09. Dezember 2021
Konzernriesen wie Amazon haben während der Corona-Krise überdurchnittlich hohe Profite gemacht und ihre Marktmacht ausgebaut. Warum das gefährlich ist und weshalb diese Gewinne besteuert werden müssen, erklärt der EU-Parlamentsabgeordnete Martin Schirdewan im JACOBIN-Interview.
In Feierlaune: Amazon-Gründer Jeff Bezos vor seinem privaten Weltraumflug, 20. Juli 2021.
Im Gegensatz zur breiten Mehrheit haben viele Superreiche während der Pandemie enorme Vermögenszuwächse verbucht. Viele Großkonzerne konnten von der Krise profitieren, da sich Gewinnerwartungen vervielfachten. Um sie zur Kasse zu bitten, fordert der Vorsitzende der Linksfraktion im Europäischen Parlament Martin Schirdewan eine Übergewinnsteuer, die bei außerordentlich hohen Unternehmensgewinnen fällig wird. Warum wir diese Steuer brauchen und welche Wirkung sie entfalten könnte, erklärt er im Gespräch mit JACOBIN.
Die Coronapandemie war für Millionen Menschen mit finanziellen Einschnitten verbunden: Kurzarbeit, unterbrochene Lieferketten, Stillstand in der Produktion.
Die Gesundheitskrise ist für große Teile der Bevölkerung auch wirtschaftlich eine existenzielle Bedrohung. Noch nie wurden so viele Beschäftigte in Deutschland in Kurzarbeit geschickt – Anfang 2020 waren 10,1 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Dazu kommt, dass fast 40 Prozent der jüngeren Selbstständigen über die Hälfte ihrer erwarteten Umsätze verloren haben. Und 15 Prozent der Selbstständigen haben seit Ausbruch der Coronapandemie überhaupt gar keine Einnahmen gemacht. Frauen sind in diesem Falle sogar stärker von den Umsatzeinbußen betroffen als Männer.
Und wie sieht es bei größeren Unternehmen aus?
Das Wirtschaftsministerium hat berichtet, dass kleine und mittelständische Unternehmen von den Folgen der Pandemie deutlich stärker betroffen worden sind als Großunternehmen. Das heißt also, dass zum Beispiel die Gaststätte oder das Hotel viel stärkere Einbußen hatten als die Big-Tech- oder Big-Pharma-Unternehmen. Insgesamt führte das dazu, dass in Deutschland über 150 Milliarden Euro an Wirtschaftshilfen an kriselnde Unternehmen und Selbstständige gezahlt wurden.
Auf der anderen Seite sehen wir, dass insbesondere die multinationalen Großkonzerne sagenhafte Gewinne kassiert haben. Es gibt Großkonzerne, die von der allgemeinen Notlage sowie auch den Corona-Beschränkungen, die staatlicherseits verhängt worden sind, massiv profitiert haben. Amazons Gewinne sind 2020 zum Beispiel um 84 Prozent in die Höhe geschossen. Der Pharmakonzern AstraZeneca hat zwischen April 2020 und April 2021 einen Gewinnanstieg von 122 Prozent verzeichnet.
Sind Amazon und AstraZeneca Ausreißer unter den Krisenprofiteuren oder lässt sich da eine Tendenz beobachten?
Um das Ausmaß der Krisengewinne genauer bestimmen zu können, hat die Forschungsgruppe CORPTAX der Prager Karls-Universität im Auftrag der Linksfraktion eine Studie zu diesen Übergewinnen erarbeitet. Und dabei ist herausgekommen, dass allein die Multis, die in der EU tätig sind, 360 Milliarden Euro an Übergewinnen im Krisenjahr 2020 eingenommen haben – das sind also lediglich die Gewinne, die über das übliche Maß an Gewinnen und Gewinnwachstum hinausgehen. Multinationale Großkonzerne mit Hauptsitz in Deutschland haben 2020 15 Milliarden Euro an Übergewinnen eingenommen.
Du forderst daher eine Übergewinnsteuer. Wieso ist sie notwendig?
Der Kerngedanke einer Übergewinnsteuer besteht darin, dass diejenigen, welche von einer gesellschaftlichen Notsituation am stärksten profitiert haben, auch stärker zur Überwindung dieser Notsituation beizutragen haben. Allein die Vermögen der Geschwister Klatten und Quandt sind im Krisenjahr 2020 jeweils um schätzungsweise 10 Milliarden Euro gestiegen, während gleichzeitig 10,1 Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit geschickt wurden. Die Coronapandemie ist unserer Ansicht nach eine gesellschaftliche Ausnahmesituation, von der vor allem einige wenige Großkonzerne massiv profitiert haben, während der Großteil der Bevölkerung teilweise sehr stark darunter gelitten hat.
Wir fordern daher, dass die Profiteure ihren Beitrag an den Kosten der Krise und vor allem auch am Wiederaufbau zu leisten haben. Dadurch können wir krisenbedingte Marktverzerrungen und Monopolisierungen mit umverteilenden Eingriffen bekämpfen und gleichzeitig Investitionen in öffentliche Leistungen finanzieren. Mit dieser Steuer geht es nicht darum, die gesamten Unternehmensgewinne zu besteuern, sondern lediglich die Übergewinne, die aufgrund einer gesellschaftlichen Notlage einkassiert wurden.
