29. November 2024
Die CDU behauptet, die Abschaffung des Bürgergeldes würde die schwächelnde Wirtschaft stärken. Das ist Unsinn. Den Konservativen geht es bei ihren Tiraden gegen das Bürgergeld um etwas anderes, nämlich die Disziplinierung der Arbeiterklasse.
CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ist für seine Tiraden gegen das Bürgergeld bekannt.
Schon bei der Verabschiedung der Bürgergeld-Reform im Herbst 2022 hat die CDU im Bundesrat so sehr blockiert, dass das Bürgergeld zwischenzeitlich vor dem Aus stand. Seitdem werden prominente CDU-Politiker nicht müde zu verkünden, Arbeit würde sich nicht mehr lohnen, weil das Bürgergeld so hoch sei. Nachdem Friedrich Merz vor einigen Wochen bei Caren Miosga fabuliert hat, die Aussage »Mir reicht's, ich geh ins Bürgergeld« wäre inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden, war die medienwirksame Darstellung des Bürgergeldes als bequeme Alternative zur Lohnarbeit komplett.
Mit dem Aus der Ampel begann die CDU dann sofort, aus ihrem Oppositions-Versprechen Wahlkampf zu machen und das Ende des Bürgergeldes anzukündigen, sobald sie wieder in der Regierung sei. In einer »grundlegenden Reform« sollen Totalverweigerern die Bezüge gekürzt und Bürgergeldempfängerinnen zur Arbeit verpflichtet werden.
Dabei sind Kürzungen der Bezüge schon längst möglich: Die im Oktober 2024 in der Wachstumsinitiative verabschiedeten veränderten Sanktionsmöglichkeiten haben das Bürgergeld wieder dem Hartz-IV-System angeglichen. Wer eine »zumutbare« Arbeit ohne triftigen Grund ablehnt, dem können die Bezüge der Grundsicherung für drei Monate um 30 Prozent gekürzt werden. Und überhaupt: Nach Angaben der Arbeitsagentur haben im Jahr 2023 von knapp 4 Millionen Bürgergeldbeziehenden rund 16.000 Menschen ein Jobangebot oder Weiterbildungsmaßnahmen komplett abgelehnt – also das, was unter den Begriff »Verweigerung« fallen würde. Wir sprechen hier von gerade einmal 0,4 Prozent aller Bürgergeldbeziehenden. Insgesamt steht mit der Forderung der Union das Herzensprojekt der SPD und Grünen in der Ampelregierung so eigentlich nur noch symbolisch vor dem Aus – die wirkliche Veränderung des Fördern-und-Fordern-Regimes des Hartz-IV-Systems wurde von der Ampel selbst torpediert.
Die Vehemenz, mit der die CDU gegen das Bürgergeld schießt, erklärt sich daraus, dass konservative Parteien historisch betrachtet schon immer gegen soziale Absicherung opponiert haben, um Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Arbeitenden zu erhalten.
Ein klarer Blick auf das Kalkül hinter der Opposition konservativer Politikerinnen und Politiker gegen Arbeitslosenversicherungen wie das Bürgergeld lässt sich über das Werk des polnischen Ökonomen Michal Kalecki gewinnen, der in seiner Analyse der wirtschaftspolitischen Umstände des Zweiten Weltkriegs Keynesianismus mit marxistischer Klassensensitivität verband. Während Kalecki zeitgleich zu Keynes die Relevanz der effektiven Nachfrage beschrieb – also dass das Wirtschafts- und Produktionsniveau und damit das Wohlergehen von Volkswirtschaften vom Nachfrageniveau abhängt, und dieses in Krisenzeiten gestützt werden muss –, untersuchte er ebenso die Machtkonzentration in der Wirtschaft und die Tendenz des Kapitalismus, eine »industrielle Reservearmee« herauszubilden, die den Arbeitsmarkt von unten diszipliniert. In seinem Essay »Politische Aspekte der Vollbeschäftigung« von 1943 analysiert Kalecki die Hürden, denen eine Politik der Vollbeschäftigung entgegensteht. Er begreift die kapitalistische Klasse nicht als Verbündete der Vollbeschäftigung, obwohl dies höhere Gewinne, stabilere Absätze und mehr Profite bedeuten könnte. Stattdessen bevorzugt das Kapital, so Kalecki, einen Erhalt der Arbeitslosigkeit.
