17. Oktober 2023
Das politische Projekt der europäischen Rechten ist ein rassistischer Festungskapitalismus. Den Preis für das Fortbestehen des Kapitalismus sollen die Geflüchteten an Europas Außengrenzen mit ihrem Leben bezahlen.
Migranten in einem Lager südlich von Vilnius im August 2021. Die meisten von ihnen kamen als Touristen nach Minsk, überquerten die polnische Grenze und versuchten, Deutschland oder Frankreich zu erreichen, bevor sie in Litauen festsaßen.
IMAGO / ScanpixIm Juni ereignete sich die schwerwiegendste Schiffskatastrophe der letzten zehn Jahre auf dem Mittelmeer: 600 Menschen starben bei dem Versuch, von Libyen aus die EU in einem völlig überfüllten Fischerkahn zu erreichen. Überlebende berichten davon, wie die griechische Küstenwache mit ihrem dilettantischen Versuch, das Schiff abzuschleppen, zu der Katastrophe beitrug. Ohnehin sind die Todeszahlen auf dem Mittelmeer in diesem Jahr in die Höhe geschossen. Die UN verzeichnete für das erste Halbjahr 2023 so viele Todesfälle wie seit 2017 nicht mehr: fast 2.000 Menschen starben. Seit 2014 waren es insgesamt mehr als 27.000. Die Dunkelziffer ist vermutlich noch weitaus höher.
Gerettet wird unterdessen nur noch von zivilen Schiffen privater Organisationen wie Sea-Watch. Staatliche Rettungsmissionen gibt es keine mehr. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fordert vielmehr eine Ausweitung der Überwachung von Migration über das Mittelmeer und die faschistische Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, will eine europäische Mission zur Migrationsabwehr.
Wer es entgegen aller Widerstände nach Europa schafft, ist aber längst nicht gerettet, sondern gerät in einen Strudel von Bürokratie, Kriminalisierung und Lagerhaft. Auf den griechischen Ägäisinseln wird seit dem Brand des Lagers auf Moria im Jahr 2020 erprobt, was bald auch im europäischen Maßstab umgesetzt werden soll: Auffanglager, die Hochsicherheitsgefängnissen gleichen. Bis zu ihrer Registrierung sind Asylsuchende hier häufig wochen- oder monatelang faktisch inhaftiert. Abgesehen davon mangelt es in den Lagern an allem: an psychologischer und gesundheitlicher Versorgung, an Nahrungsmitteln, an Schatten.
Auch die Situation an der belarussisch-polnischen Grenze spitzt sich immer weiter zu. Die Hilfsorganisation Grupa Granica vermeldete im Juni bereits das 46. Todesopfer. Die belarussische Regierung setzt Geflüchtete gezielt im Grenzgebiet aus, polnische Sicherheitskräfte reagieren mit illegalen Pushbacks. Und auch in den polnischen Lagern herrschen so menschenunwürdige Bedingungen, dass Insassen zuletzt in den Hungerstreik traten, um dagegen zu protestieren.
Anders als die abgestumpften Debatten hierzulande suggerieren, sind diese Verhältnisse an den Außengrenzen weder Naturkatastrophen noch Ausnahmen von der Regel, sondern sie gehören zum Kalkül europäischer Migrationspolitik. Das Sterben ist in der Strategie der Abschottung vorprogrammiert.
Der europäischen Rechten sind 2023 gleich mehrere realpolitische Erfolge in der Migrationspolitik gelungen: Mit dem Beschluss auf einem EU-Gipfel im Februar gelang es, mehr Mittel für »Infrastruktur« an der Grenze bereitzustellen, sprich mehr Zäune, Mauern, Überwachungstechnik, Fahrzeuge. Außerdem wurde die Verschärfung des EU-Asylrechts beschlossen und das bedeutet erleichterte Abschiebung in Drittstaaten, Asylverfahren in Lagern an der Grenze und damit Aushebelung des Rechts auf Asyl durch die »Fiktion der Nicht-Einreise«. Die Lager zählen dann formell, ähnlich wie die Transitzonen an internationalen Flughäfen, noch nicht zu europäischem Staatsgebiet. Nicht zu vergessen das neueste Abkommen mit Tunesien: im Gegenzug zu wirtschaftlicher Förderung soll das nordafrikanische Land bei der Migrationsbekämpfung helfen. Das rechte Projekt der Abschottung ist spätestens jetzt vollständig hegemonial geworden: Auch die Ampelregierung hat – nicht ohne die obligatorischen »Bauchschmerzen« – der eklatanten Asylrechtsverschärfung auf EU-Ebene zugestimmt.
