15. März 2024
Ein erneutes Aufflammen der Bandengewalt in Haiti hat Premierminister Ariel Henry zum Rücktritt veranlasst. Allerdings ist er nicht der Alleinschuldige: Die US-Regierung trägt eine Mitverantwortung für die anhaltende Instabilität des Landes.
Eine Frau wird ins Krankenhaus gebracht nach Ausbrüchen von Bandengewalt im Zentrum von Port-au-Prince, 9. März 2024
Das Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 war eine furchtbare Katastrophe. Über 200.000 Menschen starben, 1,5 Millionen wurden obdachlos und die Schäden beliefen sich auf mehr als sieben Milliarden US-Dollar. In Reaktion auf die massive Zerstörung folgte internationale Hilfe und Unterstützung – in ebenfalls beachtlichem Ausmaß. In den Vereinigten Staaten kam es zur größten Spendenaktion jemals. Einige Quellen gehen davon aus, dass nahezu die Hälfte aller US-amerikanischen Familien spendeten, um die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen zu unterstützen.
Ein Großteil dieser Gelder wurde jedoch nicht direkt für die Ernährung, Unterbringung oder finanzielle Unterstützung der Menschen in Haiti verwendet. Die US-Behörde für internationale Entwicklungszusammenarbeit (USAID) verteilte beispielsweise 130 Tonnen gentechnisch verändertes und vom Chemieriesen Monsanto gespendetes Saatgut an Landwirte. Die haitianischen Bäuerinnen und Bauern brauchten aber viel eher Geld für den Wiederaufbau als genetisch verändertes Saatgut aus dem Ausland. Für einen Bruchteil der Kosten des USAID-Programms hätten die ausländischen Geldgeber die benötigten Nahrungsmittel komplett von den lokalen Reisproduzenten kaufen können. Das wäre nicht nur kostengünstiger gewesen, sondern hätte auch der lokalen Wirtschaft einen dringend benötigten Anschub gegeben.
In seinem neuen Buch Aid State: Elite Panic, Disaster Capitalism, and the Battle to Control Haiti, wirft Jake Johnston einen Blick auf die rund 100-jährige Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit in Haiti. Er zeigt dabei, dass das Erdbeben zwar eine riesige Katastrophe war, die Reaktionen aber einem alten Schema in der Geschichte des Landes folgten. Besatzung und ausländische Einmischung kamen in Haiti nicht selten im Deckmantel der Hilfe und Unterstützungsarbeit daher. Johnston argumentiert, US-amerikanische Aktionen hätten vor allem »Stabilität« zum Ziel. Selbsthilfe und Selbstbestimmung der haitianischen Bevölkerung seien dabei nebensächlich und kämen zu kurz. Damit das Land wirklich florieren kann, brauche es aber eine solche Selbstbestimmung.
Aktuell erlebt das Land eine weitere Krise: Angesichts der zunehmenden Bandengewalt in Haiti trat Premierminister Ariel Henry Anfang dieser Woche zurück.
Cal Turner und Sara Van Horn sprachen für Jacobin mit Johnston über die tieferliegenden Hintergründe und Ursprünge der jüngsten Krise, den schmalen Grat zwischen Hilfe und Okkupation sowie die Aussichten für eine echte Autonomie und Selbstbestimmung Haitis.
Wie reagierten die USA direkt nach dem Erdbeben 2010 in Haiti?
Die allererste Reaktion der USA – und in gewisser Weise auch im Rest der Welt – war stark militarisiert. Priorität war es, potenzielle Sicherheitsrisiken für die Vereinigten Staaten anzugehen. Dazu zählten eine befürchtete »Migrationswelle« sowie die Sicherheit der rund 50.000 US-Bürgerinnen und -Bürger, die sich zu diesem Zeitpunkt in Haiti aufhielten.
