14. Mai 2025
Mit seinen Auslandsreisen nach Frankreich und Polen inszeniert sich Merz kurz nach Amtsantritt als großer Europäer. Doch bei den Finanzen bleibt er auf Konfrontationskurs: nationale Investitionen in Deutschland ja, gemeinsame EU-Schulden nein.
Komplizierte Freundschaft: In Frankreich hatte man auf eine Lockerung der Haushaltspolitik gehofft, aber Merz lehnt gemeinsame Schulden weiterhin ab.
Die Außenpolitik ist das neue Lieblingsthema von Bundeskanzler Friedrich Merz. Doch für Europa verheißt das nichts Gutes. Die neue Bundesregierung macht sich daran, die letzten Überreste der Politik der Zurückhaltung endgültig über Bord zu werfen. Anstatt Diplomatie, Abrüstung und kollektive Sicherheit rücken militärische Machtpolitik, Aufrüstung und taktische Allianzen ins Zentrum. Die Außenpolitik wird künftig »Chefsache«. Folgerichtig haben Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart, einen Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt zu schaffen. Sicherheitspolitische und strategische Fragen werden damit noch stärker vom Auswärtigen Amt ins Kanzleramt verlagert.
Dieser Schachzug ist möglich, weil die CDU erstmals seit fast sechzig Jahren wieder den Außenminister stellt. Merz’ Parteigenosse, der Ex-Zeitsoldat Johannes Wadephul, macht sich derweil daran, die letzten verbliebenen progressiven Elemente deutscher Außenpolitik zu schleifen: Rüstungsexportkontrollen sollen weitgehend aufgegeben und Projekte zur Förderung zivilgesellschaftlicher Zusammenarbeit durch das Auswärtige Amt drastisch zurückgefahren werden. Der einzige Regierungsvertreter aus der Ampel-Koalition, der sein Amt fortführen darf, ist SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius. Kontinuität bei dem Vorhaben, die Bundeswehr zur größten Armee in der EU aufzurüsten, ist somit garantiert.
Nicht einmal siebzehn Stunden nach seiner Wahl reiste Merz zu seinen ersten beiden Staatsbesuchen nach Frankreich und Polen – die beiden wichtigsten Partner Deutschlands in der EU. 12 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels werden mit diesen beiden Ländern abgewickelt, die die immer stärker auseinanderdriftenden west- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten repräsentieren. Durch die Wiederbelebung des als Weimarer-Dreieck getauften trilateralen Gesprächsformats erhofft sich Merz, einen neuen Schub in Sachen EU-Integration. Im Mittelpunkt steht dabei die Außen- und Sicherheitspolitik. In enger Abstimmung mit Frankreich und Polen will der Kanzler den Übergang vom Einstimmigkeits- zum Mehrstimmenprinzip in der EU durchsetzen, was den Einfluss bevölkerungsreicher Länder wie Deutschland in außenpolitischen Entscheidungen stärken würde. Weitere wichtige Themen waren die militärische Aufrüstung der Mitgliedsstaaten und der zügige Abschluss neuer Freihandelsabkommen. Deutschland, so das Kanzler-Kalkül, übernimmt durch seine ökonomische Vormachtstellung und die politische Vermittlung die Führungsrolle in diesem Prozess.
In Paris bemühte sich Merz demonstrativ um Einigkeit mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Europäische Union, so der Bundeskanzler, stehe vor »enormen Herausforderungen«. Vor allem bei der Verteidigung wolle man künftig noch enger zusammenarbeiten. Deutschland und Frankreich schlügen damit ein »neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen, in der deutsch-französischen Freundschaft und beim großen europäischen Projekt« auf, behauptete Macron. Doch die rituell zur Schau getragene Einigkeit täuscht nicht darüber hinweg, dass die Interessen der beiden größten Volkswirtschaften in der EU immer stärker auseinanderklaffen.
»Trotz des französischen Drängens blockiert Merz dringend notwendige öffentliche Investitionen auf EU-Ebene in die Infrastruktur und den grünen Umbau der Industrie. «
Als Antwort auf die Zoll-Politik von US-Präsident Donald Trump setzt die Bundesregierung auf neue Freihandelsabkommen. Frankreich dagegen bremst, insbesondere beim sogenannten Mercosur-Abkommen der EU mit Südamerika. Ein weiterer Streitpunkt ist die Finanzpolitik. Die französische Regierung hatte gehofft, dass in der EU eine flexiblere Haushaltspolitik Einzug halten könnte, nachdem Deutschland die Schuldenbremse gelockert hatte. Doch gemeinsame EU-Schulden lehnt Merz – ganz die schwäbische Hausfrau – ab. Unterschiedliche Auffassungen herrschen auch in der Sicherheitspolitik. Die gemeinsamen Rüstungsprojekte – die Entwicklung eines Mehrzweckkampfflugzeugs der sechsten Generation (FCAS) und eines neuen Panzers – kommen seit Jahren nur schleppend voran.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Spannungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass die französische Regierung den deutschen ihre stärkste Trumpfkarte vorenthält. Seit dem Brexit ist Frankreich die einzige verbliebene Atommacht in der EU. Nachdem die US-Regierung wiederholt damit gedroht hat, sich gegenüber den NATO-Mitgliedern nicht mehr an die Beistandsverpflichtung gebunden zu fühlen, wächst in Deutschland die Forderung nach einer europäischen Abschreckung. Die Garantie des nuklearen Schutzschildes würde den Einfluss Frankreichs in der Europäischen Union beträchtlich erhöhen. Es scheint jedoch ausgeschlossen, dass man Deutschland und anderen EU-Staaten in Zukunft ein Mitspracherecht beim Einsatz seiner Atomwaffen gewährt, wie es hierzulande immer wieder gefordert wird.