»Die Disziplin ist der kapitalistischen Klasse im Endeffekt also wichtiger als der volle Absatz der Produktionsergebnisse.«
Diese Skepsis äußert sich, so Kalecki, in drei Motiven: »Der Abneigung gegenüber staatlichem Eingreifen in das Beschäftigungsproblem an sich. Der Abneigung gegenüber der Richtung der staatlichen Ausgaben (öffentliche Investitionen und Subventionierung des Konsums). Der Abneigung gegenüber den sozialen und politischen Veränderungen, die sich aus der Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung ergeben.«
Das letzte Motiv spielt auf den Machtentzug an, der eine Politik der Vollbeschäftigung für das Kapital bedeuten würde. Denn Vollbeschäftigung schwächt den disziplinierenden Effekt der Arbeitslosigkeit. Bei hoher Arbeitslosigkeit reicht oft schon die Androhung von Entlassung, um die Disziplin der Arbeiterinnen und Arbeiter sicherzustellen. Ohne sichere Aussicht auf einen anderen Job zögern Beschäftigte, sich gegen unfaire Bedingungen zur Wehr zu setzen. So wird die notwendige Kontrolle für einen geregelten Betriebsablauf sichergestellt. In einem stabilen Arbeitsmarkt hingegen verbessert sich die Position der Arbeitenden deutlich.
Kalecki beschreibt, wie eine Politik der Vollbeschäftigung die Wirkung dieses Druckmittels verringern würde, je mehr sich die Chancen auf einen schnellen Wiedereinstieg verbessern. Fänden Arbeitssuchende problemlos neue Stellen, wären sie weniger auf den Erhalt einer bestimmten Anstellung angewiesen – sie könnten ja auch woanders arbeiten. Wenn zusätzlich eine staatliche Absicherung, beispielsweise durch Jobgarantien, bestünde, würde eine Entlassung ihre disziplinierende Wirkung komplett verlieren. Der konservative Widerstand gegen eine ausreichende Arbeitslosenversicherung resultiert für Kalecki also aus dem Interesse des Kapitals an einem Bestehen von Arbeitslosigkeit als Disziplinierungsmaßnahme. Kalecki nennt das »Klasseninstinkt« – und dieser Instinkt souffliert Vertreterinnen und Vertretern der kapitalistischen Klasse, so Kalecki, »dass dauerhafte Vollbeschäftigung aus ihrer Sicht unsolide ist und dass Arbeitslosigkeit ein integraler Bestandteil des ›normalen‹ kapitalistischen Systems ist.«
Das Bürgergeld bedroht aus Sicht der CDU also das Niedriglohnsektor-Modell. Das Kalkül ist hierbei wie folgt: Wenn Arbeitslosigkeit nicht mehr mit Schikane, Terminen beim Amt, obligatorischen Weiterbildungsmaßnahmen und Sanktionen verbunden ist, verlieren viele Kapitalistinnen und Kapitalisten ihr Druckmittel, um Arbeiterinnen und Arbeiter zu unzumutbaren Verhältnissen zu beschäftigen. Die Aufrechterhaltung von Arbeitsplatzdisziplin und bestehenden Machtverhältnissen durch Ausbeutung im Niedriglohnsektor erfordert soziale Kontrolle über Arbeitslose – und genau das verteidigt die CDU mit ihrer Opposition.
Mehr Selbstbestimmung der Arbeitenden ist aus kapitalistischer Perspektive nicht wünschenswert, denn so lässt sich nicht mehr so einfach von der Lohnabhängigkeit der Arbeitenden profitieren. Wenn mir als arbeitende Person nicht gefällt, wie meine Vorgesetzte mit mir umgeht oder wie viel Lohn sie mir zahlt und ich mir sicher sein kann, einen anderen Job zu finden oder in Arbeitslosigkeit nicht zu Grunde zu gehen, verliert eine Entlassung ihre disziplinierende Wirkung. Und gleichzeitig kann ich sogar noch bemächtigt sein, mich gegen Missstände mit meinen Kolleginnen und Kollegen zu organisieren. Es sind Bewegungen hin zu Selbstbestimmung, Autonomie und kollektiver Organisation, die verhindert werden sollen.
