25. Februar 2022
Die einen meinen, Gangstarap verherrlicht erniedrigende Stereotype, die anderen zelebrieren das Genre als Rebellion der Randständigen unserer Gesellschaft. Der Soziologe Martin Seeliger findet: Gangstarap ist vor allem ein Spiegel migrantischer Realitäten der BRD.
Der Rapper Haftbefehl bei einem Auftritt am 17. Juni 2017.
Als sich der Rapper Gzuz kürzlich vor Gericht verantworten musste, nachdem er 2020 wegen Verstößen gegen das Waffengesetz, Drogenbesitzes, versuchten Diebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt worden war, sagte er über seine Musik: »Kunst ist, es nicht künstlich, sondern authentisch aussehen zu lassen«. Diese Worte verdeutlichen die Widersprüche einer der beliebtesten Musikrichtungen der Gegenwart: Gangstarap. Während er von Kritikern als gewaltverherrlichend und sexistisch missbilligt wird, behaupten die Macher wiederum, Stimmen vom Rand der Gesellschaft Gehör zu verschaffen.
Martin Seeliger hat sich in seinem Buch Soziologie des Gangstarap: Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte genauer mit dem Genre auseinandergesetzt. Darin analysiert er den Gangstarap als Kunstform, die die politische Ökonomie der deutschen Post-Migrationsgesellschaft widerspiegelt. Im JACOBIN-Interview spricht Seeliger über die sozialen Wurzeln des Gangstarap und den Umgang mit diesem ambivalenten Kulturprodukt.
In Deiner Analyse spielt das Verhältnis zwischen Gangstarap und der Post-Migrationsgesellschaft der BRD eine zentrale Rolle. Was erzählt uns Gangstarap über diese gesellschaftlichen Verhältnisse?
Gangstarap erzählt uns, dass die deutsche Gesellschaft eine feindliche, unwirtliche Umgebung ist, in der man als Zuwanderer oder Kind von Zuwanderern mit Argwohn betrachtet wird. Man muss hart sein, um sich durchzusetzen und man wird als »Kanake« gebrandmarkt. Diese Fremdbezeichnung der deutschen Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Einwanderern wird sich dann selbstbewusst angeeignet. Dieses »Kanake-Sein« in der Aufnahmegesellschaft ist eine Gegen-Identität, die Gangstarap transportiert.
Ich habe das in meiner Theorie als eine Darstellungsform zwischen Affirmation und Empowerment analysiert. Einerseits ermöglicht es Handlungsfähigkeit in Abgrenzung zu herrschenden Verhältnissen und bestehenden Institutionen. Andererseits wird ein Konzept von Subjektivität dargestellt, welches auf Diskriminierung und Herabwürdigung anderer beruht. Um es weniger akademisch auszudrücken: Gangstarapper treten nach oben und nach unten gleichzeitig.
Über Haftbefehls »069« schreibst Du, dass dort der Kämpfer im feindlichen Dschungel der nach-industriellen Megastadt dargestellt wird. Kannst Du das ausführen?
Dieser Gedanke stammt von Gabriele Klein und Malte Friedrich. Es geht um einen Mann, der sich in einem benachteiligten Stadtviertel behaupten muss, weil er wahrscheinlich in Schwarzmarkt-Aktivitäten verstrickt ist. Mit der nach-industriellen Megastadt meinen Klein und Friedrich – so verstehe ich sie – eine Stadt, in der keine Vollbeschäftigung mehr herrscht und Industrien verlagert wurden. Die ohnehin schon prekären Beschäftigungsverhältnisse der Migrantinnen und Migranten wurden aufgelöst oder nach China verlagert.
Deswegen muss man sich noch mehr als früher mit Schwarzmarkt-Aktivitäten verdingen. Der Schwarzmarkt ist durch den Staat unreguliert und wird durch die Polizei bekämpft. Also muss man dort seine Geltungsansprüche anders durchsetzen, am besten mit einer Großfamilie oder einer Gang. Weil die Leute arm sind, neigen sie dazu, sich gegenseitig das Wenige, das sie haben, streitig zu machen. Deswegen muss man da ein Kämpfer sein.
Du diskutierst in Deinem Buch auch, wie sich in »069« ein subversiver Umgang mit der deutschen Sprache andeutet. Was sagt dieser Umgang mit der Sprache über das Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft aus?
