09. September 2023
Aller Aufbruch-Rhetorik zum Trotz schleppt die LINKE weiter alten Ballast mit. Die anhaltende Rede von vermeintlich »neuen« Entwicklungen und »verbindender« Klassenpolitik überspielt eine narrative und strategische Ratlosigkeit.
Die empfohlene Urlaubslektüre der Linkspartei verspricht »Neuanfang«. Was ist dran?
IMAGO / Karina HesslandWährend auf der Vorderbühne der Linkspartei über die Sommermonate hinweg Kontroversen rund um die drohende Abspaltung der Wagenknecht-Gruppe ausgetragen wurden, finden sich die wirklich interessanten Diskussionen eher hinter den Kulissen. In der Zeitschrift Luxemburg der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde den Genossinnen und Genossen ein Text von Mario Candeias als Lektüre für den Urlaub ans Herz gelegt.
Dort umreißt der Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse, warum wir »in keiner offenen gesellschaftlichen Situation« mehr leben. Abseits der tagespolitischen Fragen rund um die letzten Wortmeldungen des Spitzenpersonals oder bevorstehende Kandidaturen für die Europawahlen umreißt das Strategiepapier den schrumpfenden Möglichkeitsraum einer schwachen linken Partei in den kommenden Jahren.
Candeias sieht den Grünen Kapitalismus nicht nur auf dem Vormarsch, sondern glaubt daran, dass er hegemonial wird. Das heißt selbstredend nicht, dass die Weltgemeinschaft nun verstanden hätte, dass sie ihre Lebensweise zumindest im Rahmen der vorherrschenden Wirtschaftsordnung reformieren muss. Die Effizienzgewinne in Form klimaschonender Modernisierung werden konterkariert durch eine »neue Blockkonfrontation«. Das Wettrüsten der Supermächte und die Freisetzung von Kapital und CO2 in Kriegen, wie dem in der Ukraine, verschlingen gerade die Ressourcen, die ein »echter« Grüner Kapitalismus bräuchte. So variantenreich die Grünen Akkumulationsregime von Peking bis Brüssel sein mögen, so sehr verengt sich die darauf ausgerichtete nationalstaatliche Politik im Kampf um die globale Führung dieses Projekts. Wer nicht selbst Supermacht ist oder werden kann, schlägt sich auf die Seite einer der Kontrahenten, sei es »der Westen« oder China.
»Wer ›Neustart‹ hört, denkt an das Scheitern des Alten. Wer ›Verbindendes‹ hört, denkt an Polarisierung.«
Wer sich auf einen Gegner einschießt, schafft dies meist nur, indem er eine Reihe von Widersprüchen ausblendet oder gar tabuisiert. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, sprach einst Wilhelm II. Sozialproteste und Klassenkampf haben es schwer in Zeiten geopolitischer Konfrontation. Gewalt nach außen und innen, Kriege und Repression werden Candeias zufolge die kommende Zeit genauso prägen wie zunehmende klimatische Katastrophen.
Während in den kapitalistischen Zentren Konservative und extreme Rechte zunehmend im Schulterschluss der Transformation entgegentreten, zerfallen in Teilen der Peripherie die staatlichen Strukturen. Das Rohstoff-Kapital hat erkannt, dass für die Ausbeutung von Minen und Menschen nicht überall der Staat gebraucht wird. »Nation building« war gestern – private Söldnertruppen »sichern« heute schon den kontinuierlichen Nachschub an Lithium und Kobalt.
Soweit die schlüssige Zeitdiagnose, auf die Candeias eine linke Antwort formulieren will. Die (zukünftigen) Profiteure des Grünen Akkumulationsregimes legen weltweit ein faszinierendes Selbstbewusstsein an den Tag, das die Linke zumindest hierzulande wahrlich einschüchtert. So verbleibt die sozialistische Antwort auf grün-liberale Technikgläubigkeit und sozialdemokratischen Gestaltungswillen, auch die von Candeias, allzu oft im theoretischen »Zusammendenken« von Umweltschutz und Arbeitsplatzsicherheit.
