24. Januar 2024
Die Pandemie hat gezeigt, wie fragil Europas öffentlicher Sektor nach Jahren des Sparens geworden ist. Trotzdem bringt der Europäische Rat jetzt wieder strengere Haushaltsregeln auf den Weg, die Kürzungen in Höhe von rund 100 Milliarden Euro vorsehen.
EU-Kommisionspräsidentin Ursula von der Leyen übt sich in Sparsamkeit.
Nach einer vierjährigen Pause haben die europäischen Regierungen und Institutionen – darunter auch die sozialdemokratischen Parteien des Kontinents – beschlossen, die Sparpolitik wieder aufzunehmen und für das nächste Jahr Haushaltskürzungen von bis zu 100 Milliarden Euro vorzuschreiben. Dies ist ein weiterer Angriff auf die Arbeiterklasse, die dadurch mit Arbeitsplatzabbau, sinkenden Gehältern, schlechteren Arbeitsbedingungen und einer weiteren Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors konfrontiert wäre.
Das haben wir schon einmal erlebt. Die Folgen des Wirtschaftscrashs im Jahr 2008 gaben Anlass zu einer Welle von Sparmaßnahmen in Europa, da die Mitgliedstaaten die Hauptlast der Finanzkrise und der staatlichen Eingriffe zur Rettung der Banken zu tragen hatten. Im Jahr 2010 war Griechenland gezwungen, harte Sparmaßnahmen zu ergreifen. Dies löste eine Widerstandsbewegung aus, die 2015 zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Syriza-geführten Regierung und den europäischen Institutionen führte.
Mehrere weitere europäische Länder, darunter Spanien, Portugal, Irland und Italien, setzten ebenfalls Austeritätsprogramme um. Dies erwies sich als verhängnisvoll: Die Sparmaßnahmen bedeuteten eine Mittelkürzung für wichtige öffentliche Dienstleistungen wie das Gesundheits- und Bildungswesen und die Sozialhilfe. Das wirkte sich sowohl auf die Verfügbarkeit als auch auf die Effizienz aus: Man hatte nun längere Wartezeiten bei Arztpraxen, überfüllte Schulklassen und eingeschränkten Zugang zu Sozialhilfe und Sozialleistungen.
Diese Sparmaßnahmen führten nicht nur zu sozialer Verelendung, sondern verschlimmerten und verlängerten auch die Krise in Europa. Die Erholung des Kontinents nach der Finanzkrise 2008 verlief wesentlich langsamer als etwa in den USA. Als die Corona-Pandemie Europa traf, wurde die Unterfinanzierung des Gesundheitswesens für alle sichtbar. Die Notwendigkeit, eine große Anzahl von Wirtschaftssektoren zu unterstützen, führte zu einer raschen Aussetzung der Sparmaßnahmen durch die Aktivierung der Ausweichklausel im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Zwischen März 2020 und Juni 2021 genehmigte die Europäische Kommission staatliche Beihilfen in Höhe von über 3 Billionen Euro, um den Anforderungen der Gesundheitskrise gerecht zu werden und betroffene Unternehmen zu unterstützen. Darüber hinaus wurde ein 750 Milliarden Euro schweres europäisches Konjunkturpaket mit dem Namen »Next Generation EU« auf den Weg gebracht, um die wirtschaftliche Erholung der Mitgliedstaaten zu unterstützen. Gemeinsame europäische Anleihen sollten die Sicherheit der Verbindlichkeiten mit einem Triple-A-Rating garantieren.
Doch die Atempause war nur von kurzer Dauer. Im Dezember 2023 einigte sich das Treffen der europäischen Finanzminister darauf, die Haushaltsregeln in leicht überarbeiteter Form wieder einzuführen. Darauf hatte die Europäische Kommission – die nicht demokratisch gewählte Exekutive der EU – seit Jahren gedrängt. In der vergangenen Woche stimmte auch das Europäische Parlament, das nur über begrenzte Kompetenzen verfügt, einer Reform und Wiedereinführung der Haushaltsregeln zu. Dies geschah im Rahmen eines Bündnisses, das sich nicht nur aus rechten und liberalen Parteien zusammensetzt, sondern auch die aktive Unterstützung der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion genießt, die behauptet, für den Aufbau eines »sozialen Europas« zu stehen.
Die neuen Vorschriften hätten katastrophale Folgen. Der Europäische Gewerkschaftsbund schätzt, dass die EU-Mitgliedstaaten gezwungen sein könnten, ihre Haushalte im nächsten Jahr um insgesamt mehr als 100 Milliarden Euro zu kürzen. Die Staaten könnten beantragen, die Kürzungen über einen Zeitraum von sieben Jahren zu strecken. Dies wird jedoch nur im Gegenzug für die Zusage harter »Reformen« der Rentensysteme, der Arbeitsmärkte und der Lohnbildungsmechanismen erlaubt werden. Die Flexibilität der Vorschriften wird auch vom guten Willen der Europäischen Kommission abhängen – oder besser gesagt, von der Verhandlungsmacht des jeweiligen Landes. Das bedeutet, dass kleinere Mitgliedstaaten schlechtere Aussichten auf Erfolg haben.
