24. Juni 2022
Die Tage linker Massenparteien liegen lange zurück, die Linke ist randständig und zersplittert – ein Zustand der wohlwollend als »Mosaik« beschrieben wurde. Heute müssen wir uns eingestehen: Eine mehrheitsfähige Linke braucht ein strategisches Zentrum.
Mit der Strategie der letzten zehn Jahre hat sich die Partei selbst in die Sackgasse manövriert.
Kürzlich erzählte mir ein junger Linker aus Westdeutschland, dass er sich nicht an eine Zeit ohne die LINKE erinnern könne. Als die Partei vor fünfzehn Jahren gegründet wurde, war er noch Grundschüler. Die einzige sozialistische Partei war sein ganzes Leben lang ein ständiger politischer Begleiter – und nicht selten ein eher peinlicher, wie er selbst anmerkte. Obwohl er die Partei immer gewählt habe, sei es ihm nie in den Sinn gekommen, Mitglied zu werden.
Jemanden wie mich, der der Linkspartei 2007 wenige Monate nach ihrer Gründung beigetreten ist, ließ diese Aussage ein wenig zusammenschrecken. Denn ich erinnere mich noch an die hoffnungsvollen und elektrisierenden Anfangstage der Partei, als sie in den Medien verteufelt und vom politischen Establishment als eine Kabale gefährlicher Extremistinnen und Extremisten denunziert wurde. Je mehr Gegenwind die Partei erfuhr, desto beliebter schien sie bei den Menschen zu werden: Wahlkampfveranstaltungen waren energiegeladen und gut besucht, und die Partei feierte reihenweise Wahlerfolge. Es war eine gute Zeit, um Sozialist zu sein.
Als Praktikant im Wahlkampf 2009 reiste ich in Städte und Gemeinden im ganzen Land und erlebte aus erster Hand, wie DIE LINKE die unterschiedlichen Strömungen der zersplitterten deutschen Linken zusammenbrachte. Was sie einte, war der Wunsch, »mitzuwirken am Aufbau des Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, wie es Oskar Lafontaine auf dem Gründungskongress der Partei formulierte. Zum ersten Mal seit den 1950er Jahren hatte Deutschland eine geeinte sozialistische Opposition im Parlament und auf der Straße. Die Partei war bei weitem nicht perfekt, aber sie bewegte sich in die richtige Richtung.
Die Vorstellung, dass DIE LINKE einen Sozialismus für das 21. Jahrhundert aufbauen sollte, mag im Nachhinein etwas absurd klingen. Aber Lafontaine artikulierte ein Gefühl, das damals weit verbreitet war: Nach der Gründung des Bloco de Esquerda in Portugal und der Izquierda Unida in Spanien in den späten 1990er Jahren war DIE LINKE Teil einer zweiten Welle neuer sozialistischer Parteien, die sich in ganz Europa gründeten. Es schien, als würde die gesellschaftliche Linke aus der Versenkung auftauchen. Die Gründung der Partei der Europäischen Linken im Jahr 2004 und die Wahl von linken Präsidenten wie Lula, Hugo Chavez und Evo Morales in Lateinamerika haben dieses Gefühl nur noch verstärkt.
Unsere Bewegung hat seither viele Höhen und Tiefen erlebt: den Aufstieg und Fall von Jeremy Corbyn, den Wahlsieg und die politische Niederlage von Syriza oder die letztlich gescheiterte Kandidatur von Bernie Sanders für die Präsidentschaftswahlen der Demokraten. Die Partei DIE LINKE hingegen verharrte in einer politischen Stagnation: Seit 2010 gab es selten Durchbrüche, aber auch selten Niederlagen. Wäre DIE LINKE nicht durch das Zusammentreffen interner und externer Faktoren in eine so brenzlige Lage geraten, dass sie im September letzten Jahres fast ganz aus dem Bundestag geflogen wäre, hätte die Partei wahrscheinlich noch ein weiteres Jahrzehnt so weitermachen können wie bisher. Es brauchte diese monumentale Niederlage, um »das offen und schonungslos vor Augen treten zu lassen, was allen, die etwas nüchtern auf die Partei geschaut haben, schon lange bewusst war«, wie es der Partei-Älteste Michael Brie kürzlich ausdrückte.