Die immer schneller aufeinander folgenden Krisen mögen vieles verschärfen. Doch der Pfad in den Grünen Kapitalismus und die Probleme, die diese Form der autoritär-liberalen Modernisierung für Sozialistinnen und Sozialisten mit sich bringt, sind nun wirklich nicht mehr »neu«. Wenn man Candeias’ Leitthese einer mehr oder minder festgelegten Entwicklung in diese Richtung überzeugend kommunizieren wollte, dürfte man nicht mehr von »neuen« Herausforderungen sprechen. »Neu« suggeriert, dass uns die angekündigten Veränderungen noch nicht ganz erreicht hätten. 41 Mal charakterisiert Candeias in den fünfzehn Thesen etwas als »neu«. Von der »Neuordnung der Lieferketten« über die »neue Hegemonie« bis zum »neuen inklusiven WIR«. Woher kommt diese Obsession, gerade bei Marxistinnen und Marxisten, den gesellschaftlichen Wandel vorrangig durch die Brille der Brüche und der Innovationen zu sehen?
Einst sprachen Sozialistinnen und Sozialisten von der »neuen Zeit«, um ihr Selbstbewusstsein und ihren Machtwillen zu demonstrieren. Wo beides aktuell nicht vorhanden ist, sollte man jedoch vom »Neuen« schweigen. Der Wille zur Macht, da liegt wiederum Candeias richtig, geht der LINKEN ab. Die Parteiquerelen wurden zwar von den Medien als Machtkampf inszeniert, jedoch muss man feststellen, dass selten jemand aus den vorderen Reihen wirklich mit hohem Einsatz um die Macht in der Partei gekämpft hat – »gekämpft« in dem Sinne, dass man programmatische oder zumindest narrative Weiterentwicklungen forciert hätte. Am ehesten hat der »Linkskonservatismus« des Wagenknecht-Lagers trotz des Scheiterns der Bewegung Aufstehen in den letzten Jahren – wenn auch regressive – Innovations- und Mobilisierungskraft bewiesen.
Man sollte sich nicht den Moralismus-Vorwurf zu eigen machen, den Sahra Wagenknecht erhoben hat – das spaltet die Partei nur noch weiter. Doch er hat einen wahren Kern. Zum Vergleich kann man sich vor Augen führen, wie auch heute noch in christlichen Gotteshäusern Anstand gepredigt wird: Dort sprechen die Geistlichen zu immer dünner besetzten Kirchenbänken und bereiten ihre Schäfchen nicht nur auf das Himmelreich vor, sondern mehr noch auf die »neuen« gesellschaftlichen Entwicklungen.
»Doch so falsch es ist, das ›Neue‹ pauschal abzufeiern, so irreführend ist auch die Strategie von Wagenknecht und Teilen der Gewerkschaften, sich den Sozialstaat der Nachkriegs-BRD zurückzuwünschen.«
Die Analogie ist wenig schmeichelhaft, denn die religiöse Predigt zielt zumeist darauf, die Einzelnen auf den sozialen Wandel einzustimmen. Die Rede vom Neuen dient hier dazu, sich innerlich auf etwas vorzubereiten, was eigentlich schon längst da ist, seien es familiäre Krisen, Flüchtlingskrisen oder die Klimakrise. Indem von der Kanzel eine gesellschaftliche Entwicklung als »neu« bezeichnet wird, erhält das Individuum die Fiktion einer verlängerten Gnadenfrist, um sich persönlich zu arrangieren. Die Predigt selbst gibt zwar vorsichtige Hinweise, wie beispielsweise mit Ehepartnerinnen, Geflüchteten oder Klimaleugnern aus Sicht der Kirche umzugehen sei, doch die letztendliche Verantwortung bleibt den Einzelnen überlassen.
Ob Außen- und Sicherheitspolitik, Mobilitätskonzepte oder die Aufstellung der Partei selbst – auf fast allen Themenfeldern ergreifen auch die führenden Köpfe der LINKEN die Flucht nach vorn und betonen eifrig die Unausweichlichkeit kommender Entwicklungen. Sahra Wagenknecht hat hingegen verstanden, dass der Fokus auf das Unbekannte große Teile der arbeitenden Bevölkerung verunsichert. Nicht erst seit Tony Blairs »New Labour« und der »Erneuerung« der Sozialdemokratie durch Gerhard Schröder und Konsorten weiß die Mehrheit, dass Neuerungen im politischen System selten Fortschritte für die untere Hälfte der Bevölkerung bedeuten.