Welche Branchen und Unternehmen wären von der Übergewinnsteuer besonders betroffen?
Ja, das ist tatsächlich eine sehr spannende Frage, weil man ganz genau gucken muss, welche Branchen und Sektoren eigentlich wirklich davon profitiert haben. Zunächst ist da das verarbeitende Gewerbe zu nennen, worunter an dieser Stelle auch Big Pharma fällt. Der zweite Sektor, der massive Übergewinne erzielt hat, ist der ganze Informations- und Kommunikationssektor, also naheliegenderweise Tech-Giganten wie Google, Microsoft und Facebook, aber auch Netflix und so weiter. Und drittens trifft das den Sektor der Finanzdienstleister, darunter Unternehmen wie Visa, die massive Profitsteigerungen verbuchen konnten, weil die Notsituation ihrem Geschäftsmodell massiv entgegengekommen ist.
Über wie viele Unternehmen reden wir also?
Unsere Studie zeigt, dass selbst unter den multinationalen Konzernen nur etwa jedes fünfte Unternehmen Übergewinne kassiert hat. Das zeigt, wie erschreckend die Konzentration von Krisengewinnen tatsächlich ist. In Deutschland haben allein fünf Großkonzerne über 87 Prozent aller Krisengewinne eingenommen – darunter ein Konzern, auf den ganze 60 Prozent dieser Gewinne zurückfallen.
Diese Dynamik lässt sich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit beobachten. Im Informationssektor verbucht ein einziger der genannten Großkonzerne 50 Prozent aller globalen Krisengewinne. Das sind also unglaubliche Dimensionen und enorme Gewinnsteigerungen während der Pandemie. Und das führt dazu, dass diese wenigen Großkonzerne wirtschaftliche und politische Macht akkumulieren, der Markt verzerrt wird und gleichzeitig Monopolbildungen begünstigt werden.
In der Studie werden unterschiedliche Steuerhöhen der Übergewinnsteuer betrachtet. Welche hältst Du für sinnvoll und ab wann soll sie gelten?
In der Vergangenheit wurden für Krisengewinne Steuersätze zwischen 50 und 100 Prozent fällig. Ich denke, wir sollten daher auf Übergewinne zunächst eine Steuer von 50 Prozent erheben. Das entspricht auch unserer politischen Forderung. Damit wären EU-weit steuerliche Mehreinnahmen von etwa 25 Milliarden Euro zu erwarten, die dann entsprechend für Investitionen ausgegeben werden könnten.
Je nachdem, wie sich die Pandemie entwickelt und wie der Wiederaufbau gestaltet wird, kann man natürlich darüber nachdenken, ob man den Steuersatz nochmal nachjustiert und erhöht, wie es auch historische Vorbilder gemacht haben. Die restlichen Übergewinne würden dann tatsächlich erst einmal bei den Konzernen bleiben.
Die Überlegung von uns ist aber, dass die Übergewinnsteuer für die beiden Krisenjahre 2020 und 2021 erhoben werden müsste. Und ob sie dann auch für das kommende Jahr 2022 gelten sollte, ist noch nicht ausgemacht.
Was würden die Unternehmen mit den Gewinnen machen, wenn sie nicht besteuert werden würden?
Ich kann natürlich nicht genau sagen und wissen, was Unternehmensbesitzer wie etwa Elon Musk vorhaben. Vielleicht möchte er weiter den Weltraum privatisieren, vielleicht wird er aber auch über Twitter erfragen, was denn mit seinem Gewinnen passieren soll und entsprechend vorgehen. Zu befürchten wäre beides.
Was wir definitiv wissen, ist, dass die Gewinne, wenn sie nicht besteuert würden, wahrscheinlich reinvestiert werden würden. Die Marktmacht, die diese Großkonzerne gegenüber den Wettbewerben haben, würde ausgebaut und die monopolartige Stellung verfestigt werden. Gleichzeitig können wir jetzt schon davon ausgehen, dass ein Teil der Übergewinne direkt in die Taschen der Anteilseigner ausgeschüttet wurde. Das ist sicherlich auch schon passiert.
Wie könnte man verhindern, dass die Steuer umgangen wird?
Natürlich würden die Konzerne durch Steuertricks versuchen, sich der Besteuerung zu entziehen. Hier wäre natürlich darauf zu achten, dass die Gewinne nicht in Steuersümpfe verschoben werden können. Die Steuer soll EU-weit gelten und könnte nach dem Prinzip der Gesamtkonzern-Besteuerung erhoben werden. Das heißt, dass die Gewinne der einzelnen Tochtergesellschaften eines Großkonzerns in unterschiedlichen Ländern nicht unabhängig voneinander besteuert würden, sondern dass der Konzern als Ganzes mit all seinen Tochtergesellschaften weltweit betrachtet würde und die EU ihren Anteil an den Übergewinnen besteuern kann. Ob ein Großkonzern seine Gewinne dann in eine Steueroase wie Luxemburg verschiebt, wäre dann unerheblich. Alle Gewinne weltweit, eingeschlossen die der Tochtergesellschaften in den Steuersümpfen, würden für die Besteuerung zusammengelegt werden.
