22. Januar 2025
Friedrich Merz will »neuen Wohlstand für Deutschland« schaffen. Doch seine Agenda 2030 ist vor allem ein Geschenk an den deutschen Exportsektor – und macht die Mehrheit der Bevölkerung ärmer.
Mit Wirtschaftspolitik von gestern in den Wahlkampf: CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz.
Mit ihrer »Agenda 2030 – Neuer Wohlstand für Deutschland« verspricht die CDU einen »echten Politikwechsel«, der die deutsche Wirtschaft aus der Rezession führen soll. Während die Merkel-Regierung 2015 unter einer Agenda 2030 noch das Bekenntnis zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen verstand und sich für eine »soziale, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung« einsetzte, bedeutet die Agenda 2030 der CDU im Jahr 2025 vor allem eins: einen Rückschritt in die Wirtschaftspolitik der 2000er Jahre.
Der Name des Programms ist nicht zufällig gewählt, sondern an die Agenda 2010 angelehnt, die größte Liberalisierungswelle des Arbeitsmarktes und des Sozialstaats der Bundesrepublik, mit der die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder die kriselnde deutsche Wirtschaft zu retten versuchte. Und schaut man sich die Bestrebungen an, finden sich einige Parallelen: Angriffe auf den Sozialstaat bei gleichzeitigem Schutz der deutschen Exportindustrie, zu der vor allem die Auto-, Chemie- und Maschinenbaubranche gehören.
Die 1990er Jahre waren geprägt von hohen Inflationsraten im Zuge der Wiedervereinigung, sinkender Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitslosigkeit und einem minimalen Handelsbilanzüberschuss. Im Jahr 1995 exportierte Deutschland 43,6 Milliarden Euro mehr als es importierte, 2023 waren es 224,3 Milliarden Euro. Als Lösung schlug eine Liaison aus Gerhard Schröder und dem konservativen Flügel der SPD die Deregulierung des Arbeitsmarktes vor – eine Politik, die gegen die Interessengruppen ging, die sie zu vertreten vorgaben.
Die Umsetzung der Agenda 2010 gelang, weil die SPD einen Pakt mit den Gewerkschaften des Exportsektors, wie der IG Metall und der IG BCE, schloss. Diese Gewerkschaften brachen mit Verdi und anderen Dienstleistungsgewerkschaften, da sie damals ein für die eigenen Beschäftigten vorteilhafteres sozialpolitisches Programm verfolgten, das unter anderem Arbeitsplatzsicherung und Lohngarantien beinhaltete. Von den Liberalisierungen der Agenda 2010 waren die Belegschaften des Exportsektors somit nicht betroffen. Zudem waren Funktionärinnen und Funktionäre der IG Metall und der IG BCE in die Erarbeitung der Agenda 2010 eingebunden. Einige ehemalige Funktionäre bekleideten Ämter der Schröder-Regierung. Ein prominentes Beispiel ist der Namensgeber der Riester-Rente, Walter Riester, erst Zweiter Vorsitzender der IG Metall, dann Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unter Schröder. Die Agenda 2010 schmälerte den Sozialstaat und löste gleichzeitig einen klasseninternen Verteilungskampf zwischen besser und schlechter geschützten Beschäftigten aus: Exportsektor vs. Binnenwirtschaft.
»Die Agenda 2010 steht somit für eine wirtschaftspolitische Strategie, die die Interessen der deutschen Exportunternehmen stärkte und gleichzeitig die Beschäftigten in der Binnenwirtschaft zunehmend in prekäre Arbeitsverhältnisse drängte.«
Zu den wichtigsten Aspekten der Agenda 2010 gehörte damals die Deregulierung der Zeitarbeit, die Förderung von Teilzeitarbeit und die Kürzung des Arbeitslosengeldes. Zusätzlich wurde ein System geringfügiger, schlecht bezahlter und sozialversicherungsfreier Minijobs eingeführt. Arbeitslose wurden mit Sanktionen belegt, wenn sie »angemessene« Stellenangebote ablehnten, was zu einer Steigerung der Verhandlungsmacht der Arbeitgeberseite führte und den Lohndruck erhöhte. Mit den Reformen wurde der Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterwandert und gleichzeitig einer der größten Niedriglohnsektoren Europas geschaffen. Ursprünglich wurde im Zuge der Agenda 2010 immer wieder versprochen, dass die Menschen zunächst in Arbeit gebracht werden müssten und von dort aus Aufstiegschancen hätten. Die Realität sieht jedoch anders aus.