Doch so falsch es ist, das »Neue« pauschal abzufeiern, so irreführend ist auch die Strategie von Wagenknecht und Teilen der Gewerkschaften, sich den Sozialstaat der Nachkriegs-BRD zurückzuwünschen. Wagenknecht verfällt hier in ein Lob der »guten alten Zeit«. Dies ist neben ihrem verlogenen Kulturkampf der gravierendste Fehler ihres politischen Projekts. Denn eine Renationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wäre, wenn überhaupt, nur mit massiver Ausgrenzung zu erreichen. So sozialdemokratisch Wagenknechts Vorschläge letztlich auch sein mögen – »Sozialismus in einem Land« war noch nie ein guter Ansatz und immer ein schwerer Schlag für den Internationalismus der Arbeiterklasse.
Noch verhängnisvoller als die weltfremde Wartestellung, in die uns das Nachdenken über das Neue oder die Sehnsucht nach dem Alten hineinmanövriert, sind die Rezepte für den Umgang damit. Auf der Gegenseite des »Linkskonservatismus« hält sich hartnäckig das Mantra der verbindenden Klassenpolitik, dem auch Mario Candeias noch nicht entkommen ist. Mit »Verbindungen«, das sollten die letzten Jahre bewiesen haben, ist aber kein erfolgreiches Narrativ zu bauen. Im politischen Alltag folgt zudem auf die Behauptung einer notwendigen Verbindung von Widersprüchen: wenig.
Damit ist nicht gesagt, dass Partei, Stiftung und linke Thinktanks nicht gute Konzepte hätten. Doch am Infostand ist kaum jemand in der Lage zu erklären, wie genau man die Dinge denn »verbinden« will, sodass am Ende ein gutes Ergebnis herausspringt. Immer wieder wurde darauf hingewiesen, dass es beispielsweise greifbare und attraktive Zukunftsszenarien für Kohlekumpel und Autobauerinnen braucht. Doch auch hier bleibt es bei Ankündigungen. Kaum etwas, das sich linke Expertinnen und Experten an Transformationskonzepten ausgedacht haben, hat sich bislang in der politischen Kommunikation bewährt.
Es ist sicherlich richtig, dass die wenigen Sekunden eines Pressestatements wenig Inhalte erlauben. Doch auch in programmatischen Texten markiert die »Verbindung« in der Regel leider nur eine gedankliche Sackgasse. Auch Candeias erliegt in seinem Strategiepapier der Versuchung, Gedankengänge mithilfe der Formel des Verbindenden abzubrechen – und das gerade dort, wo er zuvor den Kern der gesellschaftlichen Ohnmacht herausschält.
Candeias schreibt: »Viele spüren in diesen Zeiten multipler Krisen und kommender Katastrophen eine Überforderung, die ihre eigene und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit gefährdet. Viele haben das Gefühl, dass alles anders werden muss, die Dringlichkeit ist fast überwältigend. Und doch geht kaum etwas voran. Dieses ›Weiter so‹ erzeugt eine verallgemeinerte Unsicherheit. Alles zu ändern, ohne recht zu wissen wie, löst ebenfalls Ängste und Unsicherheit aus. Aus dieser Situation erwächst eine Sehnsucht nach Normalität, die selbst jedoch irreal geworden ist.« Die permanent kommunizierte Dringlichkeit der globalen Krisen trifft auf einen politischen Stillstand, der von den Menschen durch Rückzug, Entpolitisierung und Spießertum verarbeitet wird.