Die vielfältigen Gründe für diesen desolaten Zustand sind in den letzten neun Monaten von Parteimitgliedern und Begleitern ausführlich seziert worden. Die einen glauben, die Partei sei wegen einer angeblich dogmatischen und einseitigen Außenpolitik unwählbar geworden. Andere wiederum meinen, die Partei sei politisch und ästhetisch in kleinbürgerliche Milieus abgedriftet, deren Interessen nicht mit denen der traditionellen Arbeiterklasse vereinbar seien. Dabei haben beide Positionen eines gemeinsam: Sie wurden fast genauso vor zehn Jahren formuliert, als die Partei 2012 an der Kampfabstimmung zwischen Dietmar Bartsch und Bernd Riexinger schon einmal fast auseinanderkrachte.
Der kürzlich veröffentlichte »Aufruf für eine populäre Linke«, der von einer Reihe prominenter Parteimitglieder unterzeichnet wurde, rekapituliert weitgehend dieselben Argumente, die Sahra Wagenknecht und ihre Unterstützer im letzten Jahrzehnt vorgebracht haben. Selbes gilt für die politische Antwort darauf. Auch Benjamin-Immanuel Hoffs »Alternativleitantrag«, der die alte PDS-Formulierung »sozialistische Gerechtigkeitspartei« für eine neue Generation aufwärmt, schöpft vor allem aus der Vergangenheit. Irgendwie hat man das Gefühl, das alles schon einmal gelesen zu haben.
Auch in einem anderen Punkt scheinen sich alle einig zu sein: Die Partei muss eine Art »strategisches Zentrum« entwickeln. Sie braucht eine starke Führung, die in der Lage ist, die Partei zu formen und führen. Dies wäre sicherlich eine willkommene Entwicklung und eine Voraussetzung für das Überleben der Partei als politische Kraft. Doch der »eingefrorene Konflikt« der Partei wird dadurch nicht gelöst werden können.
Die Geschichte linker Kräfte in Deutschland ist wie sonst nirgendwo in der westlichen Welt von Niederlagen geprägt. Ob 1914, 1919, 1933 oder 1989 – die sozialistische Bewegung, die einst Inspiration und Vorbild für Mitstreiterinnen und Mitstreiter auf der ganzen Welt war, wurde wiederholt durch eine Mischung aus Repression, Vereinnahmung und völliger Vernichtung außer Kraft gesetzt. Obwohl es den Nazis nicht gelungen ist, sie vollständig zugrunde zu richten, fristet sie seit den 1950er Jahren ein randständiges Dasein. Von der Mehrheitsgesellschaft wird sie ignoriert und definiert sich seither zunehmend durch ihre eigene kulturelle und politische Marginalität. Während Deutschland nach wie vor eine der stärksten Gewerkschaftsbewegung in der westlichen Welt hat, spielt die »radikale Linke« als organisierte politische Kraft innerhalb dieser Bewegung schon lange keine bedeutende Rolle mehr.
Das soll nicht heißen, dass man es nicht versucht hätte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts baute eine relativ kleine Gruppe von Sozialistinnen und Sozialisten in der SPD und der DKP Netzwerke von Betriebsräten in den industriellen Hochburgen des Landes auf und versuchte, die einstmals tiefen Verbindungen zwischen der sozialistischen Bewegung und der organisierten Arbeiterschaft wieder zu stärken. Ihre Erfolge, so bescheiden sie auch waren, übertrafen bei weitem alles, was die gesellschaftliche Linke heute vorzuweisen hat. Doch durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus im Osten, der auch große Teile der marxistischen und sozialistischen Linken im Westen lahmlegte, wurden diese Fortschritte mehr oder weniger zunichte gemacht.
