26. April 2022
Der Wahlausgang in Frankreich war weniger ein Erfolg für Macron als ein Votum gegen Le Pen. Damit ist das Ergebnis vor allem ein Symptom der tiefgreifenden sozialen Spaltung des Landes.
In Brüssel und Berlin war man sichtbar erleichtert. Kaum flimmerten die ersten Ergebnisse der französischen Präsidentschaftswahlen über den Bildschirm, twitterten die europäischen Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker ihre Glückwünsche für den alten und neuen Präsidenten Emmanuel Macron in die Welt. Die Umfragen hatten ein enges Rennen um den Elysée-Palast vorausgesagt, zeitweise lag die rechtsradikale Kandidatin Marine Le Pen nur 2 Prozentpunkte hinter Amtsinhaber Macron. Anders als noch 2017 hatte Le Pen öffentlich keinen Austritt aus der Europäischen Union gefordert. Doch spätestens im TV-Duell nach der ersten Runde wurde deutlich, dass ihr »Europa der Vaterländer« nichts anderes bedeuten würde als eine neue »Politik des leeren Stuhls«, also eine Blockade der EU, wie sie einst Charles de Gaulle Mitte der 1960er Jahre betrieben hatte. Zugleich hatte sie im Wahlkampf das deutsch-französische Bündnis in der EU grundlegend infrage gestellt.
Macron erklärte die Präsidentschaftswahl in eben jenem TV-Duell dementsprechend zu einem »Referendum über Europa«. Europäische Spitzenpolitiker warben für die Wiederwahl Macrons – etwa die sozialdemokratischen Regierungschefs aus Deutschland, Spanien und Portugal. Ein Novum und vor dem Hintergrund vergangener französischer Referenden über die EU – man erinnere sich etwa an die Abstimmung über die Europäische Verfassung – nicht ganz ungefährlich. Allerdings spielte diese Dynamik auch der Wahlkampfkommunikation des Präsidenten in die Hände, der sich als Vorkämpfer für Weltoffenheit und die europäische Integration inszenieren konnte und damit in der Öffentlichkeit als Gegenpol zum Nationalchauvinismus von Marine Le Pen wahrgenommen wurde. Dieses Narrativ hatte Macron bereits in seinem ersten Wahlkampf mobilisiert und es erlaubte ihm, von der tiefen Krise des politischen Systems zu profitieren.
Das Wahlergebnis ist alles andere als ein klares Votum für die herrschende Politik und das politische System der Fünften Republik. Vielmehr offenbart sie einen anhaltenden Umwälzungsprozess der französischen Politik, der in den tiefgreifenden ökonomischen und ideologischen Umbrüchen der 1970er Jahren seinen Anfang nahm und der das Land wortwörtlich spaltet. Die Globalisierung sowie der politische Aufstieg der sogenannten Modernisten – eine marktliberal geprägte Verwaltungselite – hatten die Deindustrialisierung und Finanzialisierung der französischen Wirtschaft zur Folge, die zuvor noch einem »Staatskapitalismus« mit starker staatlicher Regulierung glich.
Der Niedergang der Industrie und der Wandel der staatlichen Politik führten nicht nur zu hoher Arbeitslosigkeit und einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit in den ehemals industriell geprägten Gebieten im Norden Frankreichs, sondern erschütterten auch den Mythos des umsorgenden Staates zutiefst. Insbesondere seit den 2000er Jahren vermittelten die zahlreichen Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die zentrale Botschaft, dass die staatliche Politik die Ansprüche der Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann und will.
Die Abstiegsgesellschaft, wie sie Oliver Nachtwey für Deutschland analysierte, existiert ebenso in Frankreich. Aus dem Fahrschuhl des sozialen Aufstiegs ist eine abwärtsfahrende Rolltreppe geworden. Kontroll-, Perspektiv-, und Traditionsverlust sind inzwischen breit geteilte Erfahrungen, auch in weiten Teilen der Mittelschichten. Der Bruch von sozialen Versprechen, die jahrzehntelang mit dem Staat assoziiert wurden, hatte zugleich eine Delegitimierung von politischen Strukturen zur Folge. Das politische System der Fünften Republik implodierte, was wiederum den kometenhaften Aufstieg Emmanuel Macrons im Jahr 2017 erst ermöglichte.