»Die Trägermilieus des ›Verbindenden‹ sind diejenigen, die qua Ausbildung gelernt haben, dass es okay ist, Ansprüche in der Schwebe zu halten: die akademischen Mittelklassen.«
Candeias artikuliert also zunächst zutreffend, wie die Überforderung angesichts einer globalen Unsicherheit in Orientierungslosigkeit umschlägt, um dann unvermittelt Widerstandspotentiale zu vermuten: »Die Tatsache, dass es immer schwieriger wird, sich zu arrangieren, erzeugt aber auch ein Potenzial des Widerstands. Dieses kann aber nur gehoben und organisiert werden, wenn es gelingt, mögliche realisierbare Schritte mit politischem Gestaltungswillen und einer Perspektive des Systemwechsels überzeugend zu verbinden.«
Diese zentrale Behauptung führt er leider nicht weiter aus. Der Satz ist eine Kopfgeburt, die nicht zu den gehaltvollen Beobachtungen zuvor passt und die die LINKE einem ihrer führenden Intellektuellen nicht durchgehen lassen darf. Nicht nur das: Die »verbindende Klassenpolitik« versprüht wenig Kampfgeist. Sie wirkt in der Praxis oft abgehoben, als könnte man mit der Macht des Gedankens Widersprüche auflösen. An Infoständen oder bei Haustürgesprächen kann man das beobachten: Während ehemalige LINKE-Wähler mit Phrasen aus Wagenknechts letztem Talkshow-Auftritt klagen, dass die Partei zu sehr den Grünen nacheifere, referieren die aktiven Genossinnen und Genossen über die Verbindung von Klimaschutz und Sozialpolitik.
Dieses Trauerspiel ist allerdings auch nicht wirklich »neu«, sondern wird nur neu aufgelegt. Das »Verbindende« ist ein Kreuz, das die Linke schon seit Kaisers Zeiten mit sich herumträgt und das eigentlich nur die philosophisch Interessierten in ihren Reihen so wirklich inspiriert. Im Gewand des »Verbindenden« werden Widersprüche still gestellt statt gelöst, was ungewollt das Weiter-so des Kapitalismus spiegelt: »Widersprüche aller Länder – verbindet euch.«
Außerdem bewirkt die Rede von »Verbindungen« das Gegenteil dessen, was sie bezweckt. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die einzelnen Teile, die es zu »verbinden« gilt. »Denke nicht an den rosa Elefanten« – »Denke nicht an die Spaltung der arbeitenden Klasse«. So wird potenziell mobilisierende Energie in der Aufarbeitung von Widersprüchen absorbiert. Seit einigen Jahren ist allerorts in der gesellschaftlichen Linken von der Suche nach schlüssigen Narrativen die Rede. Das erkennt implizit an, dass es eine Erzählung braucht, bei der man nicht dauernd in vermeintlichen Gegensatzpaaren denken muss, um zu verstehen, was gemeint ist. Die LINKE ist gut beraten, neben dem »Neuen« auch vom »Verbinden« in Zukunft zu schweigen. Es ist ein allzu billiges Mittel, um kommunikative Brücken zu bauen, die jedoch nicht tragen.
Es stellt sich allerdings die Frage, wie das »Verbindende« derart Karriere machen konnte. Ob in Pressestatements der Partei oder an WG-Küchentischen, in Szenekneipen oder auf Gewerkschaftsseminaren – das Mantra der Verbindung ist überall zu hören. Hier muss man leider feststellen, dass die Trägermilieus des »Verbindenden« diejenigen sind, die qua Ausbildung gelernt haben, dass es okay ist, Ansprüche in der Schwebe zu halten: die akademischen Mittelklassen.
Das studentische Milieu, dem diese entspringen, ist entgegen seiner Selbstwahrnehmung nicht sonderlich kommunikationsstark. Viele erlernen, wenn überhaupt, das Argumentieren erst später im Beruf. Studierende, insbesondere der Geisteswissenschaften, können in ihrem Umfeld großteils Behauptung an Behauptung reihen, ohne wirklich jemals in einem formalen Sinne argumentieren zu müssen. Es wäre unfair, Candeias Thesenpapier anzukreiden, dass es auf Behauptungen fokussiert. Aber es stellt sich schon die Frage, warum er gerade dieses Genre gewählt hat: »Thesen« versprechen zwar Innovation und Geistesblitze, sind aber allzu oft ungedeckte Schecks.
Der nicht sonderlich marxistische Theoretiker Andreas Reckwitz hat – quasi als liberaler Kommentator von den Seitenlinie – zutreffend von der Fokussierung der akademischen Mittelklassen auf das Singuläre, das Individuelle, Unbekannte, eben das »Neue« gesprochen. Diese »Hintergrundstruktur« durchzieht genau das gesellschaftliche Milieu, das die Parteiführung nicht erst seit der Aufstellung von Carola Rackete gezielt ansprechen will. Auch an der Bewegungsorientierung ist nämlich gar nicht so viel Neues. Janine Wissler und Martin Schirdewan legen lediglich das Konzept der »Mosaiklinken« von Hans-Jürgen Urban neu auf, das sich schon die alte Parteiführung unter Katja Kipping und Bernd Riexinger angeeignet hatte, um ihren Platz zwischen altbackenen Gewerkschaften und jungen Bewegungsinitiativen zu finden.
