12. September 2024
Familienministerin Lisa Paus stellt einen neuen Gesetzentwurf vor, der Betroffene vor geschlechtsspezifischer Gewalt schützen soll. Viele der geplanten Maßnahmen sind ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch ist das Gesetz nur Symptombekämpfung.
Blumen für ein Opfer eine Femizids in Berlin, 19. April 2024.
Ende August lösten zwei Femizide in einer Woche in Berlin Wut aus. Eine 28-jährige und eine 36-jährige Frau wurden von ihren Ex-Partnern getötet. In beiden Fällen war eine Vorgeschichte häuslicher Gewalt bekannt. Eine dritte Frau wurde in derselben Woche lebensgefährlich von ihrem Ex-Partner verletzt. Am Dienstagmorgen wurde eine Frau in Tegel von ihrem Ehemann mit einem Messer angegriffen, als sie ihre Kinder zur Kita brachte. Allein in Berlin wurden dieses Jahr schon 28 Frauen von Männern getötet. Trotz der Regelmäßigkeit solcher Vorfälle, unternimmt die Politik wenig.
Über 250.000 Menschen waren im Jahr 2023 von häuslicher Gewalt betroffen – 6,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Bundesweit sind die Frauenhäuser stark überlastet. Laut einer Recherche von Correctiv konnten Frauenhäuser 2022 im Durchschnitt an 303 Tagen keine Betroffenen aufnehmen. Aktuell hängt es von den einzelnen Bundesländern ab, wie viel Geld für Schutz von Gewaltbetroffenen ausgegeben wird. Berechnungen der Istanbul Konvention zufolge fehlen bundesweit 14.000 von 21.000 Plätzen in Notunterkünften. Jede vierte Frau muss ihren Aufenthalt teilweise oder vollständig selbst bezahlen. Studentinnen, Rentnerinnen oder Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus, die keine Sozialleistungen beziehen können, müssen sich also fragen, ob sie es sich überhaupt leisten können, in einem Frauenhaus Schutz zu suchen. Besonders für trans, nicht-binäre oder intergeschlechtliche Personen fehlen bedarfsgerechte Angebote.
»Der Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung ist nutzlos, wenn sich der Ausbau der Schutzeinrichtungen weiter verzögert.«
Nicht wenige Betroffene sind in der Gewaltbeziehung gefangen, da die Auflösung der Ehegemeinschaft, zum Beispiel durch den Umzug in ein Frauenhaus, ihre Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland gefährdet. Eine eigenständige Verlängerung des Aufenthaltstitels kann erst nach der Regelbestandszeit der Ehe von drei Jahren innerhalb der Bundesrepublik beantragt werden.
Am 1. Februar 2018 ist die Istanbul Konvention – ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt – auch in Deutschland in Kraft getreten. Die wenigsten der beschlossenen Maßnahmen wurden bisher umgesetzt. Die Einführung einer neuen EU-Richtlinie für einen effektiven und durchsetzbaren Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt wurde sogar beinahe von Deutschland blockiert, da sich das Bundesjustizministerium gegen eine EU-weite Harmonisierung des Strafbestandes der Vergewaltigung ausgesprochen hat.
In mehr als sechs Jahren wurde keine staatliche Koordinierungsstelle gegründet, die bundesweit agieren und zwischen Schutzeinrichtungen, Justiz und Polizei vernetzen kann. Aus Datenschutzgründen wurden ebenso keine Fallkonferenzen zum Informationsaustausch zwischen Polizei, Justiz und Beratungsstellen durchgeführt, die die Eskalation von Gewalt in vielen Fällen hätten vermeiden können. Stattdessen müssen Hilfsorganisationen für Gewaltbetroffene dank Haushaltskürzungen um ihre Finanzierung bangen oder werden geschlossen, wie die Mädchen- und Frauenzentren Frieda und Phantalisa im Frühjahr in Berlin.
Dass sich dringend etwas ändern muss, fordert nun auch die Familienministerin Lisa Paus. Sie stellt einen Entwurf für das Gewalthilfegesetz vor, das noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden und endlich umsetzen soll, was in der Istanbul Konvention festgesetzt wurde. Das Gesetz soll in erster Linie die Finanzierung von Frauenhäusern und deren Ausbau regeln. So soll garantiert werden, dass Betroffene von häuslicher Gewalt einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung erhalten. Eine einzelfallunabhängige Finanzierung, die laut Frauenhauskoordinierung (FHK) dringend notwendig ist, soll dafür sorgen, dass keine Frau aus finanziellen Gründen keinen Schutz sucht. Der Entwurf sieht Änderungen im Asylgesetz und Aufenthaltsgesetz vor, um zu ermöglichen, dass Ausweisungsverfahren gewaltbetroffener Frauen so lange ausgesetzt werden, bis sie einen unabhängigen Aufenthaltstitel beantragt haben. Auch das Problem digitaler Bedrohungen, wie Stalking über Smartphones oder Ortungsgeräte, wird aufgegriffen. Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern sollen Fortbildungen zu diesen Themen erhalten und Betroffene einen Rechtsanspruch auf Beratung bei digitaler Gewalt.