Die heutige Entfremdung zwischen der Arbeiterbewegung und der radikalen Linken wurde also erst in den 1990er Jahren zementiert, geht aber auf das Aufkommen der autonomen Bewegung in Westdeutschland in den 1960er und 70er Jahren zurück. Nach einem kurzen und spektakulär gescheiterten Versuch, die Industriearbeiterschaft zu radikalisieren, machten die Autonomen ihre Marginalisierung zur Tugend und widmeten sich dem Aufbau einer eigenen Gegenkultur, die sich in besetzten Häusern, »autonomen Zentren« und linken Kneipen zusammenfand.
Für diese Linke, die bis weit in die 1990er Jahre hinein Zehntausende für sich gewinnen konnte, war die Arbeit in den Gewerkschaften oder in der parlamentarischen Politik zu reformistischer Integration verdammt. Man war überzeugt, dass der Sozialismus auf diesem Weg nicht zu realisieren sei. Dementsprechend waren die wichtigsten Klassenkämpfe der 1980er Jahre in ihren Augen nicht etwa der Kampf der IG Metall für die 35-Stunden-Woche im Jahr 1984 – als fast 60.000 Arbeiter fünf Wochen lang streikten und nicht nur kürzere Arbeitstage, sondern auch 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze forderten –, sondern vielmehr die Maikrawalle in Berlin drei Jahre später, an die man sich heute vor allem wegen des Brandanschlags auf einen Supermarkt erinnert, der von einem völlig unpolitischen Passanten verübt worden war.
Aus Ermangelung an Alternativen wurden viele junge Menschen zunehmend über diese Art der Politik radikalisiert. Links zu sein wurde nun mit einer diffusen Wut auf »Staat, Nation und Kapital« assoziiert. Diese Opposition äußerte sich vor allem in aufregenden, aber rein symbolischen Demonstrationen, die meist weder dazu im Stande waren, die öffentliche Meinung zu verändern noch Druck auf die Regierung auszuüben, und vor allen Dingen das militante Selbstverständnis der Demonstrierenden stärkten. In der radikalen Linken sahen viele eher einen Zufluchtsort aus der Gesellschaft und den ihr zugeschriebenen Übeln und nicht eine politische Kraft, deren Ziel es ist, die Verhältnisse der Gesellschaft zu verändern.
Die Politik des autonomen Widerstands mag in einer prosperierenden fordistischen Gesellschaft ihre Berechtigung gehabt haben, aber sie hat sich als Bezugspunkt für den Aufbau einer radikalen Reformpartei mit einer Massenbasis als äußerst ungeeignet erwiesen. Der Einfluss dieser Ära ist heute auch bei der LINKEN allgegenwärtig – sei es durch eine subkulturell angehauchte Ästhetik oder eine Rhetorik, die ein linkes Nischenpublikum anspricht. Auch in der Unfähigkeit der Partei, die Art von entschlossener Führung zu entwickeln, die sich so viele Mitglieder heute wünschen, wirkt das Erbe der Autonomen bis heute nach.
Die Niederlagen des 20. Jahrhunderts spiegeln sich in der mangelnden Zielstrebigkeit der LINKEN wider. Schien es vor fünfzhen Jahren noch aussichtsreich, die SPD von links zu überholen, hat sich die Partei heute längst damit abgefunden, bestenfalls eine 10-Prozent-Kraft zu sein, die das soziale Gewissen der linken Mitte, aber keine ernsthafte Konkurrentin ist – weder im Kampf um die Vorherrschaft in der Arbeiterbewegung und erst recht nicht im Kampf um die Staatsmacht. Einen Gewerkschaftsrat, um die eigenen Beziehungen zu den Gewerkschaften zu stärken, gibt es bei der Linkspartei erst seit wenigen Monaten.