Ich hasse dieses Thema. Haftbefehl ist ein guter Rapper und war sprachlich total innovativ – dafür wird er ja vom Feuilleton auch gefeiert. Ich will ihn dafür aber ästhetisch nicht hochjubeln oder verniedlichen. Es ist eine Demonstration von Deutungsmacht: Ich rede zwar falsch, aber vielleicht nur nach Deinen Regeln. Hier sprechen wir so und ich werde trotzdem erfolgreich damit.
Klar ist seine Sprache auf der Pop-Ebene – mit Begriffen wie »Brudi« und aufgrund der Vermischung der Sprachen – witzig. Feuilleton-Journalisten waren deswegen total aus dem Häuschen. Ich konnte die Faszination dafür allerdings nie verstehen. Das Hochhalten des Slangs hat mich genervt, denn es ist eine oberflächliche ästhetische Betrachtung dessen, was da passiert. Es interpretiert Gangstarap, ohne die politische Ökonomie der deutschen Einwanderungsgeschichte oder der Marktwirtschaft anzuerkennen.
Über den Song »Gheddo« von Eko Fresh und Bushido schreibst Du, dass er Ausgrenzungs- und Prekaritäts-Erfahrungen ausdrückt, die mehr als nur materiell sind. Wie meinst Du das?
Allein schon die Tatsache, dass Rap als Ausdrucksform existiert, zeigt ja, dass es nicht nur materielle Dinge gibt. Es geht auch um Gefühle, die vermittelt werden, und um ein Erleben, das da ausgedrückt wird.
Es wird in diesem Song ein Anerkennungsdefizit bearbeitet. Das sieht man schön an der Zeile von Bushido »Ich steige in den Siebener / Das ändert nichts, doch es macht mich zufriedener«. Der Siebener ändert nichts an der Gesellschaftsordnung, welches die Quandts – die das Unternehmen besitzen, welches den Siebener gebaut hat – und das Ghetto als Segment der nach-industriellen Megastadt hervorgebracht hat. Er ändert auch nichts an der Lage der Lohnabhängigen oder der Migrantinnen im Land.
Aber Bushido selbst kann die Situation damit bewältigen. Er hat den Siebener und fährt raus aus dem Ghetto. Es ist interessant, wie damit die Bildwelten des Genres zu einer Dauerwerbesendung für das Premiumsegment der deutschen Automobilindustrie werden.
Du hast schon angedeutet, dass Gangstarap auch nach unten tritt. Welche Rolle spielt insbesondere der Sexismus und die Inszenierung von Männlichkeit?
Der Sexismus spielt zum einen eine wichtige Rolle, weil er jene Dominanzfantasien und sexuellen Wünsche, die es in dieser Gesellschaft gibt, auf sehr plastische Art transportiert. Zum anderen geht es um eine andere, männlich zentrierte Sexualität. Darüberhinausgehend behandelt das Genre die spezifische Männlichkeit des jungen Mannes mit Migrations- und ohne Bildungshintergrund. Er fungiert hier als Interpretations-Schema für den sozialen Aufstieg gegen Widerstände. Ich habe mich im Buch der Arbeit Raewyn Connells, einer Soziologin, bedient. In Der gemachte Mann interpretiert sie diese unterschiedlichen Konfigurationen von Männlichkeit als Momente einer Wettbewerbs-Dynamik, die den Anwärtern verspricht, hegemoniale Männlichkeit zu erlangen.
Es herrscht eine ständige Auseinandersetzung unterschiedlicher Typen von Männlichkeit, die um die Vertreterschaft hegemonialer Männlichkeit konkurrieren. Bushido und andere drücken damit ihren Versuch aus, die hegemoniale Männlichkeit zu aktualisieren.
Connell meint, dass das Ideal hegemonialer Männlichkeit, an dem sich die Gangstarapper unter den Bedingungen eines globalen Neoliberalismus ab den 1980er Jahren abarbeiten, das der weißen Manager ist. Der Manager macht mit der Aktentasche oder später dem Laptop die Welt bewegbar, indem er Finanzströme sowie Liefer- und Wertschöpfungsketten von seinem Büro aus kontrolliert.
Der Gangster sagt: »Ich bin auch oben!« Dieses Kernelement der Leistungsfähigkeit, was Connell der hegemonialen Männlichkeit zuschreibt, hat der Gangstarapper durch sein »Auch-Oben-Sein« in einem höheren Maße nachgewiesen. Denn während es der Manager nur von der Mitte nach oben geschafft hat, gelingt es dem Gangstarapper von ganz unten.
