25. März 2025
Wenn sogenannte Liberale von Freiheit sprechen, dann wollen sie Wirtschaftseliten von demokratischer Kontrolle befreien. Das Ausscheiden der FDP eröffnet der Linken jetzt eine Chance, den Begriff der Freiheit für die arbeitende Mehrheit zurückzugewinnen.
Christian Lindner verschwindet langsam aber sicher von der Bildfläche. Aber ein neuer Stern der Freiheit ist im Aufstieg begriffen – ist es vielleicht die Linkspartei?
Die FDP hat nach verlorener Schlacht das bundespolitische Feld geräumt. Es ist eine bittere Niederlage für Christian Lindner und Co., die im linken Lager bereits für einige Genugtuung gesorgt hat. Aber es könnte noch besser werden: Die wiedererstarkte Linkspartei hat es in der Hand, daraus eine historische Niederlage für die vermeintlich liberalen Fans von Sozialabbau und Deregulierung zu machen. Dazu muss sie die »Liberalen« nur bei ihrem Wort nehmen – das heißt beim Begriff der Freiheit.
Der »Zwangssteuern-abschaffen«-Philosoph Peter Sloterdijk mahnte schon vor der Wahl: »Ein Parlament, aus dem eine Partei, deren zentrales Motiv die Freiheit ist, ganz verschwunden ist, wäre in meinen Augen keine glaubwürdige Verkörperung eines demokratischen Gemeinwesens mehr.« Dies ist ein bemerkenswerter Satz. Denn Sloterdijk hat damit gleichzeitig eine tiefe Wahrheit und einen großen Unsinn ausgesprochen.
Erst der Unsinn: Ein demokratisches Gemeinwesen hat keinen Grund, eine Partei zu vermissen, deren Mission es ist, die ohnehin schon eingeschränkten Möglichkeiten demokratischer Willensdurchsetzung durch eine Politik des »Können wir uns nicht leisten« noch weiter einzuschränken. Gerade unter dem Demokratie-Gesichtspunkt ist das Ausscheiden der FDP komplett in Ordnung.
Jetzt die Wahrheit: Demokratie ohne Freiheit ist praktisch undenkbar – vorausgesetzt, man versteht unter Freiheit, dass Menschen nicht Sklaven oder Untertanen, sondern Bürger sind. Wie die Ideenhistorikerin Annelien de Dijn in ihrem Buch Freedom: An Unruly History feststellt, war genau das einst das vorherrschende Verständnis von Freiheit: »Jahrhundertelang haben westliche Denker und politische Akteure Freiheit nicht damit identifiziert, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, sondern damit, Kontrolle über die Art und Weise auszuüben, wie man regiert wird.«
Freiheit und Demokratie waren von der griechischen Antike an praktisch gleichbedeutend, bis sich konterrevolutionäre Denker nach der Französischen Revolution den Freiheitsbegriff aneigneten und seinen Sinn verdrehten: Freiheit bestünde darin, die Macht des sich demokratisierenden Staates zu beschränken. »Eine Idee«, so kommentiert de Dijn, »die frühere Freiheitskämpfer sicherlich verblüfft hätte.«
»Die Welt zu verändern ist nach ›wirtschaftsliberaler‹ Auffassung letztendlich ein Privileg der Unternehmerklasse.«
Die neuen Bizarro-Freiheitskämpfer haben sich vielfach auch den revolutionären Gestus der Demokratiebewegung angeeignet, auch wenn sie in Wirklichkeit für die Erhaltung einer zutiefst undemokratischen ökonomischen Ordnung streiten. Der Slogan der FDP zur Bundestagswahl ist dafür ein Paradebeispiel. »Alles lässt sich ändern« – das kann natürlich nur ein Witz sein, wenn es von dieser Partei kommt: Alles lässt sich ändern – außer natürlich die Schuldenbremse und dass die Reichen steuerlich bevorteilt werden und dass sich Staaten im internationalen Wettbewerb vor dem privaten Kapital in den Staub werfen müssen.
»Alles lässt sich privatisieren« wäre ehrlicher gewesen, denn die Welt zu verändern ist nach »wirtschaftsliberaler« Auffassung letztendlich ein Privileg der Unternehmerklasse. Das kann man heraushören, wann immer FDPler behaupten, nur private Investoren wüssten, wo Geld gut angelegt ist, und nur private Unternehmen, welche Technologien Zukunft haben. Für Schwerhörige macht es Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei überdeutlich, wenn er Unternehmern in aller Welt zuruft: »Ihr seid die wahren Protagonisten in dieser Geschichte.«
Wenn es nach solchen »Liberalen« geht, leben wir nicht im demokratischen, sondern im unternehmerischen Zeitalter. Soll der Bundestag wirklich eine »glaubwürdige Verkörperung eines demokratischen Gemeinwesens« werden, ist der Rausschmiss der FDP ein guter erster Schritt. Als Nächstes braucht es eine Partei, die den privatisierten Wert der Freiheit wieder vergesellschaftet und beansprucht, dass die arbeitende Mehrheit, also das Volk, die Protagonistin der Geschichte zu sein hat.
Am Tag nach der Bundestagswahl titelte die New York Times mit Bezug auf den Überraschungserfolg der Linkspartei: »Liberals Surprise in Germany«. Der im US-amerikanischen Mainstream vorherrschende Sprachgebrauch, unterschiedslos alle politischen Positionen links von Erzkonservativen als »liberal« zu bezeichnen, wirkte auf den deutschen Kontext angewandt besonders blödsinnig und wurde schleunigst korrigiert.
Die etwas andere Konnotation ist das Relikt einer Periode in der US-Geschichte, in der Marktradikale den Freiheitsbegriff vorübergehend an Sozialreformer verloren hatten. Präsident Franklin D. Roosevelt erklärte im Jahr 1944: »Wir sind zu der klaren Erkenntnis gelangt, dass echte individuelle Freiheit ohne ökonomische Sicherheit und Unabhängigkeit nicht existieren kann.« Eine Politik, die in die Wirtschaft eingriffe, um unter anderem »das Recht auf nützliche und auskömmliche Arbeit« und »das Recht jeder Familie auf ein anständiges Zuhause« zu garantieren, würde die wirtschaftliche Freiheit des Volkes nicht mindern, sondern steigern.
In den USA kann längst wieder die Unternehmerklasse ihr Interesse, sich nicht von der demokratischen Mehrheit reinreden zu lassen, als wirtschaftliche Freiheit verkaufen – und das weitestgehend unwidersprochen. Aber auch diesseits des Atlantiks hat die Linke den Freiheitsbegriff rechts liegen lassen.
»Das Ziel muss sein, dass Zeitungen sich irgendwann dem Gelächter preisgeben, wenn sie Leute vom Schlag Lindners als ›Liberale‹ bezeichnen.«
Dabei verstand sich die Arbeiterbewegung lange Zeit offen als Befreiungsbewegung. Noch im Jahr 1961 formulierte der IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner: »Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt.« Nach der »gewerkschaftlichen Idee der Freiheit« müsste neben den Freiheitsrechten der politischen Demokratie auch die »Mitbestimmung der arbeitenden Menschen über die Verwendung ihrer Arbeitskraft und der von ihnen geschaffenen Werte« gestärkt werden.
Jetzt, wo die FDP aus dem Bundestag ausgeschieden ist, hat die Linke, die sich als Partei der arbeitenden Menschen neu zu profilieren sucht, eine Gelegenheit, den Unternehmerliberalen den Freiheitsbegriff zu entreißen. Sie kann dabei an das uralte demokratische Verständnis von Freiheit, an die von Roosevelt artikulierte Erkenntnis und das von Brenner in Worte gefasste Wissen anschließen. Sie kann Angriffe auf den Sozialstaat und auf Errungenschaften der Arbeiterbewegung als freiheitsfeindlich anprangern und neue, weiterreichende Forderungen in Namen der wirtschaftlichen Freiheit der arbeitenden Mehrheit erheben.
Das Ziel muss sein, dass Zeitungen sich irgendwann dem Gelächter preisgeben, wenn sie Leute vom Schlag Lindners als »Liberale« bezeichnen. Fürs Erste wäre es aber schon nicht schlecht, den Wunsch von FDP-Apologeten wie Sloterdijk, es dürfe keinen Bundestag ohne eine Partei der Freiheit geben, in einer Weise zu erfüllen, wie sie es sich in ihren schlimmsten Träumen nicht ausmalen könnten.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.