Aus Paris reiste Merz noch am selben Tag unverrichteter Dinge zu seinem zweiten Staatsbesuch nach Polen. Doch der symbolträchtige Schritt konnte über die bestehenden Differenzen nicht hinwegtäuschen, die im Gespräch mit Ministerpräsident Donald Tusk deutlich wurden. Polen ist inzwischen noch vor China der viertgrößte deutsche Absatzmarkt. Die Wiedereinführung der Grenzkontrollen auf deutscher Seite stellen daher aus polnischer Sicht ein großes Ärgernis dar, denn sie erschweren den gemeinsamen Handel sowie die Arbeit von zehntausenden Pendlerinnen und Pendlern, die täglich die Grenze überqueren.
Aber auch die außenpolitischen Differenzen zwischen Merz und Tusk traten in Warschau zu Tage. Zwar sehen beide Länder Russland als größten Konkurrenten an, verfolgen jedoch unterschiedliche politische Strategien. Das zeigt sich deutlich im Hinblick auf die Ukraine. Zwar ist Deutschland nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant, bestimmtes militärisches Gerät wie etwa Marschflugkörper (Taurus) oder Kampfflugzeuge werden jedoch trotz polnischen Drängens nicht geliefert. Zwar schließt Merz künftig Taurus-Lieferungen an die Ukraine nicht mehr aus. Allerdings dürfte dies den dahinterstehenden Konflikt im westlichen Lager über die Ziele der militärischen Unterstützung der Ukraine nur weiter anheizen.
»Tusk sieht in dem exportorientierten ukrainischen Agrarsektor eine Gefahr für die einheimische Landwirtschaft. Deutschland wiederum hat sich die Öffnung des EU-Binnenmarktes für ukrainische Agrargüter zum Ziel gesetzt, um die Ukraine an die EU zu binden.«
Polen, die baltischen und skandinavischen Staaten sehen nur dann eine realistische Chance auf Friedensverhandlungen mit Russland, wenn es der Ukraine gelingt, Gegenschläge weit im russischen Territorium zu führen. Dies erfordert nicht nur die Lieferung weitreichender, moderner Waffen, sondern auch den Ausbau der militärischen Fähigkeiten. Die USA und Deutschland unter Bundeskanzler Olaf Scholz fürchten dagegen eine weitere Eskalation des Krieges, da dies die Chancen auf Friedensverhandlungen verringert und die Gefahr erhöht, dass die NATO zur unmittelbaren Kriegspartei wird.
Genauso wie im Falle der deutschen Position folgt auch die polnische Ukraine-Solidarität einem machtstrategischen Kalkül. Tusk sieht in dem exportorientierten ukrainischen Agrarsektor eine Gefahr für die einheimische Landwirtschaft. Die Politik der rechten Vorgängerregierung von Mateusz Morawiecki (PiS) führt er nahtlos fort. Deutschland wiederum hat sich die Öffnung des EU-Binnenmarktes für ukrainische Agrargüter zum Ziel gesetzt, um die Ukraine an die EU zu binden. Bei der letzten Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin spielt die Förderung der Landwirtschaft dann auch eine zentrale Rolle. Die heftigen Bauernproteste und der zeitweilige Importstopp von ukrainischem Getreide dürfte bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine von großer Bedeutung sein. Denn Polen und andere osteuropäische Mitgliedsstaaten haben bereits deutlich gemacht, dass sie nicht bereit sind, zu Gunsten neuer EU-Mitglieder auf die wichtigen Agrarsubventionen und Infrastrukturfördermittel zu verzichten.
Die medial sorgsam orchestrierten Auslandsreisen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Merz Initiative zur Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks gescheitert ist. Denn die Ursachen für die Widersprüche und Konflikte zwischen Deutschland und seinen Nachbarn bleiben bestehen. Weder in Paris noch in Warschau verlor Merz ein Wort über die wachsenden Entwicklungsunterschiede in der EU. Trotz des französischen Drängens blockiert er dringend notwendige öffentliche Investitionen auf EU-Ebene in die Infrastruktur und den grünen Umbau der Industrie. Dies verschärft nicht nur die Klimakrise – die anhaltende Wirtschaftskrise ist ein wichtiger Grund für den europaweiten Aufstieg der extremen Rechten. Doch die einzige Antwort des Bundeskanzlers auf diese Herausforderungen ist die beschleunigte militärische Aufrüstung. Nach der Entscheidung der EU werden in den kommenden vier Jahren die Schuldenregeln für Rüstungsausgaben im Wert von bis zu 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgesetzt.