Inwiefern drücken sich im Gangstarap die neoliberalen oder kapitalistischen Widersprüche aus?
Gangstarap ist eine Fetischisierung neoliberaler Tugenden der Aufstiegs- und Leistungsorientierung. Sie werden kultiviert oder auf die Spitze getrieben. Das ist ein im Hip-Hop angelegtes Grundmotiv. In der Hip-Hop-Kultur macht man aus wenig viel: mit Samples aus einer Plattensammlung macht man Songs, mit Spitten, also sprachlichen Fähigkeiten, macht man Geld. Mit wenig viel zu machen, ist auch der kapitalistische Aufstiegstraum. Das ist die eine Seite.
Andererseits ist es zugleich eine Kritik der Prekarisierung. Es geht immer auch darum, dass es eigentlich nicht okay ist, in der Bronx leben zu müssen. Die Musik fügt sich in einen Krisen-Diskurs ein über diese vermeintlichen Problem-Stadtteile als Ausdruck einer ungerechten Gesellschaft, in der ein paar viel haben und viele wenig und noch mehr ganz wenig. Hip-Hop ist Ausdruck von schlechten Verhältnissen und gleichzeitig Ausdruck von Stolz auf diese Verhältnisse.
Das Durchsetzen gegen Widerstände nannte Christian Lindner einmal »dornige Chancen«. Ist Kollegah so etwas wie der Christian Lindner des Rap?
Nein, denn Christian Lindner ist ein Hänfling und hat natürlich nicht so viel Fitnesstraining gemacht wie Kollegah. Außerdem ist Lindner nur eine Marionette des Kapitals oder dessen, was Kollegah dahinter vermutet. Kollegah hat viele Aspekte, die Christian Lindner verkörpert, aufgenommen, aber er hat sie weiterentwickelt: Er hat seine Boss-Transformation durchlaufen. Kollegah hat mehr Muckis und lässt sich von den ideologischen Taschenspielertricks unserer Politiker und der herrschenden Klasse nichts vormachen.
Kollegah kann, anders als Christian Lindner, hinter den Vorhang blicken und erkennen, wer eigentlich die Strippen zieht. Er hat den Anspruch, die Welt zu durchschauen. Deswegen hat er diese Verschwörungstheorien entwickelt, die er transportiert. Das macht ihn noch verrückter als Christian Lindner.
Du hast bewusst kein Buch über die Rezeptionsgeschichte von Hip-Hop geschrieben, weil Du sagst, dass dafür die empirischen Daten fehlen. Gleichzeitig erörterst Du die Rezeption im deutschen Feuilleton. Welche Rezeption nimmst Du dort wahr?
Gangstarap übt in Deutschland eine große Faszination aus, und das manifestierte sich etwas zeitversetzt auch im Feuilleton. Zunächst war diese Faszination geprägt durch einen gewissen Ekel: Gangstarap wurde als Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung verstanden. Als Sidos »Mein Block« herauskam, fragte man sich, was in diesem Block los sei, was das für Gestalten seien. Ein Feuilletonist wie Jens Balzer denkt immer noch, Gangstarap sei eine Bedrohung für die Gesellschaft und er hat sehr oberflächliche Analysen in seinen Büchern verbreitet. Das hat sich insgesamt aber gewandelt.
Eine zweite Entwicklungsstufe war die Exotisierung von Gangstarap. Sidos »Mein Block« ist gewissermaßen eine Steilvorlage dafür. Dort konfrontiert er die Zuhörer mit ihren geheimen Wünschen, die er ausleben kann: »Du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus / Weil du denkst du hast alles, was du brauchst … Hier bekomm’ ich alles, ich muss hier nicht mal weg / Hier hab’ ich Drogen, Freunde und Sex«. Diese Sehnsucht nach dem richtigen Leben, die Sido einerseits den Menschen in ihrem Einfamilienhaus einredet, andererseits aber auch befriedigt, ist Gegenstand dieser Exotisierung.
Anschließend schlug diese Debatte in eine verwehrte Verbürgerlichung um, wie an Bushido gut zu sehen ist. Über seinen Umzug nach Kleinmachnow wurde gesagt, dass er dort nicht hinpasse. Nicht nur, weil er halber Tunesier ist, sondern auch weil er sich mit Kriminellen umgibt. Das möchte man in so einem gut situierten Vorort von Berlin nicht haben.