Unabhängig davon, was aus der LINKEN in den kommenden Monaten und Jahren wird, spricht vieles dafür, dass die aktuelle Zäsur das Ende eines ganzen Zyklus linker Politik in der Bundesrepublik markiert.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 gab es Ende der 90er Jahre mit der Antiglobalisierungsbewegung und dem Widerstand gegen die NATO-Bombardierung Jugoslawiens erste Anzeichen für ein Wiederaufleben der Linken. Die Proteste gegen den Irak-Krieg im Jahr 2003 und die Agenda 2010 ein Jahr später gaben den Anstoß für die Gründung der Linkspartei. Im Gegensatz zu der gesellschaftlichen Linken des 20. Jahrhunderts war in dieser Zeit keine politische Kraft in der Lage, diese zersplitterte Linke zu einen und zu führen – und es schien auch, also würde das niemand überhaupt versuchen.
Um den gespaltenen Charakter der deutschen Linken zu theoretisieren, wurde die euphemistische Formulierung der »Mosaiklinken« etabliert, die 2009 erstmals vom IG Metall-Funktionär und Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Urban geprägt wurde. Urban schrieb auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, dass die Systemkrise des Kapitalismus einen Punkt erreicht habe, an dem ein »sozial-ökonomischer Systemwechsel« notwendig geworden sei, der wiederum aber »eines agierenden Akteurs, einer handlungswilligen und -fähigen Linken« bedürfe, der »weit und breit nicht in Sicht« sei. Urban schrieb der Linken »Lähmungserscheinungen« zu, die sie daran hinderten, aus ihrer – formal richtigen – Krisenanalyse politisches Kapital zu schlagen. Dasselbe gelte für die Gewerkschaften. Trotz ihres beträchtlichen wirtschaftlichen und sozialen Gewichts seien sie durch einen strukturellen Konservatismus ausgebremst, der daher rühre, dass ihre unmittelbare Verpflichtung die Sicherung der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sei.
Die Unfähigkeit der Linken, die Krise des Kapitalismus als Chance zu nutzen, erfordere die Schaffung einer neuen strategischen Allianz zwischen den Gewerkschaften, der globalisierungskritischen Bewegung, progressiven Nichtregierungsorganisationen und dem, was Urban die »kulturelle Linke« nannte – Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle und andere fortschrittlich gesinnte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Nach dem »Prinzip der autonomen Koordination« müsste die Mosaiklinke in einem Prozess der »kollektiven theoretischen Anstrengungen« sowohl eine Analyse der Konjunktur entwickeln als auch mit der Formulierung einer Widerstandsstrategie beginnen. Mittelfristig, so hoffte Urban, könnte dieser Prozess die organisierte Arbeiterschaft wiederbeleben. Darüber hinaus »böte der Linken vielleicht die Möglichkeit, sich in der postneoliberalen Periode des Kapitalismus als politische Hoffnungsträgerin zurückzumelden«.
Als Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall ist Hans-Jürgen Urban heute wohl einer der einflussreichsten Marxisten in der Bundesrepublik, dessen Engagement für die Stärkung der Arbeiterbewegung unbestritten ist. Doch dreizehn Jahre nach dem Erscheinen seines berüchtigten Aufsatzes ist die Frage durchaus berechtigt, ob er der Linken mit dem Konzept der Mosaiklinken nicht eher einen Bärendienst erwiesen hat. Ob in der Partei DIE LINKE, in den Gewerkschaften oder in der außerparlamentarischen Linken – die Rede von der Mosaiklinken ist inzwischen zu einer bequemen Ausrede geworden, um die Frage zu umschiffen, wie die gesellschaftliche Linke mehrheitsfähig werden und letztlich die Staatsmacht übernehmen kann. Sie hat heute nicht nur keine erkennbare Führung, diese Leerstelle wird oftmals sogar als positiver – oder zumindest unveränderlicher – Charakterzug dargestellt.