Zunächst ging es also um ein Verhindern von Migration und die Evakuierung der US-Amerikaner. Dafür musste militärisches Material in die Region verschoben werden. So tauchten schnell Flugzeugträger und andere Boote vor der Küste Haitis auf; tausende Soldaten wurden verlegt. Die meisten davon betraten aber niemals haitianischen Boden; sie blieben an Bord. Es ging eher darum, die Menschen am Verlassen Haitis zu hindern, als ihnen irgendetwas zu bringen. Tieffliegende Flugzeuge verbreiten per Lautsprecher in kreolischer Sprache die Botschaft: »Falls ihr das Land verlassen wollt: tut es nicht. Wir werden euch sofort zurückschicken.« Dafür wurden die US-Mittel also zunächst aufgewendet.
»Beim Thema humanitäre Hilfe denken wir oft an NGOs. In Wirklichkeit wird die bilaterale Hilfe sowie Entwicklungszusammenarbeit aber von gewinnorientierten Unternehmen dominiert.«
Entgegen der Befürchtungen und trotz dieses militarisierten Ansatzes der USA kam es nach dem Erdbeben nicht zum Gewaltausbruch. Vielmehr versuchten die Haitianerinnen und Haitianer, sich gegenseitig zu helfen. Die Ersthelfer nach dem Beben waren keine Ausländer; es waren haitianische Menschen, die ihren Nachbarinnen und ihren Gemeinden halfen, beispielsweise indem Nahrungsmittel aus weniger betroffenen ländlichen Gebieten nach Port-au-Prince geschafft wurden. Tatsächlich können ausländische Interventionen solche lokalen Hilfsaktionen eher stören und untergraben.
In deinem Buch beschreibst du, dass sowohl die Vulnerabilität gegenüber Naturkatastrophen als auch die Auswirkungen von schnellen Hilfsmaßnahmen oft durch Politik und Geschichte geprägt und bedingt sind. Kannst du uns etwas mehr über die Hilfsmaßnahmen im Allgemeinen erzählen? Wie funktionieren die Mechanismen und wie oder warum sind sie unzureichend?
Es gibt diverse Wege, wie ausländische Hilfe oder Hilfszahlungen in ein Land gelangen. Zunächst gibt es die offizielle bilaterale Unterstützung; also Gelder, die von Geberstaaten über nationale Organisationen wie eben USAID eingesetzt werden. Dann gibt es einen breiteren öffentlich-humanitären Raum, in dem private Spenden dominieren. Drittens gibt es Hilfsmechanismen über große Entwicklungsbanken wie die Weltbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank.
Die Hilfe nach dem Erdbeben in Haiti erfolgte weitgehend an der haitianischen Regierung und den lokalen Institutionen vorbei. Sie ging größtenteils an ausländische NGOs, von denen viele zuvor nicht im Land präsent gewesen waren, sowie an US-Entwicklungsunternehmen. Beim Thema humanitäre Hilfe denken wir oft an NGOs. In Wirklichkeit wird die bilaterale Hilfe sowie Entwicklungszusammenarbeit aber von gewinnorientierten Unternehmen dominiert: Die Aufgaben wurde in den vergangenen Jahrzehnten ausgelagert. So werden beispielsweise viele Aktionen von USAID heute von privaten, gewinnorientierten Auftragnehmern verwaltet und durchgeführt. Diese Auftragnehmer waren auch die wichtigsten Akteure, die nach dem Erdbeben Gelder der US-Regierung erhielten.
Geld in einheimische Hände vor Ort zu geben, ist im Gegensatz dazu nicht nur effektiv in der schnellen Reaktion auf die lokalen Bedürfnisse – die Menschen vor Ort wissen schließlich am besten, was sie brauchen – sondern es stimuliert auch die dortige Wirtschaft. Wenn man lokale Organisationen und Institutionen umgeht oder aktiv untergräbt, hat das langfristige Auswirkungen.
Die internationale Entwicklungshilfe hatte bereits in den Jahrzehnten vor dem großen Beben enormen Einfluss auf Haiti. Zum Zeitpunkt des Erdbebens befanden sich bis zu 80 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen in Haiti in privater Hand: NGOs, Entwicklungsbanken, andere Privatunternehmen, religiöse Gruppen etcetera. Dieses Outsourcing der Staatsaufgaben war 2010 schon längst Realität.