»Die Regulation sozialer Probleme, die sich durch die kapitalistischen Widersprüche ergeben, vor allem als ein sicherheitspolitisches Problem zu betrachten, steht in bester neoliberaler Tradition.«
Der Globale Norden setzt aber nicht nur auf Abschottung, sondern verdreht zugleich den Diskurs um Fluchtursachen: Entwicklungsgelder fließen unter dem Motto der Fluchtursachenbekämpfung in immer größerem Maße in militärische und sicherheitspolitische Projekte oder werden an die Kondition geknüpft, dass die Staaten sich an der Migrationsbekämpfung beteiligen. Die EU-Außengrenzen werden auf das Gebiet von Transitländern externalisiert.
Dass sich in den nächsten Jahren weniger Menschen entscheiden werden, ihre Heimat in Richtung Europa zu verlassen, ist jedoch unwahrscheinlich, ganz egal wie sehr die EU aufrüstet. Allen gegenwärtigen Krisenerscheinungen voran macht der Klimakollaps ganze Landstriche unbewohnbar. Neue Blockkonfrontationen führen zu Kriegen und Instabilität. Und auch die weltweite Ernährungskrise spitzt sich immer weiter zu. All diese Krisen verstärken sich gegenseitig und führen dazu, dass Menschen vertrieben werden und ein unbändiges – und zutiefst berechtigtes – Begehren nach Bewegungsfreiheit entwickeln.
Abschottung hat noch nie dazu geführt, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen und das Märchen, man würde mit laxer Grenzpolitik Pull-Faktoren schaffen, gilt schon lange als widerlegt. Alle Versuche, die Migration zu kontrollieren, sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Überall dort, wo eine Mauer gebaut wird, bahnen sich die Entschlossenen einen Weg drumherum.
Trotzdem forderte zuletzt Alice Weidel auf dem AfD Parteitag die »Festung Europa zum Schutz unserer Heimat«. Es geht den Rechten dabei nicht nur um die Verteidigung eines vermeintlich abgeschlossenen kulturellen Raumes, sondern auch darum, den Fortbestand des globalen Kapitalismus zu sichern. Das politische Projekt, auf das die europäische Rechte hinauswill, ist der Festungskapitalismus.
Die eigenwilligen Bewegungen der Migration, gegen die sich der Globale Norden abzuschotten versucht, sind (auch) auf strukturelle Krisen der kapitalistischen Akkumulation zurückzuführen, die sich seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 verschärft haben: Die technologische Entwicklung hat für die Entstehung einer Masse an für die Kapitalverwertung »überflüssigen« Menschen in der globalen Peripherie gesorgt, schon bestehende Krisen der Ernährung, Urbanisierung und die zerstörerischen Folgen des Klimawandels spitzen sich im globalen Maßstab zu.
Hinzu kommen neue Stellvertreterkonflikte und ein militärisches und geopolitisches Kräftemessen, das nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent ausgetragen wird. Der Festungskapitalismus ist einerseits der Versuch, die kapitalistischen Strukturwidersprüche zu regulieren, indem man die Folgen neokolonialer Ausbeutung externalisiert und mit militarisierten Grenzen das »Weiter so« im Globalen Norden garantiert. Andererseits zielt er als politisches Hegemonieprojekt eines rechts-konservativen Blocks darauf ab, das ehemals dominante Projekt des Neoliberalismus abzulösen. Denn dieses ist nicht mehr in der Lage, gesellschaftliche und globale Hegemonie zu organisieren.
Wenn es im globalisierten Neoliberalismus überhaupt jemals darum ging, durch die Ausweitung des Freihandels und der Entwicklungshilfe weltweites Wachstum und Wohlstand und damit soziale Stabilität herzustellen, so bedeutet die Verschiebung hin zur Abschottung das historische Scheitern dieser Politik. . Das kapitalistische Zentrum ist nicht (länger) in der Lage, die von ihm verursachten Krisen, Gewaltausbrüche und Zerstörungen durch Militäreinsätze einzudämmen, geschweige denn, mit marktwirtschaftlichen Mitteln in ihren Ursachen zu bekämpfen. Das rechte Hegemonieprojekt im Globalen Norden setzt lediglich auf repressive Elemente, um die Auswirkungen des Katastrophenkapitalismus im Außen zu halten. Die entstehenden »Zonen der Unsicherheit« werden sich selbst überlassen. Das regulative Vorhaben, die sozialen und natürlichen Voraussetzungen der globalen Ausbeutungsverhältnisse zu (re)produzieren, wird aufgegeben.
