfungen unter Generalverdacht zu stellen.
Empört euch lautete auch der Titel einer Streitschrift des verstorbenen französischen Diplomaten und Widerstandskämpfers gegen das NS-Regime, Stéphane Frédéric Hessel, aus dem Jahr 2010. Mit seiner Aufforderung zur Empörung mobilisierte er zum Protest gegen Rassismus, Ungleichheit und Sozialabbau. Und auch bei den Montagsdemonstrationen im Jahr 2004 gegen die Agenda 2010 hatte die Empörung gegenüber sozialer Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Prekarisierung eine solidarische Stoßrichtung.
Diese Beispiele zeigen: Mit der Figur des Wutbürgers wird dieser Tage eher gemäß der Hufeisentheorie eine generelle Gleichsetzung zwischen rechts und links etabliert, statt den Unterschieden zwischen den tatsächlichen Protesten und Forderungen Rechnung zu tragen. Das hilft im Zweifel dem Narrativ der Rechten.
Im Verlauf der Vielfachkrise hat sich die politische Rechte ausdifferenziert. Die klassischen extrem rechten Szenen haben sich im Laufe der Corona-Proteste mit Milieus aus der Esoterik-, Spiritismus- und Anthroposophen-Szene wie auch mit politisch orientierungslosen Kreisen verbunden – mit Milieus also, die ursprünglich mehrheitlich nicht dem organisierten Rechtsextremismus entstammen, sondern über Verschwörungsglauben neue Allianzen gefunden haben.
Dazu trat ein weiteres verbindendes Element, das der ungarische Philosoph Georg Lukács als »romantischen Antikapitalismus« bezeichnete: eine antimaterialistische und antimoderne Kapitalismuskritik, die gleichermaßen antiintellektuell und antidemokratisch ist. Diese Form des Antikapitalismus habe, so Lukács, in der Vorzeit des Faschismus einer »autokratischen Diktatur« den Boden bereitet.
Parallel zu der Herausbildung neuer rechter Szenen während der Corona-Pandemie, began sich die AfD an diese rechten Protestszenen anzunähern. Inzwischen hat sich die Partei zu einem Kristallisationspunkt und parteipolitischen Dach des extrem rechten Lagers in Deutschland entwickelt.
Die Wahlniederlagen, die die AfD seit Anfang 2020 einstecken musste und der Mitgliederschwund, der sie um ein Siebtel schrumpfen ließ, hatten viele Ursachen. Dazu zählen die stetige Radikalisierung der Partei, die ihr die Beobachtung durch den Verfassungsschutz bescherte, wie auch ihre interne Zerstrittenheit. Ebenso ausschlaggebend war jedoch, dass ihre ursprünglichen Standardthemen – Euro, Flucht, Islam – in der Öffentlichkeit, aber auch in der eigenen Klientel an Bedeutung verloren.
Auch der Versuch, neue Themen zu setzen, offenbarte die internen Bruchlinien und konnte den Negativtrend an den Wahlurnen nicht hinreichend ausbremsen. Das galt letztlich auch für ihre Positionen zu Corona, wo die AfD zwischen Verleugnung und Verharmlosung schwankte. Es galt aber ebenso auch für die grundsätzliche Standortbestimmung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine, wo putinfreundliche Positionen auf Forderungen nach einer Militarisierung und Hochrüstung Deutschlands trafen.
Energiekrise und Inflation sollen die AfD nun wieder auf die Gewinnerstraße bringen. Die angekündigte Kampagne eint eine ansonsten zerstrittene Partei, und sie bietet die Chance, auf der Straße ein Bündnis mit anderen Gruppen und Personen der extremen Rechten zu suchen, so wie es der Partei in den Hochzeiten von Pegida schon einmal erfolgreich gelungen ist. Angesichts der Gaskrise sowie steigender Energie- und Verbraucherpreise habe sich ein »perfekter Sturm« zusammengebraut, sagte der stellvertretende AfD-Fraktionschef Leif-Erik Holm im Bundestag. Bereits Ende April startete die AfD eine Kampagne mit dem Titel »Die Preistreiber stoppen. Jetzt!«.