»Es gibt die Tendenz, sich eine neue Mitgliedschaft zu wünschen, anstatt auf eine (Re-)Aktivierung der ›real existierenden‹ Mitglieder zu setzen.«
Angesichts der existentiellen Not der LINKEN und der Stärke der AfD geschieht dies nun unter dringlicheren Vorzeichen als noch vor zehn Jahren. Während die Welt ins Wanken gerät und die alte Arbeiterklasse, wie Klaus Dörre sagt, »in der Warteschlange« stagniert, kommen ein paar junge Bürgerkinder um die Ecke, die mit »neuen« Konzepten die Welt retten – und verändern – wollen. Geht es nach der Führung der LINKEN, sollen diese Menschen für die Parteiarbeit, oder wenigstens als Wahlkampfunterstützung gewonnen werden. Konzeptuell mögen sie anknüpfen an sozialistische Traditionen, doch habituell strotzen sie vor Selbstbewusstsein und Geltungsdrang, Neugier und Lebenslust – was angesichts der Schwäche der Linken insgesamt viele befremdet. Wie kann man ausstrahlen, dass die Welt einem zu Füßen liegt, wenn die organisierte Arbeiterklasse doch am Boden ist?
Die vermutlich großteils bürgerlichen Bewegungsaktiven, die die Kandidatur von Rackete dazu motivieren soll, sich der Partei anzuschließen, werden genau damit konfrontiert werden: Dass weniger ihre konkreten Positionen als vielmehr ihre Weltsicht sie von den 20 bis 30 Prozent der Menschen trennt, die gar nicht wählen gehen und die die Partei noch vor abtrünnigen Grünen und ehemaligen SPDlern gewinnen sollte.
Insofern ist die Zeitdiagnose in Candeias Thesenpapier zwar richtig. Der Übergang in einen Grünen Kapitalismus ist vollzogen, der Entwicklungspfad in eine neue Blockkonfrontation vorgezeichnet, und damit auch eine mittelfristige Defensive der Linken insgesamt – Candeias prognostiziert hier mindestens eine Dekade. Darauf gilt es sich einzustellen, anstatt so zu tun, als ob die Gesellschaft durch die Partei beliebig gestaltbar wäre.
Doch wie so oft, wenn führende Linke nicht weiter wissen, suchen sie ihr Heil in der »regionalen Verankerung«, der Kommunalpolitik oder Nachbarschaftsarbeit. Candeias spricht pathetisch von »Inseln des Überlebens« und »Enklaven eines rebellischen Regierens«, um »Perspektiven offen zu halten«. Für einen Direktor in einer bundesweit agierenden politischen Stiftung mit internationalistischem Anspruch ist das ein trauriges Eingeständnis. Hoffnung schöpft er hingegen aus den Streikbewegungen, die Ausgangspunkt für den »Wiederaufbau einer gesellschaftlichen Linken« seien. Was die Zukunft der Partei betrifft, gelte es abzuwägen, ob zu einem bestimmten Zeitpunkt eine »disruptive Neugründung«, das heißt ein organisatorischer Befreiungsschlag wirkungsvoll sein könnte, oder ob die bestehenden Ressourcen der aktuellen Partei mehr Potenzial haben.
Neue Entwicklungen, Aufbruch, regionale Orientierung. Das Narrativ von Partei und Stiftung ist letztlich nicht nur der Bewegungsorientierung geschuldet, die, gäbe es wirklich kraftvolle, in der arbeitenden Bevölkerung verankerte Bewegungen, auch nicht falsch wäre. Doch die salbungsvolle Rhetorik vom innerparteilichen Neuanfang, bei dem das »Verbindende« im Vordergrund steht, muss die LINKE abschütteln. Linke sollten weder die Potenziale noch die Fehler ihrer eigenen Strukturen überschätzen. Der Sozialismus kommt auch dann nicht direkt um die Ecke, wenn nur die Parteiführung charismatischer oder der Ortsverein verlässlicher ist. Das Bewusstsein über die nicht mehr abwendbare Klimakatastrophe und die von Linken kaum beeinflussbare Blockkonfrontation darf nicht dazu führen, die verbliebenen Kräfte allesamt nach innen zu lenken und eine Daueranpassung an die »neuen« Entwicklungen zu fordern.
