29. März 2023
Macron meint, es sei an der Zeit, die Proteste zu »befrieden« – doch der Widerstand gegen seine Rentenreform ist heftiger denn je. Manon Aubry von La France Insoumise erklärt, wie die Proteste Macrons antidemokratischen Regierungsstil herausfordern.
Demonstration des Gewerkschaftsbundes CGT in Marseille, 23. März 2023.
IMAGO / ZUMA WireGestern – zwölf Tage nachdem die französische Regierung ihre zutiefst unbeliebte Rentenreform per Verfassungsdekret durchs Parlament gedrückt hat – scheinen die Gegenproteste ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Die Anwendung der Verfassungsklausel 49.3 (wodurch die Verabschiedung eines Gesetzes ohne vorherige Parlamentsabstimmung ermöglicht wird) hat den Kampf um die Rentenreform zu einem viel grundlegenderen Kampf werden lassen: Denn zur Frage stehen nun auch die Befugnisse der Macron-Regierung, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Juni ihre Mehrheit verloren hat.
Der Großteil der Französinnen und Franzosen ist gegen die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre – und die Anzahl derjenigen, die weitere Proteste befürworten, nimmt weiter zu. Im Vorfeld des für den 28. März angekündigten Aktionstag, zu dem die Gewerkschaften aufgerufen hatten, versprach Innenminister Gérald Darmanin »noch nie dagewesene Sicherheitsmaßnahmen« durchzusetzen, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Auf seine Aussage folgten dramatische Szenen, in denen friedliche Kundgebungen von der Polizei aufgelöst wurden.
»Die Proteste werden seit Monaten von überwältigenden 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt. Macron ist isolierter denn je.«
Manon Aubry ist eine Parlamentsabgeordnete, die diese polizeiliche Offensive mit eigenen Augen gesehen hat. Sie sitzt für die Partei La France Insoumise im EU-Parlament, wo sie Ko-Vorsitzende der Fraktion der Linken ist. JACOBIN hat mit ihr darüber gesprochen, wie es mit den Protesten weitergehen wird, wie die Regierung bislang darauf reagiert hat und wie Frankreich aus dieser Krise herausfinden könnte.
Könnte man sagen, dass es sich bei den aktuellen Massenprotesten um die wichtigste soziale Bewegung handelt, die Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten gesehen hat?
Es ist wahrscheinlich die wichtigste seit dem Mai 1968. Das gilt zum einen im Hinblick auf die schiere Anzahl der Demonstrierenden. Es gab zehn Tage massiver Mobilisierung, über 3 Millionen Menschen waren auf den Straßen.
Außerdem haben wir schon lange kein derartiges Ausmaß an Wut gesehen. Man könnte hier eine Parallele zu den Gelbwesten ziehen, die ja auch erst wegen eines wirtschaftlichen Themas, nämlich der Erhöhung der Benzinsteuer, auf die Straße gingen und sich zu einer viel breiteren demokratischen Bewegung entwickelten, die etwa auch das Recht auf von der Bevölkerung initiierte Volksabstimmungen einforderte.
Die Gelbwesten formierten sich zwar spontan, während die Bewegung gegen die Rentenreform von den Gewerkschaften angeführt wird, doch beide sind das Symptom einer schweren demokratische Krise. Die Anwendung der Verfassungsklausel 49.3, mit der das Gesetz ohne Parlamentsabstimmung und gegen den Willen der Mehrheit durchgedrückt wurde, hat unsere Wut auf ein neues Level gehoben.
Das Beeindruckende an der laufenden Mobilisierung ist, wie sehr sie in die Breite geht: Arbeiterinnen und Arbeiter, die als erstes unter der Reform leiden, wie die Eisenbahner und die Beschäftigten der Müllabfuhr und Ölraffinerien, sind auf den Straßen, Menschen aus den Großstädten und Kleinstädten, Beschäftigte aus dem öffentlichen und privaten Sektor. Aber auch junge Menschen haben sich in den letzten Tagen massiv an den Protesten beteiligt, die nun seit Monaten von überwältigenden 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt werden. Macron ist isolierter denn je.
Macron scheint die Proteste einfach aussitzen zu wollen und zu hoffen, dass sie irgendwann abebben.
Macrons Strategie setzt auf Resignation – er zählt darauf, dass die Menschen ihren Ärger herunterschlucken und klein beigeben werden, sobald die Reform durchgesetzt ist. Das ist gefährlich. Mit seinem bisherigen Vorgehen, insbesondere der Anwendung von Artikel 49.3, hat er weiter Öl ins Feuer gegossen. Frankreich ist die einzige Demokratie weltweit, in der ein derart wichtiges Gesetz, dass unser Leben in den kommenden Jahrzehnten entscheidend beeinflussen wird, ohne Parlamentsabstimmung verabschiedet werden kann. Von einigen Kolleginnen und Kollegen aus dem EU-Parlament werde ich gefragt, ob das nicht geradezu ungarische Verhältnisse seien.
Macron weiß genau, dass Frankreich seine Reform nicht unterstützt und dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter den Menschen steht, die auf den Straßen ihrem Unmut Luft machen. Er ist also in einer äußerst schwachen Position. Und angesichts dessen bleibt seiner Regierung kein anderes Mittel als die Repression.
Du hast ein Video geteilt, auf dem Du bei einem Streikposten von Beschäftigten der Müllabfuhr zu sehen bist, der von der Polizei angegriffen wurde. Wie würdest Du die Polizeigewalt beschreiben, die Du beobachtet hast?