Vor Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 wurde fast jeder vierte Job in Deutschland mit Niedriglohn bezahlt, heute ist es immer noch jeder sechste. Und dabei stellt der Niedriglohnsektor insbesondere für Frauen, junge Erwachsene, Geringqualifizierte und Personen mit Migrationshintergrund eine Falle dar, da sie zum einen – häufig bedingt durch strukturelle Faktoren wie diskriminierende Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt, fehlende Anerkennung ausländischer Abschlüsse oder ungleich verteilte Betreuungs- und Pflegeverpflichtungen – überproportional in diesem Sektor beschäftigt sind. Zum anderen weist dieser Sektor die geringste Lohnmobilität auf, was den Betroffenen langfristig den Weg zu höheren Einkommen erschwert.
Zusammenfassend trug die Agenda 2010 maßgeblich zur Ausweitung und Stärkung des Exportsektors bei, was die Gewinne dieser Branche und damit auch die deutsche Wirtschaft ankurbelte. Gleichzeitig führte sie auch zu einer massiven Verschärfung der sozialen Ungleichheiten, getrieben von Lohnzurückhaltung der Binnenwirtschaft und der Kürzungen bei Renten und Arbeitslosengeld. Die Agenda 2010 steht somit für eine wirtschaftspolitische Strategie, die die Interessen der deutschen Exportunternehmen stärkte und gleichzeitig die Beschäftigten in der Binnenwirtschaft zunehmend in prekäre Arbeitsverhältnisse drängte.
Das deutsche Wirtschaftswachstum ist bis heute stark vom Exportsektor und damit von der Auslandsnachfrage abhängig. Dies wurde besonders deutlich in Zeiten stockenden Welthandels, wie etwa während der Covid-Krise, als die Bundesregierung das größte Hilfsprogramm für Unternehmen in der EU aufsetzte, um die ausfallende Nachfrage aus dem Ausland auszugleichen. Für den Rest der Welt bedeuten die deutschen Exporte vor allem eins: Arbeitslosigkeit. Da Deutschland mehr produziert, als es selbst konsumiert, führt der Export dieser überschüssigen Produktion ins Ausland in vielen anderen Ländern zu einem verstärkten Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten, was dort häufig zu Arbeitsplatzverlusten und einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit führt.
»Da die Steuerpolitik der CDU vor allem auf einer massiven Umverteilung von Arm zu Reich beruht, wird dies die Binnennachfrage weiter schwächen.«
Obwohl sich die Weltwirtschaft in den letzten Jahren zum Nachteil der deutschen Exportindustrie entwickelt hat – unter anderem durch das langsame Auslaufen der zweiten Globalisierungswelle aber auch wegen der verpassten Transformation der deutschen Automobilindustrie –, setzt die CDU mit ihrer Agenda 2030 auf den bisherigen Kurs. Statt eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die beispielsweise auf Wachstumsimpulse aus anderen, heimischen Sektoren setzt, verfolgt die CDU eine Politik des »Weiter so«. Wie fahrlässig das ist, wird deutlich, wenn man sich die Wirkungsweise der einzelnen Programmpunkte genauer anschaut.
Die Probleme der deutschen Wirtschaft unterscheiden sich deutlich von denen der 2000er Jahre. Die Bundesrepublik befindet sich in einer Rezession, die Wirtschaft schrumpfte zwei Jahre in Folge und ein Ende ist nicht in Sicht. Gleichzeitig herrscht eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in der Eurozone. Unterdessen fehlen Lehrkräfte in den Schulen, die Krankenhäuser stehen vor dem Kollaps, Brücken brechen zusammen und bezahlbarer Wohnraum ist rar.
Statt durch Steuersenkungen und Lohnerhöhungen in den unteren Einkommensgruppen die Nachfrage zu stärken und damit die Wirtschaft anzukurbeln, setzt die CDU vor allem auf massive Entlastungen der oberen Einkommensgruppen, die drei Viertel der Steuerentlastungen erhalten sollen. Bei diesen Gruppen ist einerseits der Nachfrageeffekt deutlich geringer, da sie einen größeren Teil ihres Einkommens sparen und andererseits verschärft dies auch die Ungleichheit.
Auch steuerliche Entlastungen von Unternehmen sieht das Programm vor, in der Hoffnung, dass diese dann mehr Investitionen tätigen. Dabei horten deutsche Konzerne seit Jahren hohe Bargeldreserven. Anstatt eine Regierungsinitiative für Investitionen in öffentliche Infrastruktur zu starten, wodurch Unternehmen den Anreiz hätten, mehr Arbeiterinnen und Arbeiter zu beschäftigen, um die erhöhte Nachfrage zu bedienen, plant die CDU Steuergeschenke an die Industrie.