In der Zwischenzeit scheint das »Mosaik« selbst, sofern es überhaupt jemals existierte, auseinanderzufallen. Die Interventionistische Linke, eine »multizentrische postautonome Organisation«, die 2005 mit der Absicht gegründet wurde, die verstreuten autonomen Szenen des Landes zu einer schlagkräftigen Bewegung zu vereinen, befindet sich seit Jahren im Abschwung. Viele Ortsgruppen lösen sich entweder auf oder verlassen die Organisation und die für die Interventionistische Linke typischen Mobilisierungen werden von Jahr zu Jahr kleiner. Die nominell linken Flügel der SPD und der Grünen sind zahnlos, da sie nun an eine Regierung gebunden sind, die gerade beschlossen hat, Deutschland zu einer führenden Militärmacht aufzubauen. Der einzige Teil der Mosaiklinken, der seinen Einfluss in den letzten zehn Jahren nicht hat schwinden sehen, ist die IG Metall, die erst letzte Woche eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent für die Beschäftigten in der Stahlindustrie errungen hat.
Viele der Aufgaben, die Urban der Mosaiklinken zugewiesen hat, wie die Entwicklung eines gemeinsamen theoretischen Verständnisses und einer strategischen Perspektive, bleiben unerfüllt. Wir sind in vielerlei Hinsicht nicht weiter als im Jahr 2009. Denn ein strategisches Zentrum – wie einst die sozialistischen und später die kommunistischen Massenparteien – ist unerlässlich, um die verschiedenen Stränge des Protests und der Opposition in der Gesellschaft zusammenzuführen und sie zu einer Kraft zu vereinen, die in der Lage ist, die Staatsmacht wirklich herauszufordern und schließlich zu erobern. Mit der Diversifizierung der Arbeitswelt ist diese Aufgabe insgesamt sicherlich schwieriger geworden, aber wir haben noch keine andere Organisationsform gefunden, die ihr das Wasser reichen kann.
DIE LINKE ist indes selbst davon überzeugt, dass ein solches Projekt entweder nicht mehr möglich oder sogar nicht erstrebenswert ist. In den letzten zehn Jahren hätte sie daran arbeiten können, eine solche politische Kraft zu werden und mit der Art von populistischen Kampagnen und Organisationstechniken zu experimentieren, mit denen Jeremy Corbyn, Bernie Sanders oder auch die Arbeiterpartei Belgiens (PTB) Erfolge hatten. Die PTB, die im Gefolge der Studentenbewegung von 1968 als kleine maoistische Gruppe gegründet wurde, leitete Anfang der 2000er Jahre einen grundlegenden Wandel ihrer Parteikultur und strategischen Ausrichtung ein. Während sie bei den Wahlen 2008 weniger als 1 Prozent holte, konnte sie im Jahr 2019 fast 9 Prozent erringen, in einigen Arbeitervierteln liegen die Zustimmungswerte derzeit sogar bei über 20 Prozent, während sich ihre Mitgliederzahl in der Zwischenzeit verzwanzigfacht hat.
Belgien ist nicht Deutschland, und die PTB selbst gibt zu bedenken, dass ihre Erfahrungen nicht einfach auf andere Länder übertragen werden können. Aber ihre Erfolgsbilanz zeigt, dass die Stagnation, unter der DIE LINKE im gleichen Zeitraum litt, keineswegs unvermeidlich war.
Was am Wochenende auf dem Krisenkongress in Erfurt passieren wird, ist ungewiss. Der zunehmend kämpferische Ton, der in den sozialen Medien angeschlagen wird, deutet darauf hin, dass eine Spaltung bevorstehen könnte. Für den Verbleib im Parlament könnte keiner der beiden konkurrierenden Blöcke die erforderliche Stimmenzahl aufbringen. Ich bin noch immer in der Partei und obendrein zutiefst überzeugt, dass es eine starke sozialistische Bewegung in der deutschen Gesellschaft braucht – und so hoffe ich sehr, dass es nicht dazu kommen wird. Es wäre nicht nur ein großer Rückschritt für die Partei, sondern könnte auch bedeuten, dass der demokratische Sozialismus für ein Jahrzehnt oder länger von der politischen Bühne verschwindet.