In der breiten Öffentlichkeit ist diese Steuer relativ unbekannt. Dabei gab es so etwas schon einmal.
Genau, eine solche Steuer ist nichts Neues. Während des Ersten Weltkrieges wurde sie von Frankreich und Großbritannien zunächst mit einem Satz von bis zu 50 Prozent eingeführt, dann am Ende des Krieges auf über 80 Prozent angehoben, um den Wiederaufbau zu finanzieren. Während des Zweiten Weltkrieges haben weltweit insgesamt 22 Länder eine derartige Steuer eingeführt, teilweise mit Sätzen von 100 Prozent. Auch in Japan wurden nach dem Erdbeben in Fukushima 2012 Steuern auf Krisengewinne erhoben, um den Wiederaufbau nach der Nuklearkatastrophe zu finanzieren.
Heutzutage fordern das vor allem Wissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler, auch vom Internationalen Währungsfonds, die interessanterweise eine sogenannte »Covid 19 Recovery Contribution« vorgeschlagen haben. Das ist im Prinzip genau das Gleiche: Die Profiteure der Krise sollen den Wiederaufbau finanzieren und dafür entsprechend mit Übergewinnsteuern belegt werden. Neben der Linkspartei haben das ursprünglich sogar auch die Grünen gefordert in Form eines Corona-Soli.
Allerdings ist das gesamte Thema Steuergerechtigkeit in der Koalitions-Debatte ziemlich schnell vom Tisch gewischt worden durch die ideologischen Positionen der FDP. Wenn es um gesellschaftliche Verteilungsfragen geht, wird uns die Ampel enttäuschen. Das ist im Koalitionsvertrag erkennbar. Und auch die Grünen und die SPD werden da ihre ursprünglichen Positionen räumen.
Der Ökonom Marcel Fratzscher hat sich nach Deinem Vorstoß kritisch geäußert. Unternehmen wie Biontech solle man für ihre Gewinne nicht bestrafen. Was hältst Du davon?
Dieses Argument ist natürlich totaler Humbug. Aber wir werden sowas immer wieder hören, auch von Ökonomen. Die Annahme, dass wir es hier einfach mit erfolgreichen Unternehmen zu tun haben, ist schon im Ansatz falsch. Denn der außergewöhnliche Unternehmenserfolg wurde ja durch den Krisenzustand hervorgebracht. Diese Konzerne hatten gegenüber allen anderen Marktteilnehmern beachtliche Vorteile.
Es geht nicht darum, irgendjemanden zu bestrafen, sondern – ganz im Gegenteil – faire Bedingungen wiederherzustellen. Und das geht nur, wenn sich die Krisenprofiteure gerecht am Wiederaufbau beteiligen. Hinzu kommt, dass wir ja auch nur über die Übergewinne sprechen, alle natürlichen Gewinne sollen klassisch besteuert werden.
In dieser ganzen Debatte muss man außerdem beachten, dass ein Gutteil der Gewinne – das gilt vor allem für die Pharmaindustrie – massiv mit öffentlichen Geldern gefördert wurden. Deren Erfolg wurde durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler überhaupt erst ermöglicht. Der Bund hat zum Beispiel ein Förderprogramm von 750 Millionen Euro aufgelegt. Davon hat allein Biontech über 320 Millionen Euro erhalten. Und die müssen die auch nicht zurückzahlen. Wir alle, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, haben zu diesem Erfolg beigetragen. Da ist es wirklich nur fair, wenn die Profiteure dann ihren gerechten Anteil am Gemeinwesen und an der Entwicklung des Gemeinwesens leisten.
Die Steuer dürfte aber kein Allheilmittel sein. Viele Pandemiegewinne wurden, wie Du bereits sagtest, schon an die Anteilseigner ausgeschüttet.
Ja, das ist richtig, ein Großteil der Gewinne dürfte bereits an die Anteilseigner ausgeschüttet worden sein. Wir haben von Anfang an auch auf diese Problematik gute Antworten gegeben und im Wahlkampf stark gemacht: Wir brauchen eine Vermögensabgabe für Milliardäre. Denn insbesondere die Vermögen der Milliardäre sind in der Krise exorbitant gewachsen. Der Reichtum der reichsten 10 Milliardäre Europas ist zwischen 2020 und 2021 um sagenhafte 180 Milliarden Euro gestiegen. Da das Geld entsprechend auch wieder abzuschöpfen, liegt klar auf der Hand. Das tut denen nicht weh und ist gut für die gesellschaftliche Entwicklung.
Martin Schirdewan ist Ko-Vorsitzender der Fraktion THE LEFT im Europäischen Parlament und Ko-Vorsitzender der Partei DIE LINKE.