Die Streikposten der Beschäftigten der Müllabfuhr – sowie anderer Beschäftigter – wurden mit Gewalt aufgelöst. Die Bereitschaftspolizei setzte dabei Tränengas und Schlagstöcke ein. Wenn die Polizei dazu angewiesen wird, auf ihre eigenen Leute und demokratisch gewählte Volksvertreter einzudreschen, dann handelt sie nicht mehr im Dienst der Institutionen der Demokratie. Bei den aktuellen Protesten wurden immer wieder Menschen, vor allem jüngere, willkürlich, illegal und ohne juristische Grundlage festgenommen. Diese Verhaftungen dienen nur einem Ziel, nämlich der Einschüchterung der Menschen.
Manche Demonstrierende wurden von der Polizei eingekesselt und saßen fest, obwohl dieses Vorgehen 2021 vom Staatsrat für illegal erklärt wurde. »Nicht-tödliche« Blendgranaten und Betäubungsgranaten wurden eingesetzt, was schwere Verletzungen verursacht hat. Ein Gewerkschafter hat ein Auge, eine Lehrkraft einen Finger verloren. Uns liegen Berichte über Vorfälle sexualisierter Gewalt gegen Demonstrierende vor, darunter auch Vergewaltigungsvorwürfe. Am vergangenen Wochenende wurde eine Demonstration gegen Wasserprivatisierung in Sainte-Soline von 3.000 Polizeikräften aufgelöst, die auf die Menschen einprügelten. 200 Demonstrierende wurden verletzt, zwei liegen im Koma und schweben in Lebensgefahr. Nur ein Schlägertyp würde so für Ordnung sorgen.
»Die Menschen werden nicht nach Hause gehen, wenn die Rentenreform bestätigt wird: Wir müssen Macron zum Umdenken zwingen.«
Ich denke, überall auf der Welt werden die Menschen diese schockierenden Bilder gesehen haben. Institutionen wie die Vereinten Nationen, der Europarat oder die französische Liga zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte sind über das Ausmaß der Gewalt beunruhigt. Ich habe gemeinsam mit anderen Abgeordneten des linken Flügels des EU-Parlaments einen Antrag eingereicht, der die Polizeigewalt verurteilt. All das geschieht gerade in einem Mitgliedstaat der EU, im Land der Französischen Revolution, im Land der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in der das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung festgehalten wurde. Das ist nicht hinnehmbar und die EU muss reagieren.
Die Regierung spricht davon, die Situation zu »befrieden«.
Dabei hat Macron erst am vergangenen Mittwoch verkündet, dass »in diesem Land bis zur Gesetzgebung zu viel passiert«. Die Methode der parlamentarischen Abstimmung solle vermieden und per Dekret regiert werden. Ist es nicht unfassbar, dass der gewählte Präsident eines demokratischen Landes so etwas sagt? Das sind Pyromanen, die immer weiter Öl ins Feuer gießen. Sie müssen in einem Paralleluniversum leben, wenn sie nicht verstehen, was die Menschen von ihnen halten. Macron hatte Zeit, um dem Milliardär und Steuervermeider Jeff Bezos die prestigeträchtige französische Ehrenlegion zu verleihen, war aber nicht verfügbar, um sich mit den Gewerkschaften zu treffen. Darin zeigt sich das Ausmaß seiner Arroganz und Verachtung.
Macron behauptete, La France Insoumise würde die Lage nutzen, um Frankreichs Institutionen zu delegitimieren.
Er versucht so, seine Opposition zu diskreditieren, insbesondere die Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES), die die aktivste und präsenteste politische Kraft auf den Demonstrationen ist. Trotz Macrons Lügen und Verdrehungen ist der Widerstand, der ihm entgegensteht, nicht gebrochen. Die einzige Strategie, die ihm bleibt, besteht also darin, die Opposition, die eine Alternative zu ihm verkörpert, zu dämonisieren.
Die Regierung versucht sicherlich die Angst der Menschen vor Chaos und Rechtsextremismus zu schüren. Aber dieser Strategie sollten wir nicht auf den Leim gehen. Macrons Partei hat sich geweigert, das Bündnis NUPES bei den Stichwahlen gegen Le Pen zu unterstützen. Jetzt spielt sie den Rechtsextremen selbst in die Hände. Sie sind die einzigen, die für den Aufstieg des Front National verantwortlich sind.
In einer funktionalen Demokratie würde man in einer solchen Situation die Reformpläne entweder zurücknehmen oder die Bevölkerung mit einem Referendum oder vorgezogenen Neuwahlen zurück an die Wahlurne bitten. Dann wäre NUPES in der besten Position, um eine neue Regierung zu bilden.
Ich erinnere mich daran, dass ich 2006 in Frankreich war, um mich der Bewegung gegen den sogenannten Contrat Première Embauche (CPE, Vertrag bei Ersteinstellung) anzuschließen. Das Gesetz schwächte die Rechte junger Arbeiterinnen und Arbeiter, damit sie leichter angestellt werden können. Die Maßnahme wurde damals von der Regierung Jacques Chiracs verabschiedet, musste aber angesichts der anhaltenden Streiks und Proteste zurückgezogen werden. Könnte es dieses Mal, auch ohne vorgezogene Wahlen, ähnlich ausgehen?
Ich denke, das ist ein passender Vergleich. Das war damals die erste Bewegung, an der ich mich als Schülerin beteiligt hatte. Die Situation war festgefahren und die soziale Wut kochte über. Chirac sagte damals, ihm bliebe nichts anderes übrig, als den Weg der Verantwortung einzuschlagen und die Maßnahme wieder zurückzuziehen. Wenn sich Macron also zwei Minuten Chiracismus erlauben will, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Die Menschen werden nicht nach Hause gehen, wenn die Rentenreform bestätigt wird: Wir müssen Macron zum Umdenken zwingen.
Manon Aubry ist für France Insoumise im Europäischen Parlament und Ko-Präsidentin der Europäischen Linken.