»Die erhöhte Bedeutung, die der Grenze und den Sicherheitsorganen im Festungskapitalismus zukommt, beschränkt sich nicht mehr darauf, ein globales System der Arbeitsteilung aufrechtzuerhalten.«
Mit dem Projekt des Festungskapitalismus wendet sich die Rechte aber nicht einfach ab von jeglicher neoliberaler Logik. Im Gegenteil: Die Regulation sozialer Probleme, die sich durch die kapitalistischen Widersprüche ergeben, vor allem als ein sicherheitspolitisches Problem zu betrachten, steht in bester neoliberaler Tradition. Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Nordamerika und in Europa die sozialen Sicherungssystemen und der Wohlfahrtsstaat abgebaut wurden, intensivierte man zugleich die Strafverfolgung der Armen und Prekarisierten. Das prominenteste Beispiel dafür ist, wie die USA in den 1970er und 80er Jahren ihr Gefängnissystem ausbauten und daraufhin die Zahl der (in der Mehrzahl nicht-weißen) Gefängnisinsassen massiv anstieg. Der Festungskapitalismus steht also auch für eine globale Radikalisierung der neoliberalen Sicherheitslogik.
Allein aus den Verwerfungen und der strukturellen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus lässt sich das Projekt der Abschottung aber nicht erklären. Die zentrale Rolle, die der Rassismus dabei spielt, das Sterbenlassen zu ermöglichen, bleibt dabei unterbelichtet. Denn: Es sind nicht irgendwelche Länder, die von Gewalt, Klimakatastrophen oder Hunger zerrüttet sind; es sind ehemalige Kolonien europäischer Staaten. Es sind auch nicht irgendwelche Menschen, die aus diesen Ländern fliehen und an den EU-Außengrenzen sterben, sondern es sind rassifizierte Menschen, die von der westlichen Welt ausgestoßenen »Anderen«. Das Projekt des Festungskapitalismus wurzelt auch in Formen kolonialer Souveränität.
Die Mobilität des globalen und insbesondere des rassifizierten Proletariats zu kontrollieren, spielt im Kapitalismus seit jeher eine wesentliche Rolle. So gehörte es im 16. Jahrhundert zu den Aufgaben der entstehenden europäischen Polizeien, den Zwang zur Lohnarbeit durch die Kriminalisierung von Landstreicherei und Untätigkeit durchzusetzen, sowie kapitalistische Eigentumsverhältnisse zu verteidigen, indem man arme, dissidente Bevölkerungsgruppen einsperrte. Teil davon sind beispielsweise die rassistische Verfolgung und Versuche der Immobilisierung von Sinti und Roma, die sich bis heute fortsetzen.
Polizeigewalt, die sich gegen arme und rassifizierte Menschen richtet, ist auch heute noch keine brutale Ausnahme, sondern eine grundlegende Form der alltäglichen Disziplinierung. Im Kapitalismus hat die Polizei außerdem die Aufgabe, die rassifizierten »Anderen« aus den nationalen Sozialsystemen rauszuhalten. Die Grenze, die Polizei und das Gefängnis führten als Instrumente der Regulation also stets wichtige Funktionen aus.
Europäische Sicherheitsregime und die Institutionen der Polizei und des Gefängnisses können nicht getrennt von ihren kolonialen Ursprüngen betrachtet werden. Wie die Abolitionistin Vanessa Thompson schreibt, wurden in den Kolonien »Kategorisierungs-, Sicherheits-, Überwachungs- und Kontrolltechniken entwickelt, die oft als Vorläufer für die zu polizierenden in den kolonialen Metropolen dienten«. Vor allem das »Einfangen, Verschleppen, Produktivmachen und Überwachen« von Sklavinnen und Sklaven kann als Ausgangspunkt und Erprobungsfeld zahlreicher polizeilicher Techniken interpretiert werden, die später auch in Europa Anwendung fanden. Dazu gehören beispielsweise Passsysteme, Arbeitslager, Hausdurchsuchungen oder Versammlungsverbote.
Auch im globalen Maßstab ist die Kontrolle über migrantische Arbeit und die Mobilität oder Immobilität rassifizierter Arbeitskräfte für den Kapitalismus zentral: der Handel mit Sklavinnen und Sklaven von den Küsten Afrikas, chinesische und indische Arbeitskräfte als Kulis, das »blackbirding« (dem Einfangen von Indigenen zur Zwangsarbeit) im Pazifik, die nicht immer freiwillige Ansiedlung des europäischen Proletariats in den Kolonien. Während mit dem Ende des Kolonialismus Mitte des 20. Jahrhunderts die bis dahin üblichen Zwangsmittel entfielen, musste rassifizierte Arbeitsteilung und die Kontrolle der Mobilität des internationalen Proletariats nun mit anderen Mitteln gewährleistet werden, wobei die Abschottung der ehemaligen kolonialen Zentren an Bedeutung gewann.