Wo lagen bei den Hilfsleistungen nach dem Erdbeben die Prioritäten – und warum?
Das Wichtigste war Stabilität: Stabilität war wichtiger als Demokratie, Stabilität war wichtiger als Entwicklung. Die getroffenen Entscheidungen beruhten auf der Annahme, dass solche Dinge sich einstellen könnten, wenn erstmal Stabilität herrsche.
Wir müssen uns aber fragen: Stabilität für wen? Sicherlich nicht für die haitianischen Menschen, sondern vielmehr für gewisse Politik- und Wirtschaftsakteure. Das zeigte sich in unterschiedlicher Weise. Der sogenannte Caracol Industry Park war zum Beispiel das Vorzeigeprojekt für den Wiederaufbau nach dem Erdbeben: ein großes ausländisches Textilunternehmen nach Haiti zu locken, wurde zu einer Priorität für die USA und andere Mitglieder der internationalen Gemeinschaft. Allerdings wurde dieser Gewerbepark im Norden des Landes gebaut, weit entfernt also von den Gegenden, die vom Erdbeben betroffen waren. Dieses Projekt war daher keinerlei Hilfe für die vom Erdbeben betroffenen Menschen.
»Mehr als eine Million Menschen waren in der Gegend um die Hauptstadt obdachlos geworden – und im Norden des Landes, mehrere Autostunden entfernt, werden Häuser gebaut.«
Eine solche Entwicklung ist auch bei anderen, späteren Hilfsprojekten zu beobachten. So gab es beispielsweise nach dem Erdbeben ein großes, von den USA gesponsertes Wohnungsbauprogramm in Haiti. Dabei sollten eigentlich Unterkünfte für durch das Erdbeben obdachlos gewordene Menschen in und um Port-au-Prince gebaut werden. Die einzigen Häuser, die tatsächlich gebaut wurden, waren aber für die Unterbringung von Arbeitern im erwähnten neuen Industriepark im Norden des Landes bestimmt.
Dies war offenbar die politische Priorität der Vereinigten Staaten. Sie stand im Gegensatz zu den Bedürfnissen der Menschen vor Ort in Port-au-Prince, die auch nach den Investitionen kein Dach über dem Kopf hatten. Mehr als eine Million Menschen waren in der Gegend um die Hauptstadt obdachlos geworden – und im Norden des Landes, mehrere Autostunden entfernt, werden Häuser gebaut.
Gehen wir ein bisschen in der Geschichte zurück: Wie haben sich die Beziehungen zwischen Haiti und den USA beziehungsweise die US-Interventionen im 20. und frühen 21. Jahrhundert entwickelt?
Ab 1915 besetzten die USA Haiti für neunzehn Jahre. Die haitianische Gesellschaft wurde dadurch grundlegend verändert, die Macht in der Hauptstadt konzentriert und gefestigt sowie das Militär geschaffen, das dann nach der US-Besetzung die Macht übernahm.
In den späten 1950er Jahren gab es eine Art Wahl – sicherlich nicht frei und fair und auch ohne sonderlich breite Beteiligung – mit der François Duvalier die Führung übertragen wurde. Es folgte eine drei Jahrzehnte andauernde Diktatur, die von den USA viele Jahre lang unterstützt wurde. Ein wichtiger Grund für diese Unterstützung war die Nähe Haitis zu Kuba. Duvalier war ein überzeugter Antikommunist, und so stärkten die USA seine Diktatur in Haiti als Gegengewicht zu Fidel Castro in Kuba.
Der Sturz von Duvalier im Jahr 1986 führte zu einer Periode mit diversen Militärregierungen und gescheiterten Wahlprozessen, die 1990 mit der Wahl von Jean-Bertrand Aristide endete, der völlig unerwartet ins Amt gewählt wurde. Er konnte sich allerdings nur neun Monate im Amt halten, bevor er durch einen Militärputsch gestürzt wurde.