Die damaligen Wahlen offenbarten eine tiefe Repräsentationskrise und fegten die beiden ehemaligen Volksparteien, die sozialdemokratische Parti Socialiste (PS) und die gaullistische Les Républicains, hinweg. Das tiefe Misstrauen in die politische Klasse, die Entfremdung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten zeigte sich zudem in einer der niedrigsten Wahlbeteiligungen in der Geschichte der Fünften Republik.
Die gestrigen Wahlen haben die Krisen der französischen Gesellschaft ein weiteres Mal an die Oberfläche gebracht. Die Wahlbeteiligung wurde in der zweiten Runde mit 72 Prozent nochmals unterschritten – niedriger war sie nur 1969, als die Kommunistische Partei die Wahlen boykottierte. In Relation zu den Enthaltungen und ungültigen Stimmen erscheint auch der Wahlsieg von Macron deutlich weniger eindrucksvoll. Die Kandidierenden der ehemaligen Volksparteien PS und Les Républicains scheiterten krachend in der ersten Runde. Sie konnten zusammen nicht einmal mehr 7 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Insbesondere die PS erreichte mit der in Paris beliebten Bürgermeisterin Anne Hidalgo gerade einmal 1,7 Prozent und damit ein solch desaströses Ergebnis, dass die 117-jährige Geschichte der Partei von Francois Mitterand und Lionel Jospin damit ihre Ende erreicht zu haben scheint. Und auch die Gaullisten scheinen zunehmend überlebt. Ihr schlechtes Wahlergebnis wird mittelfristig zu einem weiteren Aderlass an Funktionären führen, auch wenn die Partei lokal weiterhin gut verankert ist.
Die Wahlergebnisse zeigen zudem, dass Macron es in den letzten fünf Jahren nicht geschafft hat, die grundlegenden Krisen wirklich anzugehen. Zwar hat er die Deindustrialisierung des Landes als wesentliches Problem erkannt und auch die Arbeitslosigkeit gesenkt, seine Politik hat allerdings weitgehend die angebotspolitischen Bahnen seiner Vorgänger nicht verlassen. Mit seiner Politik der Steuererleichterungen und Arbeitsmarktflexibilisierungen, haben die Unsicherheit, soziale Ungleichheit und auch die Armut weiter zugenommen. Zugleich profitierte das reichste 1 Prozent der Bevölkerung am meisten von der fünfjährigen Amtszeit Macrons, insbesondere von der Einkommenssteuerreform und der Abschaffung der Immobilienvermögenssteuer. Seine zentralen politischen Projekte – die Rentenreform, die Arbeitsmarktreform und die ökologische Modernisierung der Wirtschaft – zementierten die soziale und geographische Spaltung des Landes.
Dementsprechend offenbarte die Präsidentschaftswahl bereits 2017 eine politische Zerrissenheit, die sich geographisch in einer Spaltung zwischen Norden und Westen, Stadt und Land widerspiegelte. Während Marine Le Pen insbesondere in jenen Regionen punkten konnte, die von den ökonomischen Transformationsprozessen am schwersten betroffen sind, war Macron in den Metropolen und wirtschaftlich starken Regionen erfolgreich. Auch 2022 wurde diese Spaltung bestätigt. In großen Städten holte Macron durchschnittlich mehr als 70 Prozent, in den ländlichen Gemeinden dagegen nur durchschnittlich 50 Prozent. Allein im Großraum Paris, der bevölkerungsdichtesten Region Frankreichs, stimmten 73 Prozent für Macron; 2017 waren es sogar 90 Prozent. In Paris selbst konnte Macron dieses Jahr 85 Prozent und in der Bretagne im Westen des Landes 67 Prozent für sich gewinnen.
Zugleich blieb Marine Le Pen vor allem im Norden und Osten des Landes stark. Hier holte sie auch ihre bestes Ergebnis (ohne die Überseegebiete): In Aisne, einem Departement an der Grenze zu Belgien, wählten 59,9 Prozent, im Nachbar-Departement Pas-Des-Calais 57,5 Prozent die Kandidatin der rechtsradikalen Rassemblement National. Während Le Pen 2017 allerdings nur in diesen beiden Departements die Nase vorn hatte, konnte sie dieses Mal insgesamt 23 Departements für sich entscheiden. Le Pen konnte vor allem in der Fläche hinzugewinnen. Dabei sticht vor allem der Süden heraus, der 2017 noch stärker in der Hand von Emmanuel Macron war.