Ein vierter Aspekt der Rezeption ist das Unterlaufen der Erwartungen, die an Gangstarap gerichtet werden. Dies wird sehr deutlich an Haftbefehl. In einem gemeinsamen Interview mit Haftbefehl spricht Xatar über die harte Jugend im Ghetto und wie real die Gangster-Sachen seien, die das Album behandelt. Haftbefehl wirft ein: »Merkst du was? Wir werden hier gerade feuilletonisiert, Brudi!« Das ist ein schönes Beispiel, wie er sich dieser exotischen Zuschreibung entzieht oder zumindest für den Leser deutlich macht, was da geschieht.
Welche Rolle spielt denn die Konsumierung des Gangstarap in der Kulturwahrnehmung und Identitätsproduktion der Mittelklassen?
Was die Gangstarap-Rezeption aus den Mittelschichten macht, das kann ich nicht sagen. Dazu fehlen die empirischen Daten. Man kann jedoch beobachten, dass es seit 9/11 einen Krisen-Diskurs um Rütli-Schulen, kriminelle Araber und abgehängte Stadtteile gibt, in den sich Gangstarap einfügt.
Damals sagte Thilo Sarrazin, dass es das deutsche Humankapital gefährde, wenn die »dummen Türken und Araber« zu viele Kinder haben. Die AfD hat diese Thesen anschließend zum Kern ihrer Programmatik gemacht. Ehrlich gesagt sehe ich nicht, dass Gangstarap an dieser Sichtweise viel ändert, denn sie arbeiten mit genau mit diesen Klischees. Unsere Aufgabe als organische Intellektuelle ist es, hier zu intervenieren. Die Gesellschaft ist nicht so wie die Gangstarapper sie beschreiben. Teilweise mögen sie recht haben, aber die Lösung besteht darin, soziale Ungleichheiten zu reduzieren, damit Leute nicht mehr unter benachteiligten Bedingungen leben müssen. Gangstarap allein führt nicht dazu, dass die Mittelschichten als Wähler und Staatsbürgerinnen eine Politik bestärken, die solche Ungleichheiten abschaffen würde.
In der Linken wird Gangstarap gern als Rebellion gedeutet. Was würdest Du dazu sagen?
Gangstarap ist auch rebellisch – nämlich gegen die Deckelung von dominanter Männlichkeit, gegen die Mäßigung der Konsumwünsche von Armen, gegen das Unterordnen gegenüber dem Lehrkörper. Es ist eine Rebellion gegen ganz viele Momente einer bürgerlichen Gängelung oder Unterdrückung. Die Gangstarapper entgegnen: »Nein, ich halte mich überhaupt nicht zurück! Ich halte mich nicht mal an Gesetze, ich halte mich an gar nichts.« Das ist schon rebellisch.
Ist es nicht auch eine individualistische Rebellion? Ist das kritikwürdig und sollte man daher eine Kollektivlösung fordern?
Ich bin eher hedonistischer Kulturkonsument. Politische Kunst ist gut für junge Leute, die politisiert werden. Aber für viel mehr als ein paar Impulse ist politische Musik eigentlich nicht gut. Sie eignet sich nicht dazu, sich belehren zu lassen. So sehe ich das auch bei Gangstarap: Man kann rebellische Impulse erhalten und vielleicht für Ungleichheit sensibilisiert werden. Alles, was darüber hinausgeht, muss auf dem Weg der politischen Bildung anders vermittelt werden. Ich bin da eher auf der künstlerischen und hedonistischen Seite.
Eine letzte Frage: Welche Songs sind besonders gut hedonistisch genießbar?
Ich mag »Sonnenbank Flavour« und vom neuen Bushido-Album fand ich »Magazin für Magazine« sehr gut, weil er dort namentlich alle möglichen (Rap-)Journalisten beleidigt. Das war großes Kino: Nachdem er in einem zweieinhalbstündigen, sehr persönlichen und intimen Interview mit Falk Schacht über seine Doku sprach, beleidigt er diesen nur zwei Wochen später auf seinem Album. Das war ein starker Song.
Martin Seeliger ist stellvertretender Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft und leitet dort die Abteilung »Wandel der Arbeitsgesellschaft«. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kultur- und Politische Soziologie sowie Gewerkschaftsforschung.
Johannes Liess ist Mitarbeiter von DIE LINKE. Berlin.
Martin Seeliger ist stellvertretender Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft und leitet dort die Abteilung »Wandel der Arbeitsgesellschaft«. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Kultur- und Politische Soziologie sowie Gewerkschaftsforschung.