Die Rückkehr zur Austerität wird unweigerlich überall zu erheblichen Kürzungen im öffentlichen Sektor führen. Zumal Ausnahmen für einige Bereiche gemacht werden – insbesondere für Militärausgaben. Auf diese Weise wird die Austerität auch die anhaltende Militarisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft verstärken. In meinem Heimatland Belgien könnte sie auch das System der automatischen Lohnindexierung gefährden. Heute gleicht dieses System den inflationsbedingten Kaufkraftverlust der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer teilweise aus. Aber im Rahmen des laufenden Haushaltsverfahrens hat die Europäischen Kommission dies wiederholt kritisiert.
In der Zwischenzeit haben die Verhandlungen zwischen den drei wichtigsten europäischen Institutionen begonnen, um ihre jeweiligen Positionen anzugleichen. Die belgische Regierung, die gegenwärtig den rotierenden Vorsitz der EU innehat, spielt bei diesen Verhandlungen eine Schlüsselrolle. Belgien könnte in Europa einen echten Unterschied machen, wenn es sich gegen diese Regeln ausspricht. Für die Arbeiterklasse in der gesamten EU wäre dies die einzige richtige Entscheidung.
»Für die Mehrheit der Menschen fühlt sich dies weniger wie das Projekt einer demokratischen Union an, als vielmehr wie eine Zwangsjacke, die systematisch die Interessen der Bosse auf Kosten der europäischen Arbeiterschaft fördert.«
Außerdem befinden sich unter den Mitgliedern des Europäischen Parlaments, die gegen die neuen Regeln gestimmt haben, vier der sieben Parteien, die die jetzige belgische Koalitionsregierung bilden. Theoretisch müsste sich die belgische Regierung also gegen die Sparmaßnahmen aussprechen. Das wäre äußerst wichtig. Wenn das Land, das den rotierenden Ratsvorsitz der EU innehat, beschließt, die Austeritätsagenda zu verschieben, zu verzögern oder zu sabotieren, dann stünde der Weg zu ihrer Abschaffung weit offen.
In der Praxis jedoch scheinen die grünen und sozialdemokratischen Parteien Belgiens unter einer eigentümlichen Form von politischer Schizophrenie zu leiden. Unter dem Druck nicht nur der Gewerkschaften, sondern auch der aufstrebenden belgischen Partei der Arbeit stimmten sie in einer öffentlichen Parlamentsabstimmung, bei der ihre Stimme nicht ausschlaggebend war, gegen die neuen Regeln. Aber hinter verschlossenen Türen – innerhalb der belgischen Regierung, wo sie tatsächlich Macht haben –, unterstützen sie die Neuregelung voll und ganz.
Die Chance, die Austeritätsmaßnahmen zu begraben, sollte man sich jedoch nicht entgehen lassen. Ein aktueller Bericht von Oxfam hat die enormen Gewinnüberschüsse großer Unternehmen und den Reichtum einiger weniger sehr wohlhabender Personen aufgezeigt. Laut dem Europäischen Barometer für Prekarität und Armut von 2023 hat fast ein Drittel der Menschen in Europa das Gefühl, dass sie sich derzeit in einer prekären finanziellen und materiellen Situation befinden. Ähnlich viele gaben zu, dass sie schon einmal eine Mahlzeit ausfallen lassen mussten, obwohl sie hungrig waren.
Wir brauchen mehr staatliche Investitionen in öffentliche Dienstleistungen, Wohnraum, Infrastruktur und die Bekämpfung des Klimawandels. Die Umsetzung einer fairen Steuerpolitik, die auf Großunternehmen und Millionäre abzielt, kann Teil der Finanzierungslösung sein. Gleichzeitig kann ein großes europäisches Investitionspaket, das von der Europäischen Zentralbank und den Investitionsbanken unterstützt wird, dazu beitragen, strukturelle Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen zu überwinden.
Es ist nicht das erste Mal, dass nicht gewählte europäische Institutionen eingreifen, um EU-Mitgliedstaaten Kürzungen und Sparmaßnahmen aufzuerlegen. In der Tat ist dies Teil des Musters der Austerität, die von oben auferlegt wird und nicht nur den Lebensstandard, sondern auch das europäische Projekt selbst aushöhlt. Für die Mehrheit der Menschen fühlt sich dies weniger wie das Projekt einer demokratischen Union an, als vielmehr wie eine Zwangsjacke, die systematisch die Interessen der Bosse auf Kosten der europäischen Arbeiterschaft fördert.
Arbeitende Menschen in Europa können sich Austerität nicht leisten, und sie können sich keine EU leisten, die ihnen Austerität aufzwingt. Wir brauchen ein Europa mit einem ehrgeizigen Programm für öffentliche Investitionen. Es ist noch nicht zu spät – aber die Abschaffung der Sparmaßnahmen erfordert eine kontinuierliche Mobilisierung und einen klaren Bruch mit der bisherigen Politik.
Marc Botenga ist Europaabgeordneter der belgischen Partei der Arbeit (PTB).