Die USA verhängten ein Embargo gegen die neue Militärjunta, obwohl einige Mitglieder dieser Regierung auf der Gehaltsliste der CIA standen. Nach dem Putsch bildeten sich Todesschwadronen, die die Bevölkerung terrorisierten (einige derer Anführer hatten ebenfalls Beziehungen zur CIA).
Unabhängig von der offiziellen Politiklage in Haiti gab es viele Mechanismen und Instrumente, mit denen sich die USA in die Regierungsführung des Karibikstaates einmischen konnten.
»Wir unterstützen Regierungen, die wir mögen, und wir entziehen Regierungen, die wir nicht mögen, die Hilfe.«
Im Jahr 1994 schickte die Regierung unter Bill Clinton Truppen nach Haiti, um den gestürzten Aristide wieder an die Macht zu bringen. Dies wurde von der haitianischen Bevölkerung begrüßt. Es sah so aus, als könnte sich ein neuer Weg nach vorn eröffnen. Allerdings kamen mit der US-Intervention auch wirtschaftliche Faktoren ins Spiel, denn die Rückkehr von Aristide wurde an Bedingungen geknüpft. So wurde eine neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt, die für den haitianischen Staat und die Bevölkerung äußerst negative Auswirkungen hatte.
Als George W. Bush 2001 sein Amt antrat, kamen auch viele der US-Beamten, die während der Regierung seines Vaters am Sturz von Aristide mitgewirkt hatten, wieder an die Macht und griffen auf das altbekannte Playbook zurück. Die Vereinigten Staaten blockierten Kredite von multilateralen Entwicklungsbanken wie der Interamerikanischen Entwicklungsbank und reduzierten die eigenen Hilfszahlungen an Haiti.
Dies führte im Februar 2004 im zweiten Sturz von Aristide. Er wurde in ein US-Flugzeug gesetzt, ausgeflogen und auf Druck der US-Regierung im südafrikanischen Exil gehalten. Er kehrte erst 2011 nach Haiti zurück. Die Obama-Regierung versuchte damals noch, die südafrikanische Regierung unter Druck zu setzen, damit sie Aristide nicht nach Haiti ausreisen lässt, was aber letztlich misslang.
Die vielen Wechsel und Kursänderungen zeigen: [Die USA] unterstützen Regierungen, die wir mögen, und wir entziehen Regierungen, die wir nicht mögen, die Hilfe. Auf diese Weise destabilisieren wir das politische Umfeld; wir schaden gewissen Regierungen, helfen anderen Regierungen; wir bauen die einen auf, zerstören die anderen. Die Vereinigten Staaten nutzen unter anderem ihre Soft-Power-Instrumente, um politisch zu intervenieren.
Wie genau wurde Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit genutzt, um militärische oder Sicherheitsinteressen der USA zu fördern? Inwiefern spielt beispielsweise die Migration eine Rolle?
Die traurige Ironie ist, dass wir mit unserer Politik einerseits versuchen, Migration zu verhindern, und andererseits unsere Politik einen Großteil der Migration verursacht. Die beiden Zeiträume mit den größten internationalen Investitionen in Haiti, die 1980er Jahre und die Zeit direkt nach dem Erdbeben 2010, waren auch die beiden Zeiträume mit der höchsten Abwanderung aus Haiti. Da muss man sich doch fragen: Sind unsere politischen Versuche, Migration zu unterbinden, ein totaler Fehlschlag, oder ist es vielleicht gar nicht das Hauptanliegen der USA, Migration komplett zu verhindern?
In Haiti herrscht der Glaube vor, die USA wollten schlicht die Emigration aus dem Land unterbinden; nicht mehr und nicht weniger. Ich denke aber, das geht in einem wesentlichen Punkt an der Sache vorbei: nämlich dass das Überleben des »Aid State« – also eines ausgehöhlten [und von außen finanziell] gestützten Staates, der bestimmte Interessen schützt – sogar von der Migration abhängig ist.