Wir müssen anerkennen, dass uns die Politik, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, in eine strategische Sackgasse geführt hat – der desolate Zustand der Partei und der gesamten Linken bezeugt das. Mobilisierung für große, spektakuläre Proteste ist lobenswert. Aber ohne die Unterstützung von Gewerkschaften, die in der Lage sind, wirtschaftlichen Druck auszuüben, und ohne eine starke linke Kraft im Parlament, die die öffentliche Meinung in wirksame Gesetze umsetzen kann, bleibt von den Massenmobilisierungen selten mehr als ein öffentlicher Ausdruck moralischer Empörung.
Wenn DIE LINKE überleben will, muss ihre unmittelbare Priorität der Verbleib im Bundestag sein. Aber parallel dazu muss sie sich auf die Bereiche der Gesellschaft fokussieren, in denen sie tiefere soziale Wurzeln schlagen kann. Das langfristige Ziel der Partei sollte nicht sein, wieder 5 oder 10 Prozent der Bevölkerung hinter sich zu versammeln, sondern die Mehrheit zu vertreten. Die Zukunft des demokratischen Sozialismus, in Deutschland und überall, liegt im Aufbau einer Massenbewegung der Arbeiterklasse.
Mit diesem Anspruch klinge ich heute wahrscheinlich genauso verrückt wie Lafontaine, als er vor fünfzehn Jahren nicht weniger forderte, als den Aufbau eines Sozialismus für das 21. Jahrhundert – und vielleicht ist es das auch. DIE LINKE wird sicherlich nicht über Nacht zu einer Massenbewegung werden, und wahrscheinlich auch nicht in den nächsten fünf oder zehn Jahren. Aber das Potenzial ist da.
Deutschland mag eine Wohlstandsgesellschaft sein, aber es gibt immer noch Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die von Armutslöhnen leben, die vom Wirtschaftsboom des letzten Jahrzehnts nichts hatten und die immer noch jeden Tag darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Ihr Leben ist in den letzten Monaten durch die explodierende Inflation und die steigenden Benzinpreise noch viel schwieriger geworden. Die meisten von ihnen haben gerade wahrscheinlich das Gefühl, dass sich die Politik überhaupt nicht um sie kümmert. Einige von ihnen haben früher DIE LINKE gewählt und tun es heute nicht mehr. Andere sind wahrscheinlich noch nie zur Wahl gegangen. Die Entwicklung einer Strategie, die diesen Menschen die oberste Priorität einräumt, wäre ein wichtiger erster Schritt zur Erneuerung der Linkspartei.
Dasselbe gilt für die Außenpolitik, für die die Partei seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine besonders hart kritisiert wird. Auch wenn die Pläne von Olaf Scholz, 100 Milliarden für neue Waffen und militärische Ausrüstung auszugeben, im Moment beliebt sind, begegnet eine bedeutende Minderheit der neuen deutschen Außenpolitik schon jetzt mit Skepsis. Diese Zahl wird unweigerlich zunehmen, sollte Deutschland, wie es der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil neulich ausdrückte, nach »knapp 80 Jahren Zurückhaltung« wieder zu einer Militärmacht werden. Der Widerstand gegen Krieg und Militarisierung ist seit Generationen ein wichtiger Katalysator für die Erneuerung der Linken gewesen, und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass dies nicht auch dieses Mal der Fall sein könnte.
Die Rechtspopulisten der AfD sind zerstritten und das politische Establishment steht geschlossen hinter einer zunehmend unpopulären Regierung. Die objektiven Bedingungen für DIE LINKE, um ihre Rolle als Stimme der Entrechteten zurückzuerobern und den Aufbau einer besseren Zukunft zu beginnen, sind also gar nicht so schlecht. Doch dafür muss sie sich endlich zu einer geschlossenen Kraft vereinen. Seit ihrer Gründung hat sie als politische Partei nicht funktioniert, sie war vielmehr ein Zweckbündnis zwischen sich gegenseitig bekriegenden Fraktionen. Eine zersplitterte Allianz hält nicht ewig. Wenn sie jetzt auseinanderbricht, wird sie wahrscheinlich keine weitere Chance haben.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.