»Anstatt etwas für die schwächelnde Wirtschaft zu tun, geht es der CDU darum, die bestehenden Machtverhältnisse zu sichern.«
Die Disziplin ist der kapitalistischen Klasse im Endeffekt also wichtiger als der volle Absatz der Produktionsergebnisse. Kaleckis Analyse geht von hier dann noch einen Schritt weiter, der mit dem Erstarken der Rechten neue Bedeutsamkeit bekommt: Anstatt nur diesen Klassenkonflikt aufzuzeigen, folgt aus der Bevorzugung des Kapitals von Disziplin über Vollbeschäftigung und dem Wunsch nach politischer Stabilität, um reibungslose Akkumulation zu ermöglichen, dass der Kapitalismus in Richtung Autoritarismus und letztendlich Faschismus tendiert. Um von den Vorzügen von Vollbeschäftigung – etwa den höheren Absätze und Renditen – zu profitieren, muss das Kapital, so Kalecki, die Disziplin der Arbeiterschaft anderweitig sicherstellen. In autoritären oder faschistischen Regimen wurden Streiks und die kollektive Organisierung der Arbeiterschaft daher mit Gewalt unterbunden. Kalecki schreibt dazu: »Der politische Druck ersetzt den wirtschaftlichen Druck der Arbeitslosigkeit.«
Aus dieser Perspektive lässt sich historisch unter anderem die Rolle der Konservativen als Steigbügelhalter des Faschismus verstehen: Als Interessenvertreter der kapitalistischen Klasse, und im Versuch, eine erstarkende Linke Bewegung aufzuhalten, unterstützten die Konservativen in den 1930er Jahren Hitler auf seinem Weg zur Macht. Das rechtsautoritäre Regime versprach in seiner politischen Orientierung ein Aufrechterhalten der Disziplin bei gleichzeitiger Bewerkstelligung von Vollbeschäftigung.
Mit Kaleckis Analyse im Gepäck können wir also hinter die Fassade der von der CDU ausgetragenen Argumente blicken. Die rezessiven Züge der deutschen Wirtschaftsleistung durch die zu geringe Nachfrage, gekoppelt mit dem Fachkräftemangel und der Arbeitslosigkeit von 6 Prozent, machen deutlich, worum es bei der Opposition der CDU gegen das Bürgergeld tatsächlich geht. Anstatt etwas für die schwächelnde Wirtschaft und ihre strukturellen Probleme zu tun, indem der Absatz gestärkt wird – was bedeuten würde, die Nachfrage zu stärken, indem das Lohnniveau angehoben wird –, geht es der CDU darum, die bestehenden Machtverhältnisse zu sichern. Arbeitslosigkeit und Armut werden gezielt als Drohkulisse aufrechterhalten, damit das Kapital die Kontrolle behält, ungeachtet der tatsächlichen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt.
Mit Blick auf Niedriglohnsektor, Arbeitslosigkeit und schwächelnde Nachfrage muss die Aussage »Arbeit würde sich nicht mehr lohnen« als Urteil über zu niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen verstanden werden. Dann würden wir den Mindestlohn erhöhen, statt ihn abzuschaffen, wie es die CDU fordert, und damit die effektive Nachfrage stärken, so dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt; wir würden Sozialausgaben nicht kürzen, sondern eine angemessene Wirtschafts- und Geldpolitik machen und so die entscheidenden Lehren aus den 1930er Jahren ziehen. Denn der Zusammenhang zwischen Austerität und erstarkendem Faschismus ist weitreichend belegt. Dabei sollten wir Kaleckis Abschlussworte im Blick behalten: »Der Kampf der progressiven Kräfte für Vollbeschäftigung ist zur selben Zeit ein Mittel, um das Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern.«
Jannis Köster ist Nachhaltigkeitswissenschaftler und Politischer Ökonom.