13. Mai 2022
Heute vor dreißig Jahren starb Gisela Elsner. Sie war eine der bissigsten Kritikerinnen des deutschen Bürgertums, rechnete schonungslos mit der SPD ab und stritt für einen marxistischen Feminismus. Kein Wunder, dass sie vom Feuilleton verschmäht wurde.
Gisela Elsners Sohn, der Filmemacher Oskar Roehler, verfilmte mit »Die Unberührbare« den letzten Lebensabschnitt seiner Mutter.
Schriftsteller sein heißt, einen Beruf zu ergreifen, der unmittelbar mit einer Verantwortung im Hinblick auf die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden ist.« Diese Maxime setzte sich die wohl bedeutendste Satirikerin der Bundesrepublik Gisela Elsner.
Die 1937 in Nürnberg geborene Schriftstellerin richtet in ihren Texten den Blick auf die Nähe zwischen Faschismus und Kapitalismus und griff mit ihrer Kritik am liberalen Feminismus schon in den 1980er Jahren eine Debatte auf, die bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Von der Veränderbarkeit der Gesellschaft sei sie immer überzeugt gewesen, denn: »Wenn ich das nicht wäre, würde ich nicht schreiben.« Das Schreiben war für Elsner immer auch ein politischer Akt.
Als Tochter eines Siemens-Direktors wuchs sie in bürgerlichen Verhältnissen auf, über die sie später sagen sollte: »Sich irgendwie zwischen den Klassen einzurichten, das ist für jemanden meiner Herkunft nicht möglich. Entweder bleibt man in dem Stall, in dem man geboren wurde, oder man schlägt sich auf die andere Seite.« Und das tat Gisela Elsner – sie sollte einer der schärfsten Kritikerinnen ihrer Herkunftsklasse werden. Als Jugendliche rebellierte sie zunächst gegen die Statussymbole ihrer Familie und trat als Erwachsene 1977 in die DKP ein, wo sie 1989 in den Parteivorstand gewählt wurde.
Von ihren ersten literarischen Versuchen in den 1950er Jahren bis zu ihrem Suizid 1992 veröffentlichte sie zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays, Hörspiele und sogar ein Opernlibretto. Ihr Werk wurde mehrmals ausgezeichnet, doch ein fester Platz im etablierten literarischen Kanon bleibt ihr bis heute verwehrt.
Die Literaturkritik reagierte auf Elsner zwiespältig. Begeisterte Besprechungen gab es zwar auch, Elsner wurde jedoch vor allem als »Femme fatale« mit »bösem Blick« diskreditiert. In einer Kritik zu ihrem ersten Roman Riesenzwerge (1964) heißt es sogar: »Wegen dieses Blickes hätte man die Elsner vor ein paar hundert Jahren wohl als Hexe verbannt.«
Diese Dämonisierung drängte sie an den Rand des literarischen Feldes. Das Feuilleton interessierte sich mehr für Elsners Aussehen als ihr Werk. Ihre Texte wurden trivialisiert und ihre sozialistischen Positionen als Verrücktheit abgetan.
»Elsner problematisiert die ›schreibenden Feministinnen, die voller Hingabe Selbstbespiegelung treiben, ohne sich um die Arbeitslosigkeit, den Mietwucher, die Inflation oder das Wettrüsten zu kümmern.‹«
Elsner wusste um die Systematiken hinter der Literaturkritik und klagte an, »wie reaktionär die bürgerliche Literaturkritik in der Bundesrepublik zumal bei der Beurteilung der von Frauen verfassten Bücher« sei. Bei Elsner kam noch hinzu, dass sie sich auf das Gebiet der Satire wagte, das vor allen Dingen von Männern dominiert war.
Gegenüber dem Schriftsteller Roland M. Schnerikau, dem sie freundschaftlich verbunden war, betonte sie : »Ich bin eine schmutzige Satirikerin.« Damit reflektiert sie die bereits beschriebene Fremddarstellung seitens der Kritik, aber auch ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin, die es wagt, auch die unliebsamen Seiten der BRD zu beleuchten und die nicht in das vorgefertigte Frauenbild passen will.