Investitionen in das deutsche Bildungssystem sind ebenfalls nicht vorgesehen. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, möchte die CDU vielmehr ausländische Fachkräfte »anwerben«. Das bedeutet im Klartext: Die CDU will andere Länder für die Ausbildung seiner Fachkräfte zahlen lassen und diese dann fertig ausgebildet abwerben. Damit verlagert man nicht nur Ausbildungskosten ins Ausland, sondern entzieht auch Fachkräfte aus ihren Heimatländern, die der dortigen Wirtschaft dann fehlen. Da die Abgeworbenen häufig aus Ländern des Globalen Südens kommen, würde sich die globale Ungleichheit noch weiter verschärfen.
»Während die SPD mit der Agenda 2010 eine Wachstumsstrategie verfolgte, die auf dem Rücken ihrer Basis ausgetragen wurde, ist die Agenda 2030 ein Projekt, dass genau die Kräfte stützt, die hinter der CDU stehen.«
Mit der Forderung nach einer Rücknahme des Dieselverbots wird Deutschland die Klimaziele verfehlen, der Individualverkehr ist einer der größten CO2-Emittenten überhaupt. Zusätzlich arbeiten in der überproportional gut bezahlten Automobilbranche größtenteils Männer, was die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Spannungen zwischen Exportsektor und Binnenwirtschaft weiter verschärfen wird. Darüber hinaus plant die CDU die Förderung der Rüstungsindustrie und den Abschluss weiterer Freihandelsabkommen. Damit verfolgt die CDU eine Strategie, die den Export deutscher Waren in alle Welt fördern und die Absatzmärkte für deutsche Exporte sichern soll.
Gleichzeitig sollen unter anderem Überstunden attraktiver, das Bürgergeld abgeschafft und die Anspruchsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld verschärft werden. Dies soll das Narrativ von der faulen Gesellschaft, die für die Misere der deutschen Wirtschaft verantwortlich gemacht wird, nähren und von den eigentlichen Ursachen ablenken.
Da die CDU auch plant, die Schuldenbremse einzuhalten, will sie ihre Steuerpläne allein über Wachstumsimpulse gegenfinanzieren. Da ihre Steuerpolitik aber vor allem auf einer massiven Umverteilung von Arm zu Reich beruht, wird dies die Binnennachfrage weiter schwächen. Gleichzeitig wird die Merz-CDU die Wirtschaft von Nachfrageimpulsen aus dem Ausland abhängig machen, was in Zeiten von wachsendem Protektionismus wenig erfolgversprechend ist. Zwar können beispielsweise deutsche Autobauer von US-Strafzöllen auf chinesische Waren profitieren, dies funktioniert aber nur, solange keine entsprechenden Zölle auf europäische Produkte verhängt werden. Donald Trump hatte sich bereits in seiner ersten Amtszeit als scharfer Kritiker des deutschen Exportmodells gezeigt, und es ist damit zu rechnen, dass er von diesem Kurs nicht abweichen wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Agenda 2030 ein klassisches Beispiel für eine angebotsorientierte deutsche Wirtschaftspolitik ist. Im Interesse des Exportsektors versucht die CDU, durch bessere Bedingungen für Unternehmen – wie etwa Steuererleichterungen und Arbeitsmarktliberalisierung – deren Profitabilität zu steigern und damit das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Dieses Rezept mag in der Vergangenheit im Rahmen der Agenda 2010 für die Exportsektoren noch funktioniert haben, allerdings nur auf Kosten einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Die Fragwürdigkeit dieser Wachstumsstrategie wird jedoch angesichts der aktuellen Probleme der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Herausforderungen im Exportsektor, mehr als deutlich.
»Fleiß, Arbeit und Anstrengung lohnen sich immer weniger. Das Versprechen von Aufstieg durch Leistung scheint leer«, heißt es in der Agenda 2030. Die Lösungsvorschläge der CDU werden dieses Versprechen nicht erneuern können – im Gegenteil, sie dürften die soziale Ungleichheit, den Investitionsstau und den Mangel von gut bezahlten, sicheren Arbeitsplätzen verschlimmern. Während die SPD mit der Agenda 2010 eine Wachstumsstrategie verfolgte, die auf dem Rücken ihrer Basis – nämlich den Beschäftigten – ausgetragen wurde, ist die Agenda 2030 ein Projekt, dass genau die Kräfte stützt, die hinter der CDU stehen. Die Wirtschaftspolitik von Friedrich Merz wird keinen »neuen Wohlstand« für alle schaffen, sondern nur die Interessengruppen der CDU ökonomisch stärken und den Wohlstand der Mehrheit schmälern.
Margarethe Hummel ist studierte Ökonomin. Sie promoviert zur politischen Ökonomie globaler Wertschöpfungsketten deutscher Exportunternehmen am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.