Die Menschen in Haiti sind noch mehr auf Geldüberweisungen von Verwandten oder Freunden aus den Ausland angewiesen als auf ausländische Hilfe. Ohne dieses Ventil, das es zumindest einigen Personen erlaubt, Haiti zu verlassen, könnte der derzeitige Zustand gar nicht aufrechterhalten werden. Der aktuell existierende Staat kann nicht ausreichend für die Menschen sorgen, die in Haiti leben. Deswegen versuchen ja hunderttausende zusätzliche Menschen jedes Jahr, das Land zu verlassen.
Die Wahrheit ist: Das, was passieren würde, wenn dieses Ventil geschlossen wird, liegt nicht im Interesse der USA. Das Interesse der Vereinigten Staaten ist es, die innenpolitischen Auswirkungen einer großen Migrationswelle daheim in den USA zu verhindern – nicht die Migration selbst.
Im Buch schreibst du diesbezüglich, es sei für US-Beamte wichtig, dass Haiti nicht allzu oft in den Nachrichten auftaucht. Warum?
Nun, es gibt Zeiten, in denen US-Beamte aus verschiedenen Gründen sehr wohl wollen, dass Haiti in den Nachrichten auftaucht. Nach dem Erdbeben haben die Vereinigten Staaten bekanntlich eine riesige Hilfsaktion durchgeführt. Der Ex-Präsident Bill Clinton war Sondergesandter der Vereinten Nationen; auch Hillary Clinton war persönlich an den Hilfsmaßnahmen beteiligt.
Als aber deutlich wurde, dass diese Bemühungen nicht sonderlich gut liefen, wurden sie zu einer politischen Bürde im eigenen Land. Wir erleben oft, dass außenpolitische Entscheidungen aus innenpolitischen Gründen getroffen werden. Die wahre Sorge der Verantwortlichen ist: »Wie wirkt sich das auf unsere politische Zukunft im eigenen Land aus?«, und nicht: »Wie wirkt sich das auf die Menschen vor Ort in Haiti aus?«.
»Das, was ich als ›Aid State‹ bezeichne, ist zwar von jüngeren, aktuelleren Entwicklungen geprägt, aber das System wurzelt in einer Dynamik, die wir seit über 200 Jahren beobachten.«
Zudem gibt es hier eine historische Kontinuität: alles geschieht im historischen Kontext von Haiti, das den ersten und einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand erlebte, das eine Verfassung schuf, mit der die Sklaverei 1804 abgeschafft wurde – und das von den Regierungen der Welt jahrzehntelang nicht anerkannt wurde; im Falle der Vereinigten Staaten sogar mehr als sechzig Jahre lang nicht. Wir können die aktuellen Ereignisse auch als Fortsetzung einer langjährigen Politik lesen, mit der man Haiti die ihm gebührende Repräsentation auf der Weltbühne verweigert hat.
Inwiefern hängt die Haitianische Revolution von vor 200 Jahren mit der heutigen Entwicklung Haitis und der Entwicklungsarbeit zusammen?
Ein Nachspiel der Revolution war das von Frankreich geforderte »Lösegeld«, zu dessen Zahlung sich die haitianische Regierung 1825 bereiterklärte. Diese Schulden haben das Land über ein Jahrhundert lang finanziell geschwächt. Und sie haben viel mit dem zu tun, was wir heute in Haiti beobachten: die anhaltende Unterentwicklung, die Schwäche des Staates...
Es gibt einen weiteren direkten Zusammenhang: Als die haitianische Regierung 1825 zustimmte, diese Entschädigung an Frankreich zu zahlen, brauchte sie dafür Einnahmen. Deswegen führte sie das Modell der ausbeuterischen Plantagenwirtschaft im Haiti nach der Revolution wieder ein. Diese Entwicklung hat das Verhältnis zwischen dem haitianischen Volk und dem haitianischen Staat seither tief geprägt.