Ihre Position als Satirikerin und Sozialistin im Literaturbetrieb beschreibt sie als »literarisches Ghetto«: »Als Autorin frage ich mich schon lange nicht mehr, was der Markt gerade verlangt. Weil ich aus eigener Erfahrung weiß, daß es eine Zensur gibt, versuche ich, wie Brecht, listig genug zu sein, trotzdem das sagen zu können, was ich für notwendig halte. Es genügt nicht, die Wahrheit zu kennen; man muß sie auch unter die Leute bringen.«
Es ist vor allem der Literaturwissenschaftlerin Christine Künzel zu verdanken, dass Gisela Elsner nicht in ihrem »literarischen Ghetto« vergessen wurde. Bis 2021 erschien eine von Künzel herausgegebene Werkausgabe Gisela Elsners im Berliner Verbrecher Verlag, die auch das bislang unveröffentlichte Typoskript Otto der Großaktionär oder den bis dato nur im Russischen erschienenen Roman Heilig Blut, den mehrere deutschsprachige Verlage abgelehnt hatten, einer Öffentlichkeit verfügbar machte. Abgeschlossen wurde die Werkausgabe leider nie.
Elsner wird oft mit der etablierteren Elfriede Jelinek verglichen. Die Schriftstellerinnen waren befreundet und schätzten sich sehr. Über Elsners Texte und deren Rezeption sagte Jelinek, »[sie] schreibt das Normale, allerdings in seiner Monstrosität. Aber das hat eben wieder nicht sie zu bestimmen, was monströs ist und was nicht, und deswegen bringen wir sie lieber zum Schweigen«.
In ihrem Roman Das Berührungsverbot (1970) legte Elsner die monströse Normalität patriarchaler Gewalt offen und richtete einen ungeschönten Blick in die bürgerlichen Schlafzimmer der BRD. In Österreich wurde der Text sogleich als jugendgefährdend eingestuft. In minutiösen Detailbeschreibungen zeichnet Elsner die Ehe als Institution der Unterdrückung und des sexuellen Missbrauchs. Sie zeigt auf, wie die vermeintlich private Angelegenheit sexualisierter Gewalt politisch durchdrungen ist. Die Frauenfiguren sind in ihrer Handlungsautonomie stark eingeschränkt; sie sind finanziell abhängig und werden oft nur als »Frau von« benannt. Ihr Körper gehören ihnen nicht, sie werden als Waren auf dem Markt gehandelt. Sexualität und ökonomische Zwänge sind nicht ohne einander zu denken.
Das Berührungsverbot wurde in der Rezeption unter anderem als anti-feministisch aufgenommen, da der Text von der Frauenbewegung der 1970er Jahre nicht mit Jubelstürmen aufgenommen wurde. Ihm fehle die »weibliche Empathie«, er biete keine Identifikation mit den Figuren. Elsner hingegen, die die Reaktionen des Feuilletons immer gleich mitreflektierte, entgegnete: »Läßt sie kein gutes Haar an Neofaschisten, Grundstrücksspekulanten, Menschenschindern oder Kriegsgewinnlern, wirft man ihr Mitleidslosigkeit und Gefühlskälte vor.«
Die Veröffentlichung von Berührungsverbot war nicht der einzige Anlass, bei dem Elsner vom damaligen feministischen Mainstream missachtet wurde. Die Ablehnung – das sei an dieser Stelle gesagt – beruhte auf Gegenseitigkeit. Elsner kritisiert schon damals, dass die »Frauenbewegung keine Bewegung der unteren Schichten« sei. Aus heutiger Perspektive erweist sich ihre Positionierung jedoch nicht als generelle Kritik des Feminismus, sondern vielmehr als umfassendes Plädoyer für einen marxistischen Feminismus der 99 Prozent.
Der Essay Autorinnen im literarischen Ghetto (1983) problematisiert die »schreibenden Feministinnen, die voller Hingabe Selbstbespiegelung treiben, ohne sich um die Arbeitslosigkeit, den Mietwucher, die Inflation oder das Wettrüsten zu kümmern«. Weiter heißt es, dass diese »Feministinnen ausschließlich mit ihrer Selbstfindung und der Vervollkommnung« beschäftigt seien und »ihre Probleme als individuelle Probleme betrachten, die keine gesellschaftlichen Ursachen haben«. Hiermit benennt Elsner schon Anfang der 1980er Jahre die Grenzen eines liberalen Feminismus.
Die Essayistin Elsner zeigt sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit einer allzu einseitigen Frauenbewegung als scharfsinnig, sondern auch in zahlreichen weiteren kritischen Schriften. Sie analysierte unter anderem »Herrenmagazine«, Reden der Bundeskanzler – die sie als »Volkszertreter« bezeichnete – oder verweis auf die Doppelmoral der Grünen.