»Der Entwurf für das Gewalthilfegesetz lässt gänzlich offen, ob eine dauerhafte Finanzierung durch den Bund gesichert ist.«
Der Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung ist jedoch nutzlos, wenn sich der Ausbau der Schutzeinrichtungen weiter verzögert. Die Länder haben fünf Jahre Zeit, ihren Bedarf und die Pläne für den Ausbau des Systems zu melden. Der Rechtsanspruch würde damit frühestens ab 2030 gelten, sollte das Gesetz wie geplant noch im kommenden Jahr verabschiedet werden. Dass in fünf Jahren dann genug Geld für die Umsetzung vorhanden sein wird, ist keineswegs sicher. Gänzlich offen lässt der Entwurf auch, inwieweit eine dauerhafte Finanzierung durch den Bund gesichert ist. Auch Präventionsarbeit soll laut Gesetz gefördert werden, die Ausführung bleibt aber vage.
Das Gewalthilfegesetz ist ein unerlässlicher Schritt in die richtige Richtung. Ein Ausbau des Schutz- und Hilfesystems für von geschlechtsspezifischer Gewalt Betroffene ist längst überfällig. Doch das eigentliche Problem besteht weiter: Es sind die Betroffenen, die ihre Wohnorte und sozialen Umfelder verlassen müssen, um ein gewaltfreies Leben zu führen. Sie müssen ständig befürchten, von ihrem Ex-Partner oder einem Familienmitglied gefunden und bedroht oder schlimmstenfalls getötet zu werden. Veraltete Rollenbilder, die Frauen unterdrücken und Männer glauben lassen, sie hätten einen Besitzanspruch auf ihre Partnerinnen sowie Queerfeindlichkeit, misogyne Stereotype und Weltbilder sind Ursprung dieser Gewalt und werden durch die Strukturen unserer Gesellschaft weiter reproduziert.
Frauen verdienen durchschnittlich noch immer 18 Prozent weniger als Männer. Sie besetzen seltener Führungspositionen und arbeiten öfter in Teilzeit. Berufsfelder, wie die Pflege, in denen zum Großteil Frauen arbeiten, werden schlechter bezahlt. Dies führt zu ökonomischer Abhängigkeit, besonders in Partnerschaften mit gemeinsamen Kindern, wo die Partnerin häufig den Großteil unbezahlter Erziehungs- und Hausarbeit sowie die Pflege von Angehörigen übernimmt, während der Partner weiter in Vollzeit arbeitet. Für diese unbezahlte Care Arbeit wenden Frauen durchschnittlich 43,3 Prozent mehr Zeit auf als Männer. Durch das Konstrukt der Ehe wird diese Abhängigkeit auch noch steuerlich belohnt: je größer der Lohnunterschied, desto höher die Ersparnisse.
Wenn Frauen sich von einem gewalttätigen Partner trennen wollen, besteht für viele die reelle Gefahr, in Armut zu rutschen. Rund 41 Prozent aller alleinerziehenden Mütter sind einkommensarm. Das Risiko steigt auch mit dem Alter, da die Jobsuche mit fehlender Berufserfahrung deutlich schwieriger ist. Ohne die Hinterbliebenenrente bekommen Frauen 39,4 Prozent weniger Rente und sind öfter von Altersarmut betroffen als Männer, was als Gender Pension Gap bezeichnet wird.
»Das sogenannte Ehegattensplitting muss abgeschafft werden. Stattdessen braucht es mehr staatliche Unterstützung für Alleinerziehende und Maßnahmen gegen Kinderarmut.«
Ein Ansatz für mehr Gleichberechtigung wäre, unbezahlte Sorgearbeit wie Erwerbsarbeit zu bezahlen. Dazu müsste jedoch zunächst ein Rechensystem entwickelt werden, um diese unbezahlte Arbeit auch konkret sichtbar zu machen. Diese wird derzeit als Wertschöpfung im Bruttoinlandsprodukt nicht mit einberechnet. Sie gilt also wirtschaftlich betrachtet nicht als produktiv. Ein anderer Ansatz wäre das bedingungslose Grundeinkommen. Das würde es ermöglichen, die Sorgearbeit fairer aufzuteilen, da beide Elternteile in Teilzeit arbeiten könnten. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde auch Altersarmut entgegenwirken. Betroffene wären nicht mehr so stark abhängig vom gewalttätigen Partner, weil sie durch eine Trennung nicht direkt von Armut bedroht wären und eigenständig agieren könnten.