Auch heute zeigt sich: Der haitianische Staat ist nicht wirklich repräsentativ für oder rechenschaftspflichtig gegenüber dem Volk. Vielmehr schöpft er von seiner eigenen Bevölkerung ab und versorgt damit den Rest der Welt. Das, was ich als »Aid State« bezeichne, ist zwar von jüngeren, aktuelleren Entwicklungen geprägt, aber das System wurzelt in einer Dynamik, die wir seit über 200 Jahren beobachten. Es ist eine anhaltende Situation, in der der Staat einfach nicht auf das haitianische Volk und dessen Bedürfnisse eingeht.
Wie hat die Zeit nach dem Erdbeben 2010 das aktuelle politische Klima in Haiti geprägt?
Dafür sollte man sich natürlich die Wahlen im Jahr 2010 ansehen. Damals war noch rund eine Million Menschen nach dem Erdbeben wohnungslos. Es war von Anfang an klar, dass es chaotisch zugehen würde: Die Wahllokale lagen weit verstreut und niemand wusste, ob einzelne Personen überhaupt wählen dürfen, wenn sie beim Beben ihre Ausweise verloren hatten. Doch die Vereinigten Staaten und andere Geber hatten eine Menge Geld in die Hand genommen – zehn Milliarden Dollar wurden für die Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen zugesagt – und wollten schnellstmöglich eine neue Regierung, mit der sie in Haiti zusammenarbeiten konnten.
Die Wahl selbst verlief erwartungsgemäß katastrophal: Die Wahlbeteiligung lag wohl bei etwa 20 Prozent, allerdings wurden rund 20 Prozent dieser Stimmen gar nicht erst ausgezählt, obwohl die Wahl außerordentlich knapp war. Um das Wahlverfahren zu analysieren und die Situation zu klären, lud die haitianische Regierung die Organisation Amerikanischer Staaten [OAS] ein – ein Gremium mit Sitz in Washington, das sich aus allen regionalen Regierungen zusammensetzt.
Ohne jegliche statistische Analyse, Hochrechnungen der fehlenden Stimmen oder eine vollständige Neuauszählung der abgegebenen Stimmen empfahl die OAS, das offizielle Wahlergebnis zu ändern, den designierten Nachfolger von Präsident René Garcia Préval aus dem Rennen zu nehmen und einen politischen Außenseiter, den populären Musiker Michel Martelly, in die Stichwahl zu schicken. Die USA drohten, die Aufbauhilfe zurückzuhalten, sollte die haitianische Führung diese Empfehlungen nicht akzeptieren. Letztendlich gab die Regierung Haitis nach und änderte das Ergebnis der Wahl entsprechend. So kam Martelly ins Präsidentenamt, wo er die nächsten fünf Jahre blieb.
Heute herrschen in Haiti extreme Unsicherheit und politische Instabilität. Um herauszufinden, woher das kommt, müssen wir meiner Meinung nach auf diese Wahlen von 2010 zurückblicken: damals wurden Personen von außen, von externen Akteuren, ins Amt gebracht, um den Staat nach dem Erdbeben zu führen und die Milliarden Dollar aus dem Ausland zu verwalten.
2021 kam es dann zum Mord an Präsident Jovenel Moïse. Wie hängt dieser Mord mit den Entwicklungen zusammen, die du im Buch beschreibst?
Der Großteil der haitianischen Gesellschaft, darunter viele Rechtsexperten und Menschenrechtsgruppen, ging davon aus, dass die Amtszeit von Moïse 2021 enden würde. Eine solche Frage – ob die Amtszeit des haitianischen Präsidenten endet oder nicht – müssen selbstverständlich die Menschen in Haiti selbst entscheiden. Doch in den ersten Wochen der Regierung von Joe Biden sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums bei einer Pressekonferenz, die USA seien der Ansicht, dass Moïses Amtszeit erst 2022 und nicht 2021 auslaufe.