»Nur wissen die Leute alle nicht, woher die Schäden kommen, woher die Arbeitslosigkeit kommt, woher es kommt, daß der Sozialetat gekürzt und der Rüstungsetat erhöht wird.«
Ungemein weitsichtig erweist sich ihre Auseinandersetzung mit dem so wichtigen Freiheitsbegriff, der bis heute vor allen Dingen von Neoliberalen vereinnahmt wird. In Elsners Augen bot die BRD lediglich eine Illusion der Freiheit, die diese auf den Konsum reduziert: Die Freiheit sei zu einer individualistischen Kategorie geschrumpft, zur Möglichkeit »einem Hobby zu frönen« oder »beispielsweise zwischen fünf Wurstsorten eine Auswahl zu treffen«. Warnend schrieb Elsner: »Was die durch eine hierarchische Ordnung bestimmten, eher diktatorischen Konzerne, Unternehmen und Betriebe betrifft, so wird hier die Freiheit zum Privileg einer Minderheit, Entscheidungen zu fällen und Aktivitäten vom Zaun zu brechen, die für die Mehrheit oftmals die verhängnisvollsten Folgen haben. Es entpuppt sich die Freiheit von Hinz und Kunz und Lieschen Müller als eine Freiheitsillusion, während die Freiheit einer finanzkräftigen Minderheit zunehmend anarchistische Züge annimmt.«
Auch durch ihre Herkunft galt Elsners Interesse der Darstellung der Unternehmer. Neben Emile Zola nannte Gisela Elsner auch immer wieder Heinrich Mann als Vorbild für die literarische Darstellung des Unternehmertums. Elsner kannte jene gesellschaftlichen Sphären aus eigener Erfahrung, betrieb aber auch aufwendige Recherchen. Die Mechanismen des Machterhalts im Kapitalismus zu entlarven, war eines der Hauptanliegen ihres Schaffens: »Nur wissen die Leute alle nicht, woher die Schäden kommen, woher die Arbeitslosigkeit kommt, woher es kommt, daß der Sozialetat gekürzt und der Rüstungsetat erhöht wird. Was tut unsere Regierung? Was macht sie für Gesetze? Wem dienen sie?«
Der Punktsieg (1977) ist ein Unternehmerroman, der eben diese Fragen stellt. Der Protagonist Norbert Mechtel ist Erbe einer Dessousfabrik, der sich politisch in der SPD engagiert. Mechtel wechselt – je nach Belieben und Vorteil – seine Rollen. Mal ist er ein berechnender Unternehmer und betont seine Zugehörigkeit zu den oberen Kreisen der Gesellschaft, mal inszeniert er sich arbeiternah und empathisch. Elsner schreibt über ihre Intention des Romans: »Und nun wollte ich zeigen, wie diese ›Progressivität‹ aussieht, wenn ein Unternehmer die Partei der Arbeiterklasse wählt.«
Vor einem Fernsehinterview kauft sich Mechtel eine »schwarze Antilopenweste« und liest im »EINMALEINS DER ÜBERZEUGUNGSKUNST«. Inszeniert vor einem geliehenen Chagall-Gemälde gibt er ein Interview, das so schwammig wie inhaltsleer ist. Die Selbstinszenierung ist wichtiger. Politische Ziele entlarven sich – im Laufe der Handlung – als eigentliches Interesse des Unternehmers, aber wenigstens ist die Botschaft ansehnlich verpackt.
Mechtel entlässt zum Schluss des Romans selbst Arbeiterinnen. Dies rechtfertigt er, indem er auf die Millionen Arbeitslosen in der BRD verweist, da würden dreißig entlassene Näherinnen mehr keine Rolle spielen.
Mechtels Darstellung eines vermeintlich progressiven Unternehmers nimmt den Typus eines Gerhard Schröder – den »Genossen der Bosse« und König der Selbstinszenierungen – schon vorweg. Elsner erzählt mit Der Punktsieg die Heuchelei einer janusköpfigen SPD, die ihre Basis verraten hat. Der Roman ist ihre große Abrechnung mit der »Arbeiterpartei«.
Elsners Kritik an der SPD, an einer liberalen Auslegung des Feminismus oder des Rüstungsetats sind nur wenige Beispiele, die aufzeigen, warum ihre Texte aktueller nicht sein könnten. Wenn Roland M. Schernikau schreibt »gisela elsners bücher sind nicht privat«, dann hat er damit recht. Elsners Texte sind politisch und diskutieren Missstände, die bis in unsere Gegenwart reichen. Es gilt zu hoffen, dass die minutiöse Beobachterin der bundesrepublikanischen Verhältnisse weiterhin aus ihrem »literarischen Ghetto« befreit und gelesen, erforscht und besprochen wird.