»Die Zukunftsängste der Jungen, die Einsamkeit der Alten, die Fragilität des verbliebenen Wohlstands sollten dicht beschrieben im Zentrum der politischen Kommunikation stehen.«
Der Anthropologe Joel Robbins hat einen solchen Mechanismus bei religiösen Gruppierungen untersucht. Weil Verantwortungszusammenhänge in einer unübersichtlich gewordenen Welt so komplex sind wie die Lieferkette eines Smartphones, wenden sich weltanschauliche Gruppierungen ihrer inneren Verfasstheit zu. Wo selbst kollektive Organisierung keinen nennenswerten Einfluss auf die Regeln der äußeren Welt verspricht, wählen die Einzelnen Lebensweisen, die wenigstens moralische Sicherheiten garantieren. Mit einem solchen Mindset ist nun nicht mehr die Gesellschaft das Problem, sondern das eigene Verhalten beziehungsweise das der unmittelbaren Mitstreiterinnen und Mitstreiter. In der LINKEN gibt es dahingehend, wie Thies Gleiss anmerkt, die Tendenz, sich eine neue Mitgliedschaft zu wünschen, anstatt auf eine (Re-)Aktivierung der »real existierenden« Mitglieder zu setzen.
An der Basisarbeit führt kein Weg vorbei. Sie muss ein politisches Kollektiv formen und dafür die kulturellen Konflikte beenden. Nichts wäre falscher, als die Kämpfe, die man mit dem Kapital aufgrund der eigenen Schwäche nicht führen kann, auch nach der Abtrennung des Wagenknecht-Flügels weiterhin mit sich selbst auszutragen. Für religiöse Gemeinschaften, die mehr vom Jenseits als vom Diesseits erwarten, mag der Fokus auf die individuelle Lebensführung aufgehen. Für eine sozialistische Kraft, die bei eigener Stärke die Interessen der Herrschenden gefährden könnte, ist die Orientierung nach innen jedoch gefährlich.
Die wunderliche Faszination einer ganzen Gesellschaft für die Querelen einer Partei, die programmatisch nur wenige interessiert und die noch weniger wählen, überdeckt jegliche politische Programmatik. Die Dauerbeschallung zur aktuellen Lage der LINKEN will eigentlich nur sagen: Eine kraftvolle sozialistische Opposition ist so unmöglich wie der Kapitalismus alternativlos. Wenn die Partei als Sammelbecken von Sozis bis Antifas endgültig scheitert und die Umfragewerte für eine potentielle Wagenknecht-Partei sich als Luftblasen erweisen, wird es an einer noch kleineren gesellschaftlichen Linken sein, die Scherben aufzukehren.
Bis dahin ist hoffentlich noch etwas Zeit. Man sollte jedoch schon jetzt aufhören, unnötige Assoziationen hervorzurufen. Wer »Neustart« hört, denkt an das Scheitern des Alten. Wer »Verbindendes« hört, denkt an Polarisierung. Wer hingegen die Ohnmacht in Worte fasst, bemächtigt sich eines kommunikativen Paradoxes und hat sie – ein Stück weit – in der Hand. Die Zukunftsängste der Jungen, die Einsamkeit der Alten, die Fragilität des verbliebenen Wohlstands sollten dicht beschrieben im Zentrum der politischen Kommunikation stehen, anstatt vor allem mit Feuerwehrpolitik die Brände des Kapitalismus löschen zu wollen. Auf der Grundlage einer geteilten Ohnmacht kann man sich organisieren.
Bisher steht die Partei mit »Regierungslinken« und »Linkskonservatismus« vor zwei falschen Alternativen: Doch wer verstanden hat, dass es schlimm ist und noch schlimmer wird, vermag vielleicht auch diejenigen Mitglieder und Wählerinnen zu gewinnen, die gedanklich noch mit Wagenknecht in der Bundesrepublik der 1950er Jahre festhängen, oder verzweifelt mit Ramelow die nächste Koalition planen.
Simon Freise ist aktiv im Ortsverband der LINKEN Leipzig-Ost.