Die Schuldigen für Inflation und Preissteigerungen sind in der Erzählung der AfD schnell ausgemacht: Bundesregierung, Europäische Union und Europäische Zentralbank. Mit einem 45-minütigen, professionell gestalteten Film flankiert die AfD-Bundestagsfraktion gegenwärtig ihre Kampagne: »Teuro total – Deutschland am Limit«. Unter dem Vorwand der Inflationsbekämpfung verfolgt die Partei ihre alte Agenda.
Ihre Bundestagsfraktion meint: »Gezielte Ausgabenkürzungen in den Haushaltskapiteln zur Außen-, Entwicklungs-, EU-, Migrations- und Klimapolitik sowie bei den fragwürdigen Energie- und Verkehrswendeausgaben der Ampelkoalition würden eine kurzfristige Rückkehr zur ›Schwarzen Null‹ im Bundeshaushalt ermöglichen.« Der AfD-Sozialpolitiker René Springer kritisiert im Fraktionsfilm »Fantasieprojekte«, für die Geld vorhanden sei, während »die eigenen Bürger vom Staat im Stich gelassen« würden. Und der Finanzpolitiker Kay Gottschalk fordert – ein wenig verklausuliert – niedrigere Sozialleistungen. Kombiniert wird die Inflationskampagne mit der Ablehnung einer Energiewende, der Forderung nach einer Renaissance der Atomkraft und dem Bekenntnis zu Gas-Geschäften mit Russland.
An eben dieser Forderung wird es auch für die politische Linke brenzlig: Martin Sellner, Aktivist der Identitären Bewegung, demonstrierte kürzlich für eine Öffnung von Nordstream II – eine Forderung, die zur Deeskalation mit Russland auch unter Linken zu vernehmen ist. In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, die ersehnte Querfront in dieser Frage nicht zuzulassen und für das berechtigte Anliegen der Energiesicherheit eigene, solidarische Antworten zu formulieren.
In ökonomischen Krisenzeiten wird die soziale Frage zum heiß umkämpften politischen Feld, in dem sowohl linke wie auch rechte Kräfte um Einfluss ringen. Empörung in Krisenzeiten über sozialpolitische (Spar-)Maßnahmen ist nicht per se politischen Lagern zuzuordnen, sondern vielmehr als politisches Handlungsfeld zu verstehen, in dem sich politische Linien herausbilden.
Deshalb darf die gesellschaftliche Linke dieses Terrain nicht der (extremen) Rechten überlassen. Vielmehr muss die Unterscheidung zwischen links und rechts eindeutig sein: Linke Kräfte müssen einen Block aus Parteien, Bewegungen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden bilden, der die Forderung nach solidarischen Verhältnissen, gleichen Rechten und Umverteilung mit einer unmissverständlichen Gegnerschaft zur extremen Rechten verbindet.
Die Proteste am vergangenen Montag waren ein Zeichen dafür, dass das gelingen könnte. Doch es wird Beharrlichkeit vonnöten sein, um diese Abgrenzung in allen politischen Forderungen, in den Protesten auf der Straße und im Alltag der Menschen deutlich zu markieren. Und es wird auch darauf ankommen, sich nicht von Medien treiben zu lassen, die unentwegt eine politische Nähe zwischen linker und rechter Empörung unterstellen und jeglichen sozialen Protest delegitimieren. Eine selbstbewusste, solidarische Linke ist das beste Rezept gegen eine Vereinnahmung der sozialen Frage von rechts.
Alexander Häusler und Rainer Roeser haben den Werdegang der AfD seit deren Bestehen kritisch-publizistisch begleitet. Gemeinsam veröffentlichten sie unter anderem Die rechten ›Mut‹-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der »Alternative für Deutschland« (VSA-Verlag, 2015) sowie für den DGB die Studie »Die AfD vor der Bundestagswahl«.
Alexander Häusler und Rainer Roeser haben den Werdegang der AfD seit deren Bestehen kritisch-publizistisch begleitet. Gemeinsam veröffentlichten sie unter anderem Die rechten ›Mut‹-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der »Alternative für Deutschland« (VSA-Verlag, 2015) sowie für den DGB die Studie »Die AfD vor der Bundestagswahl«.