Auch bessere Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne in weiblich dominierten Berufsfeldern sind notwendig und könnten Lohnunterschiede ausgleichen. Mehr Transparenz über Arbeitsverträge und Löhne kann dafür sorgen, dass unabhängig vom Geschlecht alle denselben Lohn für dieselbe Arbeit erhalten und Ungerechtigkeiten schneller auffallen. Das sogenannte Ehegattensplitting muss abgeschafft werden. Stattdessen braucht es mehr staatliche Unterstützung für Alleinerziehende und Maßnahmen gegen Kinderarmut. So muss auch gegen Wohnungsmangel und zu hohe Mieten gehandelt werden.
Wenn sich Betroffene aus der gewaltvollen Beziehung gelöst und sich in Sicherheit gebracht haben, können sie aufgrund von Entscheidungen vom Familiengericht zum erneuten Kontakt mit dem Täter gezwungen werden, wenn etwa im Rahmen von Kindschaftsverfahren das Recht des Vaters auf regelmäßigen Kontakt zu den gemeinsamen Kindern erwirkt wird. In vielen Fällen wird dann bei Treffen zur Übergabe der Kinder die Gewalt an der Ex-Partnerin fortgesetzt.
»In den sechs Jahren nach der Ratifizierung der Istanbul Konvention ist hingegen kaum etwas gegen die weiter zunehmende geschlechtsspezifische Gewalt unternommen worden.«
Oft wird häuslicher Gewalt in den Kindschaftsverfahren gar keine Bedeutung zugeteilt. Gerichte entscheiden dann, die Kinder im Haushalt des gewalttätigen Vaters zu lassen, weil sie dann nicht aus ihrem sozialen Umfeld wegziehen und die Schule oder Kita wechseln müssen. Dabei spielen manipulatives Verhalten, psychische Gewaltausübung auf die Betroffenen und bessere anwaltliche Beratung durch finanzielle Überlegenheit häufig eine ausschlaggebende Rolle. Die Justiz muss für diese Formen von Gewalt sensibilisiert werden und sie in ihre Entscheidungen einbeziehen.
Mit der Novellierung des Berliner Polizeigesetzes soll die Nutzung von elektronischen Fußfesseln eingeführt werden, die den Täter von der Missachtung eines Kontaktverbots abhalten sollen. Durch eine Benachrichtigung soll die Betroffene rechtzeitig gewarnt werden können, wenn sich der Täter nähert. Es gibt jedoch Zweifel an der Wirksamkeit dieser Maßnahme. Der Sprecher der Polizeigewerkschaft GdP bezweifelt etwa, dass die Fußfessel einen Mann mit Tötungsabsichten aufhalten würde, zumal alle Signale erst zentral in Hessen erfasst werden müssen und es schon zu spät sein könnte, wenn das Signal an die Betroffene weitergeleitet wird. Die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Bahar Haghanipour, wertet die Maßnahme als »Ablenkungsdebatte von den eigentlichen Problemen«.
Ein Kontaktverbot allein reicht als Maßnahme gegen häusliche Gewalt bei weitem nicht aus. Ein gewalttätiger Partner wird die Gewalt in der Regel auch in einer neuen Beziehung fortsetzen. Ein gut ausgebautes Angebot von Täterarbeit, also kognitiv verhaltensorientierte Hilfs- und Beratungsprogramme, deren Ziel es ist, das gewalttätige Verhalten zu beenden, könnten eine effektive Präventionsmaßnahme darstellen. Gerichte müssten dies explizit als Maßnahme erteilen. Bislang fehlt der politische Wille, den Ausbau dieser Programme und deren qualitative Auswertung zu finanzieren.
In den sechs Jahren nach der Ratifizierung der Istanbul Konvention ist hingegen kaum etwas gegen die weiter zunehmende geschlechtsspezifische Gewalt unternommen worden. Das ist ein absolutes politisches Versagen. Dass nun ein Gesetz auf den Weg gebracht wird, das von den jahrelang geforderten Maßnahmen zumindest einige umsetzen soll, ist längst überfällig. Doch sämtliche Schutzmaßnahmen ändern nichts an den zugrundeliegenden Abhängigkeiten, in die Frauen, nicht-binäre, intergeschlechtliche und trans Personen getrieben werden. Nur eine echte Gleichstellung aller Geschlechter in allen Bereichen kann die Gewalt beenden.
Falls Du von häuslicher Gewalt betroffen bist, kannst Du rund um die Uhr beim Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen anrufen. Weitere Beratungsangebote findest Du bei der Frauenhauskoordinierung e.V. und dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe.
Laura Stoppkotte ist Verlagsassistentin beim Brumaire Verlag.