31. Januar 2025
Friedrich Merz benutzt die AfD, um die verbliebene Macht von SPD und Grünen zu neutralisieren. Aber sein machtstrategisches Kalkül ist ein Spiel mit dem Feuer: Denn die Unterstützung der AfD wird nicht kostenlos bleiben.
Friedrich Merz vor der AfD-Fraktion im Bundestag, 29. Januar 2025.
77 Tage. Dies kann jetzt also offiziell als erwartbare Lebensdauer für die Versprechen von Friedrich Merz gelten. Wie unter vielen anderen auch Angela Merkel in Erinnerung rief, sagte Merz ausweislich des Plenarprotokolls am 13. November im Deutschen Bundestag: »Wir sollten mit Ihnen, den Sozialdemokraten, und Ihnen, die Grünen, vereinbaren, dass wir nur die Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben, sodass weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt.«
Es handelte sich in Merz eigenen Worten dabei keineswegs um ein Zugeständnis an die Parteien der früheren Ampelkoalition, deren Platzen eine Woche zuvor mit der Folge fehlender klarer Mehrheiten im Parlament das Statement des CDU-Vorsitzenden überhaupt provozierte: »Diese Verabredung möchte ich Ihnen ausdrücklich vorschlagen, meine Damen und Herren. Denn das hätten diese Damen und Herren von rechts außen doch gerne, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen, und sei es mit Ihnen von den beiden Minderheitsfraktionen bei der Bestimmung der Tagesordnung. Wir wollen das nicht. Ich hoffe, Sie sehen das auch so, liebe Kolleginnen und Kollegen.«
Am 29. Januar kümmerte Friedrich Merz sein Geschwätz von gestern nicht mehr. Glasklar kalkuliert brachte er dank Zustimmung von FDP und AfD sowie Enthaltung des BSW einen Entschließungsantrag durch den Bundestag. Sein Vorgehen ist ein Signal an SPD und die Grünen, seine möglichen Koalitionspartner. Merz macht ihnen bereits vor der Wahl klar, wer »Koch« und wer »Kellner« in einer künftigen gemeinsamen Regierung sein darf. Zugleich spricht er damit, ohne sie direkt zu adressieren, auch die AfD an und lädt die rechtsextreme Partei so dazu ein, der Union auch künftig als Mehrheitsbeschafferin zu dienen, sollte es ihm in einer Koalition einmal zu viel werden mit Einwänden und Beratungsbedarf.
»Der eiskalt zynische Tabubruch des CDU-Kanzlerkandidaten reiht sich ein in die Serie längst eingestürzter »Brandmauern« gegenüber radikal rechten Parteien in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien oder Skandinavien.«
Merz richtet sich aber auch an seine eigene Partei und schwört sie auf Linientreue ein – wohlwissend, dass auf allen Ebenen bis in die kleinsten Kommunen CDU- und CSU-Mitglieder auf diesen Dammbruch angesprochen werden. Etliche Christdemokraten und Christsoziale müssen sich nun entscheiden, ob sie in einer Union, die ein Zusammenwirken mit der AfD in Kauf nimmt, noch Mitglied sein können und wollen. Schließlich adressiert der Kanzlerkandidat der Union auch die Bevölkerung. Mit seinem eiskalten Schachzug testet er die politischen Gewässer dahingehend, wie viel politischer Widerspruch ihm seitens der medialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eliten entgegenschlägt und ob der Gegenwind ihm politisch ernsthaft schaden kann. Kommt er politisch ungeschoren davon, so viel ist klar, wird dies nicht die letzte Abstimmung gewesen sein, bei der sich die Union auf Zustimmung der AfD verlässt.