Die erhöhte Bedeutung, die der Grenze und den Sicherheitsorganen im Festungskapitalismus zukommt, beschränkt sich nicht mehr darauf, ein globales System der Arbeitsteilung aufrechtzuerhalten. Es geht heute vielmehr darum, massenhaften Tod zu organisieren – den Tod derer, die für das Kapital nicht länger von Nutzen sind. Legitimiert werden kann das Sterben nur durch die rassistische Abwertung der Toten. Wie sonst ließen sich diese Zustände aushalten, geschweige denn verteidigen?
»Egal in welchem Gewand der Festungskapitalismus daherkommt: Migration ist nicht aufzuhalten«
Der Philosoph Achille Mbembe verfolgt diese Form der europäischen Souveränität zurück bis zu den Sklavenplanatagen der Kolonien, in die der Kapitalismus seine ursprüngliche Gewalt auslagert. Mbembe bezeichnet diese Art der Herrschaft als »Nekropolitik«. Damit meint er, dass politisch Orte geschaffen werden, an denen Menschen ständig der Gefahr des Todes ausgesetzt sind. Solche Verhältnisse finden sich heute vor allem in den Lagern auf den griechischen Inseln und an der belarussischen Grenze, wo Geflüchtete unter unmenschlichen Bedingungen ihr Dasein fristen.
Auch das Mittelmeer als »größter Meeresfriedhof des Jahrhunderts« ist ein solcher nekropolitischer Raum. Neben den unwürdigen Verhältnissen in den Lagern und dem Sterben auf dem Mittelmeer produziert die europäische Nekropolitik aber auch Todeszonen weit außerhalb der territorialen Grenzen der EU: Sicherheitspolitische Abkommen mit Staaten entlang der Fluchtrouten durch die nordafrikanische Sahara, – wie zuletzt mit Tunesien – verwandeln seit Jahrhunderten genutzte Migrationswege in unüberwindbare Zonen des Sterbens.
Wie die neueste Studie von Border Forensics zeigt, ging auch in der nigrischen Wüste die Zahl der Toten in die Höhe, seitdem Niger im Jahr 2015 den Transport von Migrantinnen und Migranten auf Druck der EU verboten hat. Die Grenze wird so nicht nur zu einem Instrument tödlicher Entsorgung der als überflüssig abgestempelten Menschen, sondern weitet sich auch kontinuierlich aus.
Das heuchlerische neoliberale Lager wird weiterhin Diversität auf dem Arbeitsmarkt loben und damit die sich auf Unterschiedlichkeit stützende, differentielle Ausbeutung voranzutreiben. In einvernehmlichem Kompromiss mit den Rechten werden die Neoliberalen den Fachkräftemangel beklagen und darauf pochen, die Grenze als durchlässige, aber nicht weniger tödliche Maschinerie zur Regulation von Arbeitskraft zu nutzen. Auch im Festungskapitalismus muss die Grenze zumindest selektiv durchlässig bleiben, um billige Arbeitskräfte bereitzustellen. Der Kompromiss zwischen neoliberalen und rechtem Lager hat sich in der Frage der Durchlässigkeit in den letzten Jahren jedoch massiv zu Gunsten der letzteren verschoben.
Die linke Gegenposition besteht darin, das Recht zu gehen und zu bleiben zu verteidigen. Niemand darf daran gehindert werden, seine Heimat zu verlassen, niemand soll dazu gezwungen sein. Einerseits müssen wir angesichts der Grausamkeit des Sterbens an den Außengrenzen für sichere Fluchtwege und offene Grenzen einstehen. Andererseits müssen wir Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen. Das bedeutet, dem Klimawandel mit effektiven Maßnahmen zu begegnen, Waffenlieferungen einzustellen und Stellvertreterkriege zu unterbinden, neokolonialistische Ausbeutung und asymmetrische Freihandelsabkommen zu beenden.
Egal in welchem Gewand der Festungskapitalismus daherkommt, ob mit dem rassistischen Getöse Melonis oder der Bauchschmerzen-Heuchelei der Grünen und der SPD: Migration ist nicht aufzuhalten. Mehr rassistische Abschottung bedeutet nur mehr Sterben, aber nicht die Lösung der globalen Probleme, vor denen wir tatsächlich stehen. Insofern stehen wir vor der Wahl: Die Fortsetzung des neokolonialen Sterbenlassens oder eine radikal andere Welt.
Raul Rosenfelder hat in Frankfurt am Main Politikwissenschaften und Geschichte studiert und ist Praktikant beim JACOBIN.