Was sich in der geographischen Spaltung bereits andeutet, bestätigen auch die Nachwahlbefragungen hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts ELABE ist Emmanuel Macron vor allem von Rentnerinnen und Rentnern (72 Prozent ) und höheren Angestellten (71 Prozent) gewählt worden, während Arbeiterinnen und Arbeiter (54 Prozent ) und Arbeitslose (68 Prozent) ihr Kreuz mehrheitlich bei Marine Le Pen gemacht haben. Insgesamt haben nach Angaben von Harris Interactive vor allem die wohlhabenden Schichten der französischen Gesellschaft Macron gewählt, während die »Classes populaires«, also die einkommensschwachen Schichten, für Le Pen stimmten. Wie schon 2017 blieb Marine Le Pen in der Stichwahl die Kandidatin der arbeitenden Klasse.
Für die erste Runde der Präsidentschaftswahlen trifft dieses Bild jedoch nicht zu. Zwar gewann Marine Le Pen auch hier die Mehrheit der Stimmen der »Classes populaires«, allerdings nur knapp vor dem linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon. Sein grandioser dritter Platz in der ersten Runde war eine der Überraschungen der Präsidentschaftswahlen und basierte nicht zuletzt auf den Stimmen der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der niedrigen Angestellten, das zeigte sich vor allem in den großen Städten mit mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Mit einem Ergebnis von 21,95 Prozent bekräftigte er seinen Führungsanspruch innerhalb des linken Lagers und die Notwendigkeit linker Politik. Das in der ersten Runde insgesamt sechs linke Kandidierende ins Rennen zogen, veranschaulicht das Dilemma der französischen Linken: Die konkurrierenden linken Wahlantritte hatten letztlich den Einzug Mélenchons in die Stichwahl verhindert. Es fehlten am Ende knapp 500.000 Stimmen, wobei allein der kommunistische Kandidat Fabien Roussel knapp 800.000 auf sich vereinigen konnte.
Mit Blick auf die Parlamentswahlen gilt es, diesen Fehler nicht noch einmal zu wiederholen. Die Präsidentschaftswahlen haben gezeigt, dass Mélenchon die linken Wählerinnen und Wähler der PS weitgehend absorbieren konnte. Im Süden des Landes und in den Überseegebieten konnte er seinen Stimmenanteil erheblich ausweiten und in großen Städte wie Toulouse, Montpellier oder Marseille in Führung gehen. Aber auch im Westen und Norden des Landes konnte er deutliche Zugewinne verzeichnen, vor allem in jenen Städten, die früher Hochburgen der Sozialdemokratie waren. So überraschten seine Siege in Straßburg und Lille. In Rennes gelang es ihm sogar, die 40-jährige Vorherrschaft der Sozialistischen Partei zu brechen.
Dass vor allem die Wählerinnen und Wähler Mélenchons, aber auch der Grünen auf ihre Stimmabgabe in der zweiten Runde verzichtet oder aber nur gewählt haben, um Marine Le Pen zu verhindern, zeigt, dass der Wunsch nach einer klaren Alternative zu Macron und Le Pen groß ist. Das ist erstmal ein gutes Zeichen in Hinblick auf die bevorstehenden Parlamentswahlen im Juni. Hier hat Mélenchon zur Gründung einer eigenen Liste unter dem Namen Union populaire (Volksunion) aufgerufen. Eine geeinte linke Liste könnte die Gewinnerin der Parlamentswahl werden, auch weil Mélenchon die Wahlen zur dritten Runde der Präsidentschaftswahlen erklärt hat. »Wir haben Marine Le Pen verhindert, nun geht es darum Macron die Macht zu nehmen«, erklärte er und kündigte an, sich vom neuen Parlament zum Premierminister wählen lassen zu wollen. Auch wenn dies primär ein Wahlkampftrick ist, um seine Wählerinnen und Wähler zu den Parlamentswahlen zu mobilisieren, so hätte eine vereinigte linke Liste durchaus die Chance, das derzeit herrschende Narrativ zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus aufzubrechen und die soziale Frage wieder ins Zentrum der Politik zu stellen.
Felix Syrovatka ist Postdoktorand an der Freien Universität. 2016 erschien sein Buch zur »Reformpolitik Frankreichs in der Eurokrise« bei SpringerVS.
Felix Syrovatka ist Politikwissenschaftler und Redakteur der »PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften«.