77 Tage später und keine fünf Stunden, nachdem im Rahmen einer Gedenkstunde der Holocaustüberlebende Roman Schwarzman im Deutschen Bundestag vom unwürdigen Leben als Kind im Ghetto in Berschad nördlich von Odessa berichtet hatte, erhielt ein Entschließungsantrag der CDU/CSU dank Zustimmung nicht nur der FDP, sondern auch der AfD sowie der Enthaltung aller teilnehmenden BSW-Abgeordneten eine relative Mehrheit. Dieser nicht bindende Antrag verlangte »sofortige, umfassende Maßnahmen zur Beendigung der illegalen Migration, zur Sicherung der deutschen Grenzen und zur konsequenten Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Personen, insbesondere von Straftätern und Gefährdern«, und zu diesem Zwecke eine dauerhafte Kontrolle der deutschen Grenzen zu allen Nachbarstaaten sowie die »Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise«.
Dies bedeutete, wie auch Merz offen betonte, »faktisches Einreiseverbot« für alle Menschen, die nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen und nicht über gültige Einreisedokumente verfügen – auch und gerade dann nicht, wenn sie mit einem Schutzgesuch an den deutschen Staat herantreten. Ein zweiter Entschließungsantrag zur »Stärkung der Inneren Sicherheit« scheiterte mit 508 Enthaltungen. Eiskalt und »schmerzfrei« rechtfertigte Merz die absehbare Mehrheitsfähigkeit der Unionsvorlagen nur dank der AfD mit einem »dann ist das eben so«. Die Enttäuschung, Wut und Empörung, die den Unionsparteien jetzt entgegenschlagen, sind vollkommen berechtigt. Skandalisierung ersetzt allerdings keine Bestandsaufnahme darüber, in welcher politischen Konstellation wir uns jetzt befinden.
»Die Definition der Alternativen ist das oberste Instrument der Macht«, schrieb der US-amerikanische Politologe E. E. Schattschneider. Eben darum ging es Merz und seinen Beratern bei diesem Schachzug. Dahinter steht eine eiskalte Kalkulation: Solange die »Brandmauer« steht, die die AfD ausgrenzt und von jeglicher Kooperation mit demokratischen Parteien ausschließt, müsste ein Bundeskanzler Friedrich Merz nach der Wahl immer Zugeständnisse machen an Parteien, die in der mehrheitlichen Wahrnehmung politisch »links« von der Union stehen, während hinter der Brandmauer der Lockruf der AfD immer lauter wird. Durch seinen Move von Ende Januar 2025 macht Merz nun klar, dass er bereit ist, die Stimmen der AfD einzupreisen und mitzunehmen, um die verbliebene Macht der Parteien links von der Union – zumal im nächsten, 21. Deutschen Bundestag, der womöglich ohne FDP und BSW auskommt – zu neutralisieren.
Der eiskalt zynische Tabubruch des CDU-Kanzlerkandidaten reiht sich ein in die Serie längst eingestürzter »Brandmauern« gegenüber radikal rechten Parteien in Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien oder Skandinavien, und das gnadenlos Wendehals-artige Andienen der »Broligarchen« und anderer Kapitalisten an die radikale Rechte, wo sie an die Regierungsmacht kommt.
Linke müssen diese Tabubrüche kritisieren und sich neu sortieren, jetzt wo die Union offen die Spielregeln entsorgt hat, die sie kurz vorher selbst noch zu verteidigen vorgab. Zugleich dürfen sie nicht die schrecklichen Anschläge und Morde wie in Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg trivialisieren und relativieren, die Anlass für die Anträge der Union waren. Dies ist nötig und möglich, denn es gibt genügend stichhaltige Hinweise, wonach das, was die Union fordert und jetzt mithilfe von AfD und BSW hat einfordern können, gar keine sachgerechte Lösung bedeutet.
Das Tatmotiv ist in Aschaffenburg anders gelegen als in Solingen oder Mannheim, »weil bislang nichts auf eine islamistische Gesinnung, sondern – stärker noch als in Magdeburg – vieles auf eine psychische Erkrankung hindeutet, scheint Politikern (fast) aller Parteien mittlerweile egal zu sein«. Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze scheitern nicht an der deutschen Gesetzeslage, dies schon längst ermöglicht, sondern an der Dublin-III-Verordnung, die als europäisches Recht Vorrang vor der deutschen Gesetzgebung hat. Um herunterzuspielen, dass sie Bruch europäischen Rechts fordert, beruft sich die Union auf Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Diesem zufolge ist es zulässig, bei Bedrohung nationaler Sicherheit und Ordnung EU-Recht zu übergehen. Davon kann aber aus mehreren Gründen keine Rede sein.