»Das Festhalten der deutschen Regierung am Freihandel und dem eigenen Exportmodell wirkt wie ein Anachronismus.«
Während Deutschland sich damit fast unbegrenzt verschulden kann, ist der Handlungsspielraum der französischen Regierung aufgrund der hohen Staatsverschuldung begrenzt. Differenzen bestehen auch in der Handelspolitik. Das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur ist in Frankreich hoch umstritten. Denn man befürchtet, dass wegen des reduzierten Zollsatzes in Zukunft noch mehr lateinamerikanische Agrargüter importiert werden. In der Vergangenheit haben die Bauern wiederholt gegen das Mercosur-Abkommen protestiert.
Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen Frankreich und Berlin in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Strategien. Deutschland hat französische Initiativen zum Aufbau eigenständiger militärischer Strukturen unabhängig von der NATO wiederholt ausgebremst oder bei Rüstungsprojekten – wie dem sogenannten Raketenschild zum Aufbau einer gemeinsamen EU-Luftabwehr – umgangen. Einig ist man sich allein darin, das Einstimmigkeitsprinizip in der EU kippen zu wollen, was aber den Widerstand der kleineren Mitgliedsstaaten nach sich zieht.
Aber auch das Verhältnis zu Polen bleibt widersprüchlich. Einerseits wächst die ökonomische Bedeutung des Landes kontinuierlich, sogar in Zeiten der Wirtschaftskrise. Andererseits zeigt sich, dass die Hoffnungen auf einen grundlegenden Politikwechsel, die man in Berlin mit dem Amtsantritt Donald Tusks verknüpfte, auf einer Fehleinschätzung beruhen. Gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik sieht Polen in den USA nach wie vor den wichtigsten Garanten für militärischen Beistand. Zwar hat Tusk die diplomatische Initiative der USA für Friedensverhandlungen in der Ukraine kritisiert. Einen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik steht man jedoch skeptisch gegenüber. Merz’ Plänen, die EU als außenpolitischen Akteur zu stärken, hat das einen Dämpfer versetzt.
Damit sind Merz' außenpolitische Vorhaben zum Scheitern verurteilt, bevor die Regierung ihre Arbeit überhaupt richtig aufgenommen hat. Darüber hinaus ignoriert der Kanzler beharrlich die sich verändernden globalen Verhältnisse. Die US-Regierung erodiert mit ihrer Zollpolitik die von ihr maßgeblich geschaffene Weltordnung – von der die exportorientierte deutsche Wirtschaft stark profitiert hat. Nicht zufällig verglich Ex-Wirtschaftsminister Robert Habeck die geplanten US-Zölle im Hinblick auf die wirtschaftlichen Folgen für Deutschland mit dem Beginn des Ukraine-Krieges. Viele in Deutschland ansässige Unternehmen setzen ihre Produkte überwiegend auf internationalen Märkten ab. So werden 80 Prozent der deutschen Autos im Ausland verkauft. Mit dem Aufstieg Chinas und Indiens verlagert sich zudem die ökonomische Dynamik und technologische Entwicklung nach Südostasien. Innovationen im Bereich Elektromobilität, künstliche Intelligenz oder Biotechnologie kommen zunehmend aus China. Der einstige Abnehmer deutscher Hightech-Waren hat sich zum größten Konkurrenten entwickelt.
Das Festhalten der deutschen Regierung am Freihandel und dem eigenen Exportmodell wirkt dagegen wie ein Anachronismus. Durch ihr Beharren an der neoliberalen Ideologie beraubt sich die politische Elite ihrer eigenen Handlungsfähigkeit. Anstatt den EU-Binnenmarkt durch eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen und eine Stärkung der Nachfrage zu fördern, setzt die Bundesregierung mit dem milliardenschweren Infrastrukturprogramm auf nationale Alleingänge. Den restlichen EU-Staaten – allen voran den vielbeschworenen wichtigsten außenpolitischen Partnern Frankreich und Polen – fehlen dafür die Ressourcen.
Einmal mehr agiert Deutschland als unvollkommener Hegemon der EU. Denn die mangelnde Bereitschaft der deutschen Elite zu Zugeständnissen und Kooperation blockiert weitere Schritte zur EU-Integration. Stattdessen vertieft die Außenpolitik der Regierung Merz die Widersprüche innerhalb des Staatenbundes. Die Perspektive einer gemeinsamen EU-Außenpolitik wird dadurch stark verengt. Die Fliehkräfte im Staatenbund nehmen weiter zu.
Felix Jaitner verfolgt seit vielen Jahren den Prozess der Durchsetzung des Kapitalismus in Russland und promovierte an der Universität Wien zu Entwicklungskonflikten des russischen Machtblocks. Er veröffentlichte mehrere Bücher zur Entwicklung Russlands, zuletzt erschien Russland: Ende einer Weltmacht (VSA, 2023).