Hier interpretierten also US-Stellen die haitianische Verfassung. Es geht nicht nur um das US-amerikanische Statement an sich, sondern darum, was es für politische Akteure in Haiti bedeutete: Moïse konnte sich faktisch weigern, mit irgendwem in Haiti zu verhandeln und zu koalieren. Grund dafür ist, dass die internationale Unterstützung in Haiti derart entscheidend ist (oder zumindest so wahrgenommen wird): Wenn man Unterstützung aus dem Ausland hat, kann man auch alleine weitermachen und muss keine Koalitionen bilden, die für eine echte Regierungsführung eigentlich notwendig wären.
»Wenn wir tatsächlich eine von Haitianerinnen und Haitianern getragene Regelung und Regierung unterstützen wollen, müssen wir aufhören, den Menschen vor Ort vorzuschreiben, was eine gewünschte oder angemessene Lösung ist.«
Sechs Monate später wurde Moïse in seinem Haus ermordet. Ich denke, die Entscheidung der USA, Moïse bedingungslos zu unterstützen, hat sicherlich zu den Umständen der Ermordung des Präsidenten beigetragen.
Zweieinhalb Jahre sind seitdem vergangen – und nun erleben wir das Gleiche noch einmal. Ariel Henry wurde von Moïse unmittelbar vor dessen Ermordung als nächster Premierminister auserkoren. Etwa zwei Wochen nach der Tat forderte die internationale Gemeinschaft Henry auf, eine neue Regierung zu bilden. Und siehe da, innerhalb weniger Tage war er Premierminister und ist es seither geblieben.
Es gibt im Land keine gewählten Vertreter, keine Institutionen, die Henry zur Rechenschaft ziehen könnten. Wenn wir tatsächlich eine von Haitianerinnen und Haitianern getragene Regelung und Regierung unterstützen wollen, müssen wir aufhören, den Menschen vor Ort vorzuschreiben, was eine gewünschte oder angemessene Lösung ist.
Finden sich diese Dynamiken auch heute, in der aktuellen politischen Krise in Haiti, wieder?
Ich denke schon. Die vielschichtige Krise, die sich in Haiti abspielt, hängt direkt mit diesen Dynamiken zusammen. Im Mittelpunkt des Ganzen steht ein gebrochener Gesellschaftsvertrag, ein Staat, der das haitianische Volk nicht repräsentiert und ihm gegenüber nicht rechenschaftspflichtig ist. Jahrzehntelang haben ausländische Interventionen dazu beigetragen, einen eigentlich unhaltbaren Status quo aufrechtzuerhalten. Jetzt bricht der Aid State langsam zusammen. Das war unvermeidlich.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die politische Klasse Haitis stets mehr auf ausländische Mächte gehört und reagiert als auf das haitianische Volk. Eine von außen auferlegte Legitimität kann aber niemals von Dauer sein. Das sehen wir aktuell am Beispiel des De-facto-Premierministers Ariel Henry, der seine Autorität vor allem den ausländischen Mächten verdankt. Indem sie diese Regierung stützen, haben die USA und andere Staaten Haiti in unbekannte Gewässer getrieben. Das hatte und hat weiterhin katastrophale Folgen für die Bevölkerung und erschwert jede tragbare Lösungsfindung.
Gleichzeitig denke ich nicht, dass wir den Zusammenbruch des Aid State per se als etwas Schlechtes oder ein Problem ansehen sollten. Haiti hat nun die Chance, etwas Neues aufzubauen, einen Staat zu errichten, der tatsächlich den Idealen entspricht, die bei der Gründung der ersten schwarzen Republik der Welt Pate standen. In vielerlei Hinsicht geht es bei dem heutigen Kampf darum, wieder in die Spur zu finden und etwas Neues aufzubauen.
Leider ist auch klar: Diejenigen, die bisher vom Status quo profitiert haben, werden gewaltsam kämpfen, um ihre Macht zu verteidigen.
Jake Johnston forscht am Center for Economic and Policy Research in Washington. Seine Texte sind unter anderem in der New York Times, The Nation, ABC News, Boston Review, Truthout und The Intercept erschienen.