»Ähnlich wie bei Emmanuel Macron im Nachbarland könnte sich die Dammbruchbereitschaft von Friedrich Merz und seinen Anhängern als kurzsichtiger Fehltritt erweisen.«
Das spezifisch Furchtbare an den Tätern von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg war ja gerade, dass sie im Unterschied etwa zu den Attentaten vor zehn Jahren in Paris Einzeltäter waren, bewaffnet nicht mit schweren Feuerwaffen, sondern mit Messern oder im Falle Magdeburgs mit einem PKW. Auch von einer zunehmenden Überforderung durch Asylanträge, die sich in eine staatliche Notlage übersetzt, kann keine Rede mehr sein: »So wurden 2024 in Deutschland zwar rund 225.000 Asylanträge gestellt, das sind aber über 30 Prozent weniger als im Jahr davor.« Dass die Integrationskapazitäten gestresst sind, bestreitet auch niemand mehr. »Aber ein echter Notstand wird sich auch hiermit kaum belegen lassen.«
Auch logistisch ist eine lückenlose Kontrolle der Außengrenze kaum möglich, weil dafür 10.000 Polizeibeamte plus Equipment nötig wären. Wo die so schnell herkommen sollen, das bleibt die Union an Erklärung schuldig. Im Falle des Täters von Aschaffenburg wäre der Schritt ohnehin zu spät gekommen. Der Attentäter hätte längst nach Bulgarien überstellt werden müssen, dies scheiterte jedoch an schlechter Abstimmung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den bayerischen Ausländerbehörden, sodass die Sechsmonatsfrist für die Überstellung verstrich. Zum Attentäter von Magdeburg hatten die Sicherheitsbehörden mehr als 100 Vorfälle registriert, sechs Bundesländer und der Bund waren mit ihm beschäftigt. Auch erlauben Psychisch-Kranken-Gesetze in den Bundesländern Unterbringung, um Selbst- und Fremdgefährdung durch mögliche Gewalttäter wirksam auszuschließen, oder könnten entsprechend geändert werden.
Indem die Union all dies beiseite wischt und die Fluchtzuwanderung als Problemquelle in den Mittelpunkt stellt, kippt sie immer weiter Wasser auf die Mühlen der AfD. Alle anderen Themen, bei denen die radikale Rechte wenig bis nichts zu melden hat, werden von dieser Agenda verdrängt. Und indem sie jetzt auch ausdrücklich mit ihren Stimmen kalkuliert, betreibt die Union die Entstigmatisierung und »Normalisierung« der AfD, die, schaut man sich bestimmte Umfragen an, schon erschreckend weit fortgeschritten ist. Der bereits zitierte E. E. Schattschneider schreibt auch: »Wenn ein Kampf beginnt, beobachte die Menge, denn die Menge spielt die entscheidende Rolle.« Die Linke darf nicht den Fehler begehen, den erfreulichen großen Zuspruch bei Anti-AfD-Demonstrationen mit der tatsächlichen Breitenverankerung der »Brandmauer« in der Gesellschaft zu verwechseln.
Entscheidend ist am Ende des Tages, wie sich die schweigende Mehrheit der Leute verhält, die nicht zu den Demonstrationen gehen. Dies hat Friedrich Merz verstanden. Die Union nutzt die AfD als strategische Reserve, nachdem sie bald zwei Jahrzehnte mit antikommunistischem Dauerfeuer jede Annäherung von Rot-Grün an die Linkspartei attackiert hat, selbst wenn diese gar nicht stattfand, weil die rechten Flügel von Sozialdemokratie und Bündnisgrünen gar keine linke Politik machen wollten. Vom Bannkreis um Die Linke hat niemand mehr profitiert als die Union, die jetzt auch Bodengewinne aus dem politisch-gesellschaftlichen Rechtsruck einstreichen will. Damit werden auch mit »antieuropäisch«, »extremistisch«, »gefährlich« überschriebene Ordnungsrufe und Diffamierungen gegen die Linken, die etwa stichhaltige Kritik an der EU anbrachten, nachträglich als die pure Heuchelei demaskiert, die sie schon immer waren.
»SPD und Grüne stehen nun vor den Scherben ihrer Politik der vergangenen Jahre, in denen sie auf Bundesebene Die Linke ausgegrenzt haben und zugleich alle bisherigen Verschärfungen der Asyl- und Sicherheitsgesetzgebung mitgegangen sind.«
Recht gehabt zu haben, ist aber für Die Linke wenig mehr als ein schwacher Trost. So sehr Friedrich Merz für seinen eingeschlagenen Weg zu verurteilen ist, so wenig kann dies darüber hinwegtäuschen, dass er erhebliche Teile der Bevölkerung hinter sich weiß. Vor unseren Augen verschiebt sich die gesamte politische Tektonik der Demokratie in Deutschland. Die Linke braucht eine Strategie, um nicht nur Merz, sondern vor allem das Geheimnis seines Erfolgs anzugreifen: Eine Konstellation politischer Hoffnungsarmut, in der die Menschen kaum Verbesserungen erwarten und sich erschreckend leicht gegen Sündenböcke aufbringen lassen. Die Linke muss lernen, wie sie die gesellschaftliche Breite ansprechen kann und nicht nur diejenigen Kreise, die ihr ohnehin zugeneigt sind. Denn das sind offenkundig nicht mehr so viele.
Wie wird es weiter gehen? Ähnlich wie bei Emmanuel Macron im Nachbarland könnte sich die Dammbruchbereitschaft von Friedrich Merz und seinen Anhängern als kurzsichtiger Fehltritt erweisen. Denn es ist nicht ausgemacht, dass die AfD ihre Stimmen mittel- und langfristig »kostenlos« beiträgt. Insbesondere nach einem starken Ergebnis bei der anstehenden Bundestagswahl könnte die rechtsradikale Partei verlangen, dass ihr die Union auf dem Weg einer Koalition oder mindestens Tolerierung auch formal den »Ritterschlag« zur ganz normalen demokratischen Partei verleihen solle. Die bürgerlichen Claqueuren von CDU/CSU scheinen ihre offenkundigen Selbstwidersprüche dabei nicht mal groß zu stören. Am Tag des Dammbruchs von Friedrich Merz applaudiert die FAZ diese auf der Titelseite, um dann auf Seite 2 nüchtern darzulegen, warum die Anträge seiner Fraktion hochproblematisch sind.
SPD und Grüne hingegen stehen nun vor den Scherben ihrer Politik der vergangenen Jahre, in denen sie auf Bundesebene Die Linke ausgegrenzt haben und zugleich alle bisherigen Verschärfungen der Asyl- und Sicherheitsgesetzgebung mitgegangen sind. Doch für einen Zeitgeist, der sich von AfD und Merz treiben lässt, kann und wird dies nie genug sein. Die Parteien der sogenannten Mitte werden nun von ihren eigenen Unzulänglichkeiten, Verrenkungen und Verfehlungen der jüngeren Vergangenheit gnadenlos heimgesucht. Sie glaubten, sie verhinderten Schlimmeres mit ihrer Anpassung nach rechts, doch tatsächlich machten sie alles noch schlimmer. Beanspruchte die Mitte immer ganz selbstverständlich und von oben herab, Hort der Vernunft, Verhältnismäßigkeit und Mäßigung, Vorsicht und Angemessenheit zu sein, steht der Kaiser nun völlig nackt da. Friedrich Merz hat ihm das Gewand vom Leib gerissen. Wer »Mitte